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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Kein Mensch braucht Sormas" Gesundheitsämter rebellieren gegen Merkels Pandemiesoftware
Mit der Software Sormas will die Regierung Infektionsketten brechen. Bis Ende Februar sollten sie alle Ämter installieren. Doch weniger als die Hälfte ist bisher vernetzt – einige Amtsärzte weigern sich.
Seit gut einem Jahr schon macht der Bund Druck auf die Gesundheitsämter, sich stärker zu digitalisieren und zu vernetzen. Zuletzt setzte die Bund-Länder-Schalte per Beschluss von ganz oben eine Deadline: Bis Ende Februar sollen alle Gesundheitsämter Sormas nutzen, eine Software zur Kontaktnachverfolgung. Kanzlerin Merkel drang Ende Januar öffentlich darauf: Das müsse nun sehr kurzfristig passieren.
Rund zwei Wochen vor Ablauf der Frist aber sind nur 176 von 376 Gesundheitsämtern überhaupt an das Sormas-System angeschlossen, erklärt das Bundesgesundheitsministerium an diesem Freitag auf Anfrage von t-online. Einige Bundesländer haben noch kein einziges Amt vernetzt. Nur Bremen und Berlin haben angeblich alle zwei beziehungsweise zwölf Gesundheitsämter an das System angeschlossen.
Reinickendorf weigert sich: "Kein Mensch braucht Sormas"
Doch wie Recherchen von t-online zeigen, bedeutet auch der technische Zugang zu Sormas noch nichts. In Berlin ist die Kritik bei den Gesundheitsämtern an der Software groß, manche weigern sich sogar sie zu verwenden – obwohl das Land Vollzug beim Bundesgesundheitsministerium gemeldet hat.
"Wir wollen und werden Sormas nicht benutzen", sagte Patrick Larscheid t-online. Larscheid ist Amtsarzt im Berliner Bezirk Reinickendorf und in dieser Funktion für das Gesundheitsamt zuständig. In Reinickendorf verwendet man zwei Systeme, mit denen die Gesundheitsämter auch die Infektionszahlen an Bund, Länder und Robert Koch-Institut übermitteln: Survnet und Demis. Diese Systeme seien erprobt, sicher und anwenderfreundlich, sagt Larscheid. "Kein Mensch braucht Sormas. Survnet und Demis können alles, was Sormas auch kann." Man wolle ein funktionierendes System nicht mitten in der Pandemie wechseln.
Erschwerend hinzu komme: Zwischen Demis und Survnet bestünden Schnittstellen, bei Sormas fehlten sie noch. "Das bedeutet: Wir müssten alle Daten doppelt händisch eintragen." Unsinn, findet Larscheid, zumal auch Demis bald die Weitergabe von Daten zwischen Ämtern und Regionen ermöglichen solle.
Er will sich weiter weigern – auch wenn die Schnittstellen angekündigt sind, selbst wenn der Druck von oben groß sei. Die Senatsgesundheitsverwaltung drohe bereits mit der Streichung von Mitteln, so Larscheid. Der Berliner Senatsverwaltung, die Vollzug beim Bundesministerium meldete, scheint das Problem also durchaus bewusst zu sein. Mehrere Anfragen von t-online zu dem Thema beantwortete sie aber nicht.
"Die mehrfache händische Eingabe von Daten können wir nicht leisten"
Ähnlich klingt die Rückmeldung auch aus dem Gesundheitsamt in Berlin-Spandau: Man benutze Survnet und Demis und sei "damit sehr gut aufgestellt", Sormas habe im Vergleich zu ihnen "einige Kinderkrankheiten" und bringe nur geringe Vorteile, erklärt das Amt auf Nachfrage von t-online. Hier betont man außerdem: Survnet und Demis seien die Programme zu allen Erregern, die in der Bundesrepublik gerade kursierten. Sormas konzentriere sich auf nur einige wenige, aktuell Sars-CoV-2. Auch in Spandau ist Sormas noch nicht in Benutzung. "Um mit den anderen Gesundheitsämtern aber kompatibel zu sein und die Vorteile von Sormas zu nutzen, wird diese Software ergänzend in Spandau eingeführt."
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In Berlin-Pankow, mit mehr als 400.000 Einwohnern bevölkerungsstärkster Bezirk in Berlin, arbeitet das Gesundheitsamt nach wie vor mit selbst programmierten Excel-Listen, Survnet und Demis. Hier will man Sormas benutzen, sagte Gesundheitsstadtrat Torsten Kühne (CDU) t-online. Aber: "Die mehrfache händische Eingabe von Daten können wir nicht leisten." Immerhin sieht Kühne Hoffnung: Wenn einige bereits angekündigte Besserungen der Software kämen, sei man schon "einen großen Schritt weiter".
In drei Bundesländern ist Sormas noch gar nicht in Betrieb
Das Pandemietool des Bundes, ein Rohrkrepierer auf Kommunalebene? Die Bilanz in anderen Ländern fällt noch schlechter aus als in der Hauptstadt: In Hamburg, Sachsen und im Saarland nutzt bisher kein einziges Amt die Software, wie das Bundesgesundheitsministerium erklärt. In Rheinland-Pfalz ist bisher eines von 24 Ämtern mit dem neuen Programm verbunden.
Rund 170 Gesundheitsämter bundesweit haben nicht einmal den sogenannten Auftragsverarbeitungsvertrag für Sormas unterschrieben, schreibt die "Rheinische Post" an diesem Freitag unter Berufung auf das Helmholtz-Institut, das Sormas erfunden hat. Diese Zustimmung müsse aber bis zum 15. Februar vorliegen, damit die Frist bis Ende Februar überhaupt noch gehalten werden könne.
In Nordrhein-Westfalen haben bisher 28 von 53 Gesundheitsämtern den Zugang zu Sormas erhalten, sind also "technisch betriebsbereit", wie das Gesundheitsministerium auf Nachfrage von t-online erklärt. Geschult ist das Personal damit aber noch nicht. Ob die Frist Ende Februar zu halten ist? Der Aufwand sei von "zahlreichen Faktoren abhängig", schreibt das NRW-Ministerium, und könne "nicht pauschal beziffert werden". Übersetzt bedeutet das wohl: nein.
Exportschlager in Afrika
Sormas (Surveillance, Outbreak Response Management and Analysis System) ist ein digitales Seuchenmanagement-Tool. Das Helmholtz-Institut entwickelte es 2014 im Kampf gegen Ebola, zunächst wurde es mit diesem Fokus in Nigeria und Ghana eingesetzt. Zu Anfang der Corona-Pandemie rüstete das Helmholtz-Institut die Software rasch auf Sars-CoV-2 um, bereits seit Anfang April 2020 steht eine kostenlose Version für alle Gesundheitsämter zum Download bereit.
Das Bundesgesundheitsministerium sieht zahlreiche Vorteile in Sormas: Es sei geeignet Infektionsfälle und Ausbrüche zu erfassen, Infektionsketten nachzuverfolgen und auf geografischen Karten zu visualisieren, erklärt es auf Nachfrage von t-online. "Darüber hinaus wird ein Datenaustausch zwischen verschiedenen Gesundheitsämtern zu Kontaktpersonen-Daten und Falldaten ermöglicht."
Im Ausland kommt das Tool bisher besser an als in seinem Herkunftsland: In Nigeria verwenden laut Helmholtz-Institut alle 775 Gesundheitsämter sowie diverse Krankenhäuser und Labore Sormas, auch in Ghana sind alle 260 Gesundheitsämter angeschlossen. In Frankreich wird es in allen 18 Regionen verwendet, in der Schweiz zumindest in 12 von 26 Kantonen.
- Anfrage an das Bundesgesundheitsministerium
- Telefonat mit Patrick Larscheid, Amtsarzt Reinickendorf
- Anfragen an die zwölf Berliner Gesundheitsverwaltungen
- Rheinische Post: "Woran es bei der Einführung einer einheitlichen Corona-Kontaktnachverfolgung hakt" (kostenpflichtig)
- Anfrage an das Gesundheitsministerium NRW
- Anfragen an die Berliner Senatsgesundheitsverwaltung