Verbote wegen Corona-Chaoten? Debatte um Versammlungsfreiheit nimmt weiter Fahrt auf
Das Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut, doch es hat Grenzen, findet ein Staatssekretär im Innenministerium. Die Bundesjustizministerin Christine Lambrecht sieht das allerdings anders. Ein Überblick.
Nach der Berliner Großdemonstration gegen staatliche Corona-Auflagen hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Stephan Mayer, gefordert, bei Genehmigungen von Versammlungen gegebenenfalls restriktiver vorzugehen. Zwar seien Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung "hohe, allen Bürgern garantierte unveränderliche Grundrechte", schrieb der CSU-Politiker in einem Gastbeitrag für die "Rhein-Neckar-Zeitung". "Allerdings eben immer nur so weit, als die Rechte Dritter oder die öffentliche Sicherheit nicht erheblich verletzt werden".
Die Überwachung der Einhaltung der Hygieneregeln müsse weiter höchste Priorität haben, schrieb er. "Hier obliegt es den Landesbehörden abzuwägen, inwieweit Maßnahmen noch verschärft werden müssen und man aufgrund der negativen Erfahrungen des Demonstrationsgeschehens vom Wochenende bei der Genehmigung von Versammlungen zukünftig restriktiver zu entscheiden hat", schrieb Mayer.
Auch der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Jörg Radek, forderte, die Genehmigung solcher Demonstrationen genauer zu prüfen. "Die Behörden müssen sensibler sein, was die Genehmigung solcher Demonstrationen betrifft", sagte Radek der "Augsburger Allgemeinen" (Dienstag). Dazu müsse die Politik Vorgaben machen.
Gegen die staatlichen Beschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie waren am Samstag in Berlin Tausende auf die Straße gegangen. An einem Demonstrationszug beteiligten sich nach Schätzungen der Polizei bis zu 17.000 Menschen. Etwa 20.000 waren es danach bei einer Kundgebung. Weil viele Demonstranten weder Abstandsregeln einhielten noch Masken trugen, löste die Polizei die Kundgebung auf. Die Proteste in Berlin hatten eine Debatte über das Vorgehen gegen Verstöße und das Demonstrationsrecht ausgelöst.
Lambrecht spricht sich gegen Verbote aus
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht wandte sich gegen Forderungen, solche Protestveranstaltungen notfalls von vornherein zu untersagen. "Ich finde es ganz wichtig, dass wieder Demonstrationen stattfinden können und Menschen dort ihre Meinung, auch zur aktuellen Corona-Politik der Bundesregierung, frei und öffentlich äußern können", sagte die SPD-Politikerin dem "Spiegel". Den bewussten Verstoß gegen Corona-Vorschriften nannte sie "verstörend und nicht hinnehmbar". Hier müssten die Vorschriften von Behörden vor Ort konsequent angewendet werden, "unabhängig davon, welches Ziel die jeweilige Demonstration hat".
Berlins Innensenator Andreas Geisel sagte dem Nachrichtenmagazin, man dürfe Grundrechte nur zeitlich beschränkt und mit guter Begründung einschränken. "In Berlin stehen alle Corona-Ampeln noch auf Grün. Da sind neuerliche Verbote schwer zu begründen. Wir setzen aber die Auflagen und Regeln für Demonstrationen konsequent durch", versicherte der SPD-Politiker. Der rheinland-pfälzische Innenminister und SPD-Landeschef Roger Lewentz sagte dem "Spiegel": "Wir haben ausreichend Mittel, Versammlungen aufzulösen, die aus dem Ruder laufen." Eine Verschärfung sei nicht notwendig.
Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl erinnerte daran, dass in Stuttgart die Versammlungsbehörde die Teilnehmerzahl an einer Demonstration gegen Corona-Maßnahmen begrenzt habe. "Das Versammlungsrecht bietet die Instrumente - nun muss man davon auch konsequent Gebrauch machen", sagte der CDU-Politiker dem Nachrichtenmagazin.
Ramelow: Veranstalter muss Auflagen erfüllen
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) rief zu einem konsequenteren Vorgehen bei Verstößen gegen Corona-Maßnahmen während Demonstrationen wie am Samstag auf. "Das Versammlungsrecht ist ein viel zu hohes Gut, um eingeschränkt zu werden. Aber die Logik des deutschen Versammlungsrechts ist durchzusetzen, dass der Veranstalter die erteilten Auflagen für die Versammlung erfüllt", sagte Ramelow der "Rheinischen Post" (Dienstag). "In dem Moment, da die Auflagen nicht eingehalten wurden, hätte der Veranstalter in Haftung dafür gehen müssen."
Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner bezeichnete das Verhalten der Demonstranten in Berlin als "gemeingefährlich". "Versammlungsbehörden müssen in der aktuellen Situation mit Blick auf das Virus Verbote und Auflagen entsprechend anpassen und entschlossen vorgehen, wenn sie gebrochen werden", sagte Kellner dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND/Dienstag).
Sorge um eine zweite Corona-Welle
Angesichts der steigenden Zahl von Corona-Neuinfektionen sorgen sich viele Politiker vor einer zweiten Corona-Welle, auch weil viele Urlauber nach Deutschland zurückkehren und vielerorts auch die Schule wieder beginnt. Mecklenburg-Vorpommern startete bereits am Montag ins neue Schuljahr. Nach Einschätzung des Ärzteverbandes Marburger Bund ist die zweite Welle bereits da. Die Krankenhäuser seien darauf vorbereitet und könnten mit einem mehrstufigen Vorgehen reagieren.
"Wir befinden uns ja schon in einer zweiten, flachen Anstiegswelle", sagte die Verbandsvorsitzende Susanne Johna der "Augsburger Allgemeinen" (Dienstag). Sie sei aber nicht vergleichbar mit den Zahlen von März und April. Dennoch steige die Zahl der Neuinfektionen. "Damit ist die Gefahr, dass wir die Erfolge, die wir bislang in Deutschland erzielt haben, in einer Kombination aus Verdrängung und Normalitätssehnsucht wieder verspielen", warnte Johna.
- Nachrichtenagenturen dpa und afp