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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Weil zur Corona-Krise "Das hat viel Ärger und Unverständnis ausgelöst"
t-online: Herr Weil, Olaf Scholz soll intern gesagt haben, die Beschaffung der Impfstoffe durch die EU sei "richtig sch… gelaufen". Hat der SPD-Kanzlerkandidat recht?
Stephan Weil: Was die Sache angeht ja, und die Formulierung ist Temperamentsfrage.
Einer weniger deutlichen Formulierung würden Sie also zustimmen?
Die Kritik am geringen Impftempo ist doch offenkundig berechtigt. Israel, Großbritannien und die USA kommen viel schneller voran, weil sie mehr Impfstoff haben. Und an diesen Staaten sollte die EU sich messen – und nicht an denen, die noch weniger haben. Aber wir sind nun mitten im Fluss und müssen schwimmen.
Das heißt aber, dass Sie die Einschätzung der Kanzlerin, es sei "im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen", nicht teilen?
Nein. Es ist doch offensichtlich, dass wir alle in den letzten Monaten auch Fehler gemacht haben. Aber zur Wahrheit gehört für mich auch, dass man eine solche Krise nicht völlig fehlerfrei bewältigen kann. Deshalb ist mein Zwischenfazit: Vieles ist gut gelaufen, aber eben nicht alles.
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Was hätte außer den Bestellungen der Impfstoffe noch besser laufen müssen?
Es gibt die sehr bittere Lage in einigen Alten- und Pflegeheimen, in denen die Zahl der Opfer in der zweiten Welle sogar noch höher ist als in der ersten, obwohl es damals noch keine Schutzkonzepte gab. Das ist eine traumatische Erfahrung und das größte Defizit, das wir haben. Im Vergleich dazu wirken die organisatorischen Probleme, die es etwa bei der Vergabe von Impfterminen gab und gibt, eher nachrangig. Trotzdem müssen wir natürlich auch da besser werden.
Die Bundesländer impfen unterschiedlich schnell. Niedersachsen liegt bei der Quote der Erstimpfungen hinten und bei den Zweitimpfungen im Mittelfeld. Müssten Sie nicht mehr Tempo machen?
Wir legen bislang für jede Erstimpfung mit Biontech und Moderna eine weitere Dose für den Patienten zurück, weil wir noch nicht ausreichend Vertrauen in die Stabilität der Lieferketten haben. Das macht den Unterschied aus.
Aber die zweite Impfdosis legen doch auch andere Länder zurück.
Ja, aber es gibt unterschiedlich hohe Quoten. Wir sind besonders strikt und gehen besonders auf Nummer sicher. Durch die bisherigen Lieferschwierigkeiten sehen wir uns bestätigt. Außerdem konzentrieren wir uns darauf, die besonders gefährdeten Personen in den Alten- und Pflegeheimen und unseren Krankenhäusern so schnell wie möglich vollständig vor einer Infektion zu schützen. Im Ranking der bereits vollständig geschützten Alten- und Pflegeheime ist Niedersachen wiederum ganz weit oben mit dabei.
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Müssten die Regierungen nicht schon jetzt mit der Industrie viel mehr in eine größere Impfstoffproduktion in Europa investieren? Nur so können wir doch bei einer neuen Mutation oder einem neuen Virus künftig schneller reagieren.
Ja, unbedingt. Deutschland war mal die Apotheke der Welt.
Das ist lange her.
Leider. In den letzten Monaten haben wir äußerst schmerzlich festgestellt, dass wir viel zu geringe Kapazitäten zur Impfstoffproduktion in Deutschland haben. Es ist gut, dass Biontech bald in Marburg zusätzlich produzieren kann. Aber das reicht nicht aus. Zu den vielen Schlussfolgerungen der Krise gehört: Über dieses absolut zentrale Produktionsfeld müssen wir in Deutschland und Europa selbst verfügen.
Die Inzidenzen gehen eigentlich deutschlandweit runter. In Niedersachsen gibt es sogar Kreise mit einer Inzidenz von unter 25. Beschließen Sie, Ihre Kollegen und die Kanzlerin nächste Woche also erste Lockerungen?
Insgesamt sind wir leider auch in Niedersachsen noch deutlich über der Inzidenz von 50. Ja, es gibt erhebliche Fortschritte, der eingeschlagene Weg ist also der richtige. Aber bis wir den Wert von 50 deutlich und dauerhaft zu unterschreiten, ist es noch ein großes Stück Arbeit.
Welche Rolle spielen denn die Virusmutationen bei Ihren Überlegungen?
Eine wichtige Rolle. Die Mutationen sind deutlich ansteckender als das Original und deutlich erkennbar auch in Deutschland angekommen. Das müssen wir natürlich für den weiteren Kurs berücksichtigen.
Reicht es denn überhaupt noch, eine Inzidenz von 50 anzustreben – oder sollte man lieber auf 35 oder sogar 25 zielen, um sicherzugehen?
Zumindest müssen wir früher und konsequenter intervenieren als in der bisherigen Strategie vorgesehen. Deswegen bin ich auch dafür, den bisherigen Vorwarnwert auf 25 zu reduzieren und dann auch schon ganz konkrete Maßnahmen vorzusehen.
Niedersachsen hat einen Stufenplan vorgelegt, um Grenzen für mögliche Lockerungen zu definieren. Ihr Vorschlag orientiert sich am Landesdurchschnitt der Inzidenz und des R-Werts. Ist das praktikabel?
Das stimmt nicht so ganz. Bei höheren Werten vor Ort können die Kommunen jetzt schon auch schärfere Maßnahmen ergreifen. Bei Lockerungen glauben wir allerdings nicht, dass ein Flickenteppich in Niedersachsen hilft.
Im Landkreis Uelzen lag die Inzidenz zuletzt bei rund 200, in Nachbarkreisen teils nur bei etwas mehr als 20. Müssten Sie sich statt des Landesschnitts nicht die regionalen Zahlen angucken?
Bei höheren Werten ja, bei Lockerungen dagegen nein. Dürfte der eine Landkreis mit den niedrigen Inzidenzen Gastronomie und Einzelhandel wieder öffnen, der Hotspot nebenan aber nicht, dann würden viele Menschen aus dem einen Landkreis in den anderen fahren. Und die Zahlen würden dann auch dort ganz schnell wieder steigen.
Aber genau das bleibt doch in Ihrem Modell möglich. Es ist ja ein Szenario vorstellbar, in dem die Inzidenz landesweit vergleichsweise niedrig liegt, in einigen Kreisen aber sehr hoch.
Das spricht doch dafür, dass wir den Landesdurchschnitt als Grundlage nehmen, aber strengere Regeln da vorsehen, wo es nun einmal nötig ist.
Das Problem des Shoppingtourismus kann sich auch zwischen Bundesländern ergeben. Braucht es Reisebeschränkungen für solche Fälle?
Jedenfalls müssen Öffnungen auch über Landesgrenzen hinweg koordiniert werden. Seit dem Westfälischen Frieden weiß man, dass Osnabrück und Münster dicht beieinander liegen. Würden wir in Niedersachsen aufmachen und in Nordrhein-Westfalen wäre noch alles geschlossen, wäre am nächsten Tag Osnabrück überfüllt. Und umgekehrt genauso.
Ist also alles recht kompliziert. Was erwarten Sie denn realistischerweise von der Bund-Länder-Runde am nächsten Mittwoch?
Ziel sollte sein, dass wir uns auf einen bundeseinheitlichen Stufenplan einigen. Das hatten wir auch so vereinbart. Ich habe derzeit aber nicht den Eindruck, dass daran sonderlich intensiv gearbeitet wird, der Bund übt sich da noch in Zurückhaltung. Es liegt nach wie vor kein einheitlicher Vorschlag auf dem Tisch.
Will der Bund vielleicht eine verfrühte Lockerungsdebatte vermeiden und vertagt deshalb die Frage eines Stufenplans?
Das mag sein. Ich halte das aber nicht für eine gute Lösung, die Bürger brauchen eine Perspektive.
Das heißt: Wenn es nächste Woche keinen bundeseinheitlichen Stufenplan gibt, beschließen Sie für Niedersachsen Ihren eigenen?
Vor diese schwierige Frage würden wir nur gestellt werden, wenn die Inzidenzen jetzt sehr schnell in den Keller rauschen. Das wird wohl leider nicht passieren. Ich erwarte aber, dass wir in der Bund-Länder-Runde Klartext reden und möglichst zeitnah beschließen, nach welchen Regeln bundeseinheitlich eine Lockerungsphase eingeleitet würde. Einen Sonderweg würden wir in Niedersachsen nur gehen, wenn es sich wirklich nicht vermeiden lässt.
Sie klingen so, als stünde eh schon fest, dass es mindestens zwei weitere Wochen Lockdown geben wird.
Ich will mich nicht auf die zwei Wochen festlegen. Aber dass wir am 10. Februar sagen können "Hurra, wir haben es geschafft" – das sehe ich nicht. Wir werden über den 14. Februar hinaus noch deutliche Einschränkungen haben.
Deutliche Einschränkungen heißt "Weiter wie bislang"?
Dann formuliere ich es anders: Ich kann mir nicht vorstellen, dass es zu relevanten Öffnungsschritten kommen wird.
Wenn man das Frühjahr als Beispiel anlegt, wäre angesichts des Rückgangs der Inzidenzen jetzt allerdings der Zeitpunkt, an dem einzelne Länder mit Lockerungen vorpreschen.
Ich hoffe, dass alle Beteiligten aus diesem elenden Lockerungswettrennen im Frühjahr gelernt haben. Das hat viel Ärger und Unverständnis ausgelöst. Und wenn wir klug sind, ziehen wir daraus den Schluss, mit den Lockerungen nicht zu früh und vor allem gemeinsam zu beginnen.
Die Kanzlerin würde vermutlich bezweifeln, dass wirklich alle aus der Erfahrung klug geworden sind.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kanzlerin die Klugheit der Ministerpräsidenten anzweifelt.
Sind Sie sich da wirklich sicher?
Was ist schon sicher in der heutigen Welt?
Herr Weil, vielen Dank fürs Gespräch.
- Gespräch per Videokonferenz am 4. Februar 2021
- Niedersachsen.de: Der Stufenplan