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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Prozess um Auftragsmord in Berlin Experte: Auch Nawalny bleibt auf der Abschussliste des Kreml
Im Auftrag Russlands soll ein Mensch in Berlin ermordet worden sein. Experte Stefan Meister rät zu einer neuen deutschen Außenpolitik. Putins Regime sehe Deutschland schon lange als Gegner.
Morde, Kriege, Hacker-Attacken, Propaganda: Der Prozessauftakt um den mutmaßlichen Auftragsmord im Berliner Tiergarten rückt einmal mehr die aggressive russische Außenpolitik in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. t-online sprach mit Stefan Meister über die deutsche Diplomatie gegenüber Russland – und wie die Bundesregierung auf das Vorgehen des Kremls reagieren muss.
Der Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sieht den Prozess gegen den Angeklagten Vadim K. in einer Reihe von Verbrechen. Deutschland müsse endlich zur Erkenntnis gelangen, dass Russland nicht mehr an einer Partnerschaft interessiert sei. Im Kreml regiere das Denken im Freund-Feind-Schema.
t-online: Herr Meister, was hat der Tiergartenmord mit russischer Außenpolitik zu tun?
Stefan Meister: Es scheint Beweise dafür zu geben, dass russische Geheimdienste hinter dem Mord stecken. Wir müssen die Tat in einer Reihe von Morden an Menschen sehen, die aus Sicht russischer Dienste als Verräter oder Gegner gelten. Ein Beispiel ist der Giftanschlag auf den ehemaligen Agenten Sergej Skripal in Großbritannien. Nicht nur der Mord in Berlin selbst ist hochproblematisch, sondern auch dass russische Behörden wie im Fall Skripal in Form von Desinformationskampagnen aktiv gegen europäische und deutsche Behörden arbeiten.
Sie sprechen den Fall Skripal an. Deutschlands Reaktion damals war verhalten. Vier russische Diplomaten wurden ausgewiesen. Hätte Deutschland damals drastischer reagieren müssen?
Es gab vor Skripal auch weitere Morde in Großbritannien, beispielsweise an Alexander Litwinenko. Dann gab es den Hackerangriff auf den Bundestag. Jetzt wurde Alexej Nawalny vergiftet. Deutschland hat das zu sehr laufen lassen und eher zurückhaltend reagiert. Die russische Seite hat das Gefühl: Morde und Attacken in der EU haben keine Konsequenzen. Russische Sicherheitsvertreter, die an solchen Aktionen teilnehmen, müssen sanktioniert werden.
Welche Motivation steht hinter dem zaghaften Vorgehen Deutschlands? Großbritannien und die USA haben im Fall Skripal doch sehr viel drastischer reagiert.
Auch die haben sehr spät reagiert. Zum einen benötigen Rechtsstaaten wie Deutschland natürlich juristische Beweise für Beschuldigungen. Zum anderen wollte die Bundesregierung aber die ohnehin schwierigen Beziehungen nicht durch Eskalation weiter verschlechtern.
Ist das Appeasement-Politik gegenüber einem Aggressor?
Es zeigt eine gewisse Hilflosigkeit der Bundesregierung. Sie hat immer weniger Einfluss auf die russische Führung. Sei es in der Ukraine, in Syrien oder in Libyen. In Berlin regiert zunehmend das Prinzip Hoffnung. Dass die russische Seite Kompromisse zeigen wird, wenn man nicht zu hart reagiert.
Wie sollte sich Deutschland auf Russland einstellen? Was muss passieren?
Russland ist kein Partner mehr. Der Kreml sieht Deutschland und die Europäische Union zunehmend als Gegner. Diese Erkenntnis ist wichtig. Diplomatische Statements helfen da nicht. Gespräche und Kooperationsangebote reichen nicht aus.
In der Logik des Regimes unter Putin gibt es keine Win-win-Situation, sondern nur eine Win-lose-Situation. Wenn Europa gewinnt, verliert Russland. Wenn Russland gewinnt, verliert Europa. Deutschland und Europa müssen die Kosten für die russische Führung erhöhen – für Morde, für Hackerattacken, für Desinformation.
Dazu gehört, härter gegen Geldwäsche vorzugehen, denn schmutziges russisches Geld fließt weiter nach Westeuropa und wird hier gewaschen. Dazu gehören Personen-Sanktionen. Dazu gehört aber auch, sich militärisch und im Cyberraum besser zu schützen.
Russland sieht den Westen als Gegner. Wie ist das motiviert?
Das ist außen- und auch innenpolitisch motiviert. Man fühlte sich lange nicht ernstgenommen vor allem von den USA. Dort, wo sich die USA zurückziehen, stößt Russland also vor, um die eigene Macht- und Verhandlungsposition zu stärken. Das sehen wir in Syrien, in Libyen oder im Irak.
Innenpolitisch ist 2012 für mich das Schlüsseljahr. Putin steckte bei seiner damaligen Rückkehr in die dritte Amtszeit in einer tiefen Legitimationskrise. Es gab Massendemonstrationen in großen russischen Städten. Das war der Wendepunkt: weg von einer Modernisierungspartnerschaft mit der EU, hin zu einem systematischen Aufbau eines Feindbildes "Westen" mit Hilfe von Propaganda. Das mündete in die Annexion der Krim.
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Damals gingen Demonstranten in der Ukraine gegen den pro-russischen Präsidenten Janukowitsch auf die Straße. Das führte schließlich zu seinem Sturz, woraufhin Russland einmarschierte.
Moskau sieht das nicht als gesellschaftliche Transformationsprozesse, sondern unterstellt immer externe Einflüsse. Das war in der Ukraine so und ist jetzt in Belarus der Fall. Solche Proteste werden als Machtkampf zwischen EU, Nato und Russland wahrgenommen. Damit ist eine gewisse Paranoia verbunden, die zu Überreaktionen führt. Die Entfremdung ist letztlich beidseitig.
Die Bundesregierung treibt die deutsch-russische Gas-Pipeline Nord Stream 2 trotzdem entgegen des ausdrücklichen Wunsches der östlichen Nato-Partner weiter voran. Ist das nicht ein Zeichen mangelnder Solidarität?
Die Unterstützung von Nord Stream 2 war sicher eine Fehlentscheidung. Die Bundesregierung hat die Folgen des Projekts in der EU und im transatlantischen Verhältnis unterschätzt. Vor allem wird damit die Europäische Union gespalten. Brauchen wir die Pipeline? Ist Russland tatsächlich ein geeigneter Partner dafür? Die Annahme, dass Russland dadurch politisch näher an Europa angebunden würde, hat sich als falsch erwiesen.
Allerdings ist Nord Stream 2 ein paneuropäisches Projekt mit Firmen aus Frankreich, den Niederlanden und Österreich. Es ist sicher richtig, dass der Pipeline eine große Symbolkraft zukommt. Den tatsächlichen Einfluss Russlands mit dem Projekt auf Europa würde ich aber nicht überbewerten.
Sollte der Tiergarten-Prozess die Anklage bestätigen: Warum riskiert der russische Staat die Entlarvung eines Auftragsmords im Herzen der deutschen Hauptstadt?
Vermutlich hat die russische Seite nicht damit gerechnet, dass deutsche Behörden ernsthaft reagieren werden. Und: Das Mordopfer kämpfte im Tschetschenien-Krieg gegen Russland. Für die deutsche Öffentlichkeit ist dieser Krieg weit weg, in Russland spielt er aber immer noch eine Rolle. Putin ist mit dem Krieg sozusagen an die Macht gekommen.
Die gesamte Region ist weiter hochproblematisch. Einerseits gibt es islamistische Anschläge. Andererseits versucht Machthaber Kadyrow mit Gewalt die Kontrolle zu behaupten und geht hart gegen jeden vor, der nicht in sein System passt. Dafür wird auch getötet. In Europa gibt es sowohl Tschetschenen mit Bezügen zu Islamisten als auch Leute im Exil, die dringend auf Schutz angewiesen sind. Das ist auch von den deutschen Behörden lange unterschätzt worden.
Ist Alexej Nawalny in Deutschland sicher?
Derzeit hat er so viel Öffentlichkeit, dass man einen erneuten Anschlag nicht riskieren wird. Das System wird aber aggressiver. Selbst Leute, die nur als Gegner, nicht als Verräter gelten, stehen auf der Abschussliste, wie der Oppositionspolitiker Boris Nemzow vor einigen Jahren. Deswegen ist Nawalny immer ein Ziel. Er hat nur durch Zufälle überlebt. Er lebt definitiv gefährlich.
- Telefonisches Interview am 6. Oktober 2020