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Gerhard Schröder im Interview: Trump ging es "allein um Selbstdarstellung"


Interview
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Gerhard Schröder im Interview
"Die größte Bedrohung für Deutschland geht nicht von ausländischen Mächten aus"

InterviewVon Florian Harms und Marc von Lüpke

Aktualisiert am 27.01.2021Lesedauer: 13 Min.
Gerhard Schröder: Zusammen mit dem Historiker Gregor Schöllgen plädiert der Altkanzler für eine neue Weltordnung.Vergrößern des Bildes
Gerhard Schröder: Zusammen mit dem Historiker Gregor Schöllgen plädiert der Altkanzler für eine neue Weltordnung. (Quelle: Michael Hübner/t-online)

Krisen erschüttern die Welt, die Politik ist überfordert: Schluss mit dem Chaos, es ist Zeit für eine neue Weltordnung, fordern der Altkanzler Gerhard Schröder und der Historiker Gregor Schöllgen in einem Exklusiv-Interview bei t-online.

Die Corona-Pandemie überdeckt andere Großkrisen, die dringend gelöst werden müssten: vom Klimawandel über die Migration bis zum Populismus und der Frage, welche Rolle Europa zwischen den USA, China und Russland spielen soll. Gerhard Schröder hat Erfahrung im Krisenmanagement. In seine Amtszeit als Bundeskanzler fielen der Kosovokrieg, der Terroranschlag vom 11. September 2001 und George W. Bushs Irakkrieg. Seit 2005 hat er sich aus der aktiven Politik zurückgezogen, arbeitet als Wirtschaftsanwalt und Aufsichtsratsvorsitzender der Nord Stream AG, denkt aber auch intensiv über die deutsche Außenpolitik nach. Gemeinsam mit dem Historiker Gregor Schöllgen hat er nun das Buch "Letzte Chance. Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen" veröffentlicht, in dem die beiden Autoren für eine Neuorientierung der deutschen und europäischen Politik plädieren. Welche Fehler Schröder und Schöllgen der Nato vorwerfen, warum die USA kritischer gesehen und Russland fairer behandelt werden sollte, erklären sie im t-online-Gespräch:

t-online: Herr Schröder, Herr Schöllgen, Donald Trumps Präsidentschaft ist vorbei. Hat er…

Schröder: Gott sei Dank!

Trotzdem: …hat er Ihrer Meinung nach außenpolitisch irgendetwas richtig gemacht?

Schröder: Immerhin hat er versucht, den Konflikt mit Nordkorea einzuhegen. Ihm ging es dabei allerdings nicht um die Lösung des Problems, sondern allein um Selbstdarstellung.

Und im Hinblick auf Deutschland und Europa, hat Trump da neben all den Konflikten auch etwas Positives bewirkt?

Schröder: Das kann man nun wirklich nicht behaupten. Trump hat in der Wirtschaftspolitik die unheilvolle Konkurrenzsituation zwischen den USA und Europa durch unsinnige Zölle befeuert. Darüber hinaus stellte er eine ausgeprägte Abneigung gegen die Europäische Union und speziell gegenüber Deutschland zur Schau. Das war inakzeptabel. Wie er Bundeskanzlerin Merkel behandelt hat, war unterirdisch. So etwas kann ein amerikanischer Präsident nicht machen. Indem sich Trump der Kanzlerin gegenüber so verletzend verhalten hat, hat er auch Deutschland respektlos behandelt.

Gerhard Schröder, Jahrgang 1944, war von 1998 bis 2005 Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Zuvor regierte der Sozialdemokrat von 1990 bis 1998 das Bundesland Niedersachsen. Seit dem Ausscheiden aus seinen politischen Ämtern ist er wieder als Rechtsanwalt tätig und kommentiert das Weltgeschehen in seinem Podcast "Die Agenda". Zusammen mit Gregor Schöllgen hat er nun das Buch "Letzte Chance. Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen" veröffentlicht.

Aber war Trumps ruppiges Auftreten gegenüber den europäischen Verbündeten wirklich so außergewöhnlich?

Schöllgen: Nicht unbedingt. In mancher Hinsicht hat Trump die Politik seines Vorgängers fortgesetzt. Als er zum Beispiel im November 2020 – ohne vorherige Konsultation der Verbündeten – ankündigte, die US-Soldaten aus Afghanistan abzuziehen, folgte er den Spuren Barack Obamas. Der hatte im Mai 2014 ohne jede Vorwarnung einen vorgezogenen kompletten Truppenabzug aus Afghanistan angekündigt und damit auch das Ende des dortigen NATO-Einsatzes eingeläutet. Es war nicht seine erste Kehrtwende in dieser Frage. Und es blieb auch nicht die letzte.

In den neuen Präsidenten setzen viele Europäer nun die Hoffnung, dass er partnerschaftlicher und verlässlicher vorgeht. Kann Joe Biden diese großen Erwartungen überhaupt erfüllen?

Schröder: Zu seinem Start gibt es ja gute Nachrichten: Die USA treten wieder der Weltgesundheitsorganisation und dem Pariser Klimaabkommen bei. Beides ist innenpolitisch allerdings nicht sonderlich schwer durchzusetzen. Die Nagelprobe für den neuen Präsidenten wird die Iran-Frage sein: Da muss Biden schnell beweisen, dass er außenpolitischen Mut hat.

Was konkret sollte er da Ihrer Ansicht nach tun?

Schröder: Er sollte im Gegensatz zu Donald Trump anerkennen, dass nicht alles schlecht gewesen ist, was im Atomabkommen mit Iran steht. Da gibt es zwei relevante Ziele: Erstens müssen wir dafür sorgen, dass eine atomare Aufrüstung in Iran nicht stattfindet. Zweitens müssen die USA und Iran wieder ein zivilisiertes Verhältnis zueinander finden.

Welche Rolle sollte Deutschland dabei einnehmen?

Schröder: Die vermittelnde Rolle, die wir immer gespielt haben. Und für die wir immer wieder ungerechtfertigterweise kritisiert werden – einschließlich des Bundespräsidenten, wenn er zum iranischen Staatsjubiläum ein Telegramm nach Teheran schickt. Dabei ist das ein Akt der Höflichkeit. Seien wir doch ehrlich: Deutschland hat ein großes wirtschaftliches und politisches Interesse daran, dass die unglückselige Sanktionspolitik der USA beendet wird.

Gregor Schöllgen, Jahrgang 1952, lehrte von 1985 bis 2017 Neuere Geschichte an der Universität Erlangen und war in dieser Zeit auch für die historische Ausbildung der Attachés im Auswärtigen Amt verantwortlich. Er lehrte als Gastprofessor in New York, Oxford, London und Zürich, war Mitherausgeber der Akten des Auswärtigen Amtes und ist Autor zahlreicher Bücher. Aus Gesprächen mit Schröder über die Weltlage ist das neue Buch entstanden.

Schöllgen: Natürlich verbinden sich mit Joe Biden große Erwartungen. Allerdings sollten wir realistisch bleiben. An der Politik der USA gegenüber China, Russland und Europa wird sich grundsätzlich wenig ändern. Zudem ist Biden kein profilierter Außenpolitiker. Robert Gates, Verteidigungsminister unter George W. Bush und Barack Obama, hat das einmal zugespitzt so formuliert: Biden lag jahrzehntelang bei nahezu allen Fragen der Außenpolitik und der nationalen Sicherheit falsch.

In Ihrem Buch schreiben Sie zwar über viele Länder, aber es fällt auf, dass Sie besonders scharfe Kritik an den USA üben.

Schröder: Wir setzen uns mit der amerikanischen Politik im Buch dort kritisch auseinander, wo wir sie für falsch halten. Im Übrigen bin ich sehr dafür, ein anständiges und freundschaftliches Verhältnis zu den USA zu pflegen. Das funktioniert aber nur in beide Richtungen.

Was erwarten Sie von der US-Regierung?

Schröder: Ich erwarte eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Deutschland ist doch nicht der 51. Staat der USA! Das glaubt wohl mancher in Washington. Wir Deutschen sind Partner der USA, keine Gefolgsleute. Wenn die USA zum Beispiel versuchen, die deutsche Automobilindustrie durch Einfuhrzölle kaputt zu machen oder unsere Unternehmen mit illegalen Sanktionen bedrohen, handelt es sich doch eindeutig um einen unfreundlichen Akt. Das macht man nicht unter Freunden!

Falls die USA auch künftig ihren eigenen Weg ohne Rücksprache mit den Europäern gehen – was könnte Deutschland dagegen tun?

Schöllgen: Zunächst einmal bleiben die USA auf absehbare Zeit schon deshalb auf Europa und nicht zuletzt auf Deutschland angewiesen, weil hier einige ihrer wichtigsten Stützpunkte liegen. Aber natürlich ist unübersehbar, dass sich das Augenmerk der Amerikaner schon seit geraumer Zeit auf den ostasiatisch-pazifischen Raum konzentriert. Dagegen verlieren der afrikanische Kontinent, aber auch der Nahe und Mittlere Osten mit ihren riesigen Konfliktpotentialen für Washington aus vielerlei Gründen zunehmend an Bedeutung, und das heißt für uns Europäer: Wir werden erhebliche Energien mobilisieren müssen, um zu verhindern, dass wir über kurz oder lang von den Folgen dieser Konflikte eingeholt werden. Ohne amerikanische Unterstützung können wir das auf absehbare Zeit nicht leisten. Wollen wir uns diese Unterstützung sichern, müssen wir Amerika ein überzeugendes Angebot machen.

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Das worin bestehen soll?

Schöllgen: Vor allem in einer europäischen Armee, die diesen Namen verdient. Wenn wir den USA dieses Angebot nicht machen können oder wollen, werden die Amerikaner in uns keine vollwertigen Partner mehr sehen. Zu Recht.

Schröder: Die entscheidende Frage ist: Wie stellen wir das an? Die gegenwärtige Debatte dreht sich ja nicht um die Frage, ob und wie Deutschland einen Beitrag dazu leisten kann, eine eigenständige militärische Position innerhalb der Europäischen Union aufzubauen. Sondern die Diskussion zielt allein darauf, ob wir auch brav zwei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für Militär ausgeben. Ich finde das falsch.

Bitte konkreter: Was genau an der deutschen Verteidigungspolitik kritisieren Sie?

Schröder: Am Anfang muss doch vielmehr die Frage stehen: Was sind eigentlich heute die Bedrohungen und mit welchen Waffen und Konzepten können wir ihrer Herr werden? Es braucht eine vernünftige Bedrohungsanalyse.

Wo sehen Sie denn gegenwärtig die größten Bedrohungen für Deutschlands Sicherheit?

Schröder: Die größte Bedrohung für Deutschland geht nicht von ausländischen Mächten aus. Große Gefahr besteht derzeit eher durch Entwicklungen, die sich allein mit militärischen Mitteln gar nicht lösen lassen. Das gilt für die Folgen des Klimawandels, für Pandemien und Katastrophen, für den internationalen Terrorismus oder auch für die Migration, die durch solche Entwicklungen mitverursacht wird und zu einem Zerreißen der europäischen Gesellschaften führen kann.

Wenn Soldaten und Waffen uns gegen die größten Bedrohungen kaum helfen, warum fordern Sie dann eine europäische Armee? Dann ließe sich das Geld doch anderweitig besser verwenden.

Schröder: Ein starkes Europa braucht schon deshalb eine starke Verteidigung, weil sich viele dieser Konflikte und Bedrohungen an den europäischen Außengrenzen abspielen.

In Ihrer eigenen Partei, der SPD, stößt Ihr Vorschlag nach einer hochgerüsteten Euro-Armee nicht gerade auf Begeisterung.

Schröder: Die Diskussion darüber läuft in der Partei. Auch die SPD will die europäische Verantwortung in der Außen- und Sicherheitspolitik stärken.

Schöllgen: Wir müssen doch nur über das Mittelmeer schauen: Die Konflikte aller Art, die sich in Zentralafrika, in der Sahelzone und in Nordafrika aufgebaut haben, können diese Staaten und Völker ohne umfassende auswärtige Hilfe nicht einmal im Ansatz lösen. Dabei geht es natürlich nicht nur um militärische Unterstützung. Wir Europäer sind schon deshalb in einer besonderen Mitverantwortung, weil wir als Kolonialmächte viele Weichen in eine fatale Richtung gestellt haben.

Sollte Europa auch selbstbewusster gegenüber Russland auftreten?

Schröder: Wir sollten Russland vor allem nicht immer als Gegner behandeln, sondern auf ein partnerschaftliches Verhältnis, auch in Sicherheitsfragen, hinarbeiten.

Das Verhalten der russischen Führung ist allerdings auch nicht gerade partnerschaftlich: Einmarsch in der Ostukraine, Hackerangriff auf den Bundestag, Giftanschlag auf den Oppositionellen Alexej Nawalny…

Schröder: Partnerschaft bedeutet ja nicht, dass man alles richtig findet, was die andere Seite tut. Das, was zu kritisieren ist, sollte man auch kritisieren. Aber man sollte miteinander reden und so Vertrauen aufbauen, statt sich nur ständig gegenseitig Vorwürfe zu machen.

Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Russlands Präsidenten beschreiben, Herr Schröder?

Schröder: Mit Wladimir Putin verbindet mich eine persönliche Freundschaft.

Nun sorgt Alexej Nawalnys Video über Putins angeblichen Palast am Schwarzen Meer für Aufsehen. Waren Sie eigentlich schon mal dort?

Schröder (lacht): Nein. Ich kenne aber die offizielle Residenz der russischen Präsidenten in der Nähe von Moskau. Und ich sage Ihnen, wer diesen Amtssitz als Palast bezeichnet, der irrt sich gewaltig.

Putin ist nicht nur wegen des Schwarzmeer-Prunkbaus umstritten. Kritiker werfen ihm vor, den Mordanschlag auf Nawalny zumindest gedeckt, wenn nicht sogar befohlen zu haben. Stört Sie das nicht an Ihrem Freund?

Schröder: Dafür habe ich noch keine handfesten Beweise gesehen. Im Übrigen: Was erwarten Sie von mir? Setzt Freundschaft denn immer voraus, dass man mit allem einverstanden sein muss, was der andere tut? Nein. Aber man kritisiert einen Freund nicht in der Öffentlichkeit, sondern im persönlichen Gespräch.

Nawalnys Verhaftung hat nun Zehntausende Menschen in mehr als hundert Städten auf die Straßen getrieben. Was denken Sie, können diese Proteste zu mehr Demokratie führen oder gar in eine Revolution münden?

Schröder: Mit Revolutionen in Russland haben wir so unsere Erfahrungen. Das sollte keinesfalls ein Ziel sein. Russland ist ein riesiger Staat mit einer Vielzahl von Völkern und Religionen. Die Stabilität dieses Staates ist auch im europäischen Interesse. Aber die nächsten Monate und Jahre werden zeigen, ob die russische Politik den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess, der notwendig ist und auch zu Recht von vielen eingefordert wird, aufnehmen und umsetzen kann.

Es gibt auch immer wieder Gerüchte, dass sich Putin demnächst zurückziehen könnte.

Schröder: Sie sollten Präsident Putin selbst fragen.

Anfang der Neunzigerjahre glaubten hierzulande viele, dass sich Russland in einen Staat nach westlichem Vorbild verwandeln würde, mit Demokratie und Marktwirtschaft. War diese Hoffnung naiv?

Schröder: Vermutlich, aber damals wurden viele Fehler gemacht. Die damalige russische Führung unter Boris Jelzin wurde schlecht beraten. Es kam zu einer riesigen Privatisierungswelle, die Oligarchen bereicherten sich auf Kosten des Staates, während die öffentliche Ordnung zerfiel. Dann kam Wladimir Putin ins Amt und kündigte den Oligarchen an: Was ihr habt, könnt ihr behalten – aber mehr nicht. Putin hatte ein zentrales Ziel: Der Staat sollte wieder funktionieren und die Sicherheit seiner Bürger garantieren.

Dafür bedient sich der Staat bis heute autoritärer Mittel.

Schröder: Natürlich gibt es in diesem Prozess auch Fehlentwicklungen. Aber jeder Staat braucht gesetzlich abgesicherte Autorität, die auch durchgesetzt werden muss.

Was ist Putins Ziel im Hinblick auf Europa?

Schröder: Mein Eindruck ist, dass Putin trotz der großen Differenzen, die wir gegenwärtig haben, eine vernünftige politische und wirtschaftliche Beziehung zur Europäischen Union möchte. Ganz speziell zu Deutschland.

Mit Hackerangriffen auf den Bundestag und der Annexion der Krim macht es Russland Deutschland aber schwer, in ihm einen vertrauenswürdigen Partner zu sehen.

Schröder: Die Annexion der Krim war eine Grenzüberschreitung, auch den Hackerangriff auf den Bundestag habe ich verurteilt. Dennoch müssen beide Seiten, Europa wie Russland, ein elementares Interesse an guten und friedlichen Beziehungen haben.

Schöllgen: Jenseits solcher und anderer Übergriffe, die wir in unserem Buch unmissverständlich verurteilen, stellt sich aber auch die Frage, ob wir Europäer, gerade auch wir Deutsche, das Maß aller Dinge sind. Wer sagt uns eigentlich, dass unsere Werte und Maßstäbe ohne Weiteres auch für andere verbindlich sein müssen?

Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte sind nun mal Grundlagen eines gedeihlichen Zusammenlebens.

Schöllgen: Wohl wahr. Allerdings müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die amerikanische Demokratie, die auch wir Deutsche lange Zeit als vorbildlich betrachtet haben, soeben einen beispiellosen Offenbarungseid geleistet hat. Da kommen mir schon Zweifel, ob wir anderen ohne Weiteres vorschreiben sollten, was sie zu tun und zu lassen haben. Das gilt auch für Russland.

Was meinen Sie konkret?

Schöllgen: Bezogen auf die Themen unseres Buches heißt das vor allem, dass wir kein Recht haben, das russische Sicherheitsempfinden infrage zu stellen. Man muss sich einmal vor Augen führen, was der territoriale, wirtschaftliche und nicht zuletzt militärische Zusammenbruch der Sowjetunion für die Verantwortlichen in Moskau bedeutet hat. Zumal der totale Kollaps mit einer rasanten territorialen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt auch militärischen Ausdehnung der westlichen Gemeinschaften einherging. Die Aufnahme vormaliger Warschauer Pakt-Staaten und Sowjetrepubliken namentlich in die Nato stellte Moskau vor ein schwer lösbares Sicherheitsproblem.

Staaten, in denen sich viele Menschen bis heute aus gutem Grund vor Russland fürchten.

Schöllgen: So ist es. Und selbstverständlich hatten die vormaligen Warschauer Pakt-Staaten und Sowjetrepubliken ein Recht, um Aufnahme in die Nato zu ersuchen. Allerdings war mit der Aufnahme der baltischen Staaten für Russland eine Schmerzgrenze erreicht. Immerhin standen fortan Truppen der Nato 200 Kilometer vor St. Petersburg. Als dann die Ukraine seit 1997 Schritt für Schritt in die Strukturen und Operationen der Allianz einbezogen wurden, als die Amerikaner aus einer Reihe von Abrüstungsverträgen ausstiegen, als sie mit der Stationierung eines Raketenabwehrsystems in Polen und Rumänien begannen, wurde diese Grenze überschritten. Denn für Russland musste es jetzt so aussehen, als habe sich auch nach dem Untergang der Sowjetunion am alten Feindbild des Westens nichts geändert.

Gegenwärtig konzentriert sich der Konflikt zwischen West und Ost auf Nord Stream 2. Sollte das Pipeline-Projekt in der Ostsee gestoppt werden, um den Anschlag auf Alexej Nawalny zu bestrafen?

Schöllgen: Das ergibt für mich keinen Sinn.

Das müssen Sie uns erklären.

Schöllgen: Es gibt inzwischen vier Wege, auf denen russisches Erdgas nach Deutschland und Europa gelangt: Seit den siebziger beziehungsweise achtziger Jahren sind die beiden Leitungen "Druschba" beziehungsweise "Jamal", die Belarus, Polen und die Ukraine queren, in Betrieb. Nord Stream 1 wurde seit 2011 schrittweise in Betrieb genommen. Inzwischen gehört Russland auch zu den nennenswerten Lieferanten von Flüssiggas nach Europa. Wollte man Russland ernsthaft abstrafen, müsste man konsequent sein und das heißt: Man müsste nicht einen Baustopp gegen Nord Stream 2 verhängen, sondern alle Quellen schließen. Will man das?

Schröder: Dann wird es uns im Winter aber ziemlich kalt werden.

Was könnte Deutschland tun, um die Eskalationsspirale zu durchbrechen und wieder Vertrauen zu Russland aufzubauen?

Schröder: Deutschland könnte zum Beispiel die bisherige Sanktionspolitik der Europäischen Union gegenüber Russland kritischer beurteilen. Man sollte bei Entspannungen im Konflikt in der Ostukraine in einen Mechanismus kommen, der zu einer Lockerung der gegenseitigen Sanktionen führt.

Plädieren Sie dafür, die EU-Sanktionen gegen Russland wegen der Annexion der Krim ebenfalls zu lockern?

Schröder: Die Ursache für den Konflikt ist, dass die Amerikaner die Ukraine unbedingt in der Nato haben wollten. Dann hätte der russische Militärhafen Sewastopol auf Nato-Gebiet gelegen. Irrsinniger kann man Außen- und Sicherheitspolitik kaum betreiben, denn das befeuerte die russische Wahrnehmung, das Land werde eingekreist. Daher wird kein russischer Präsident, egal wie er heißt, die Krim zurückgeben. Das ist die Realität. Und daher werden Sanktionen wirkungslos bleiben.

Sie nehmen Russland ständig in Schutz. Aber als Friedensmacht tritt es ja auch nicht gerade auf.

Schöllgen: Nein, wir nehmen Russland nicht in Schutz. Das hat dieser Schlüsselakteur der Weltpolitik auch gar nicht nötig. Russland ist unser großer mittelbarer Nachbar. Wir sind auf gute Beziehungen angewiesen. Das beruht auf Gegenseitigkeit.

Schröder: Ich würde Russland auch nie nur als Friedensmacht bezeichnen, aber zur Realität gehört, dass kein internationales Problem ohne Russland zu lösen ist. Das betrifft Abrüstungsfragen ebenso wie die Klimapolitik oder auch die Corona-Pandemie. Wir sind auf Kooperation in den internationalen Beziehungen angewiesen.

In Ihrem Buch fordern Sie eine neue Weltordnung. Kleiner geht es nicht?

Schröder: Es stellt sich immer deutlicher heraus, dass unsere Welt künftig drei Pole haben wird: erstens, wie gesagt, Russland, zweitens Amerika mit seiner erheblichen politischen und wirtschaftlichen Macht. Die USA werden nun aber eine Zeit lang mit sich selbst zu tun haben, der Trumpismus ist ja noch lange nicht tot. Drittens Asien mit der Führungsmacht China, aber auch mit Singapur, Südkorea und den Staaten Südostasiens. Was dort ökonomisch abläuft, steht in hartem Kontrast zur Schläfrigkeit Europas, insbesondere bei der Digitalisierung.

Und wie kann Europa zwischen den drei Polen seine Stellung behaupten?

Schröder: Neben einer europäischen Armee braucht die EU auch eine tiefere Integration. Wir müssen endlich ernsthaft anfangen, die Eurozonenstaaten wirtschaftlich und politisch stärker zu integrieren. Ein wirtschaftlich erstarktes Europa ist auch ein politisch starkes Europa.

Schöllgen: Und das schaffen wir nur, wenn wir erst das Fundament legen, und dann das Haus bauen. Ohne eine europäische Verfassung, der wir 2004 schon einmal sehr nahegekommen sind, brauchen wir mit dem Hausbau gar nicht erst anzufangen.

Durch die Corona-Krise ist plötzlich Bewegung in die EU gekommen, es gibt nun gemeinsame Schulden und eine koordinierte Gesundheitspolitik. Mal provokativ gedacht: Würde eine handfeste militärische Krise beim Aufbau gemeinsamer Sicherheitsstrukturen helfen?

Schöllgen: Richtig ist, dass Europa immer dann zum Schulterschluss gefunden hat, wenn es von außen unter Druck gesetzt worden ist. Und im Augenblick ist der Druck gewaltig. Abbauen können wir ihn nur, wenn wir die vielfältigen Ursachen identifizieren – schonungslos und ohne Tabu. Solange wir unseren alten Weltbildern und Denkstrukturen verhaftet bleiben und die größte Bedrohung in Russland sehen, wird uns das nicht gelingen.

Schröder: Wir brauchen zunächst etwas mehr Sinn für die internationalen Realitäten. Nehmen wir die sogenannte wertegebundene Außenpolitik wortwörtlich, dann können wir mit vielen Staaten dieser Erde schon deshalb nicht mehr kooperieren, weil sie unser Wertesystem nicht Eins zu Eins teilen.

Die europäischen Grundwerte außer Acht zu lassen, wäre ziemlich zynisch.

Schröder: Keiner will das, aber wir sollten ebenso unsere Interessen nicht außer Acht lassen. Um die internationalen Herausforderungen zu bewältigen und wirtschaftlich erfolgreich zu bleiben, müssen wir Deutschen und wir Europäer auch mit Staaten zusammenarbeiten, die unseren Wertvorstellungen nicht oder nur zum Teil entsprechen. Wer das ausblendet, wird seiner politischen Verantwortung nicht gerecht.

"Letzte Chance" lautet der Titel Ihres Buches – ist es wirklich so dringend, eine neue Weltordnung herzustellen?

Schröder: Das Buch ist ein dringend notwendiger Denkanstoß.

Schöllgen: Und wir haben ja noch eine Chance. Wir sollten sie nutzen.

Herr Schröder, Herr Schöllgen, wir danken für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Gerhard Schröder und Gregor Schöllgen in Hannover
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