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Corona-Krise – Michael Kellner (Grüne): "Ich habe kein Verständnis dafür"


Interview
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Grünen-Manager zu Corona-Diskussionen
"Ich habe wenig Verständnis dafür"

  • Johannes Bebermeier
InterviewVon Johannes Bebermeier

27.04.2020Lesedauer: 9 Min.
Michael Kellner: Der Politische Bundesgeschäftsführer der Grünen will, dass die Probleme von Familien in der Corona-Krise stärker in den Blick geraten.Vergrößern des Bildes
Michael Kellner: Der Politische Bundesgeschäftsführer der Grünen will, dass die Probleme von Familien in der Corona-Krise stärker in den Blick geraten. (Quelle: imago images)
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Wie wollen die Grünen in der Corona-Krise helfen? Darüber beraten sie am Samstag auf einem Parteitag. Was sie fordern und wofür sie die Regierung kritisieren, erzählt Bundesgeschäftsführer Michael Kellner.

Er managt die Grünen derzeit aus seinem Garten heraus. Der Politische Bundesgeschäftsführer Michael Kellner sitzt beim Interview mit t-online.de auf seiner Terrasse in Brandenburg. Im Gespräch erzählt Kellner dann, was ihm bei der Bekämpfung der Corona-Krise derzeit fehlt – in Deutschland, aber auch in Europa. Und er sagt, was die Grünen daran ändern wollen, etwa um Familien besser zu unterstützen.

t-online.de: Herr Kellner, wie lässt sich eine Partei aus dem Homeoffice managen?

Michael Kellner: Es funktioniert, aber es ist schon deutlich aufwändiger. Alles per Video oder Telefon regeln zu müssen, dauert wesentlich länger als im persönlichen Kontakt. Und wenn dann zwischendurch noch Zeit sein muss, den eigenen Kindern Deutsch- und Englischunterricht zu geben, dann ist das noch mal eine besondere Herausforderung. Aber damit bin ich nicht allein, das Problem haben zurzeit viele Familien.

Es gibt trotz Corona-Krise derzeit auch schöne Momente für Sie. Der Blick auf ihre Mitgliederstatistik ist so ein schöner Moment, wie ich hörte.

Ja. Wir haben die bedeutende Marke von 100.000 Mitgliedern überschritten, sind erstmals in unserer Parteigeschichte sechsstellig. Das ist ein absoluter Mitgliederrekord für uns! Wir erreichen damit eine neue Stufe in der Entwicklung der Partei. Das freut mich als Bundesgeschäftsführer natürlich total. Es ist großartig, dass wir auch in den letzten Wochen weiter gewachsen sind.

Was bedeutet diese Marke für eine Partei wie die Grünen?

Die neuen Mitglieder geben uns eine wahnsinnige Energie und ordentlich Rückenwind – auch für die ja bald wieder anstehenden Wahlkämpfe. Das ist ein richtiger Turbo. Denn unsere Mitglieder sind sehr aktiv, sie wollen mitmachen und sich einbringen. Ich habe in den letzten Wochen mehrere hundert Neumitglieder online in Videokonferenzen getroffen. Die hatten richtig Lust und brennen für Themen wie Klimaschutz, Ökologie, soziale Gerechtigkeit.

Sie selbst sind den Grünen 1997 beigetreten. Was hat Sie persönlich dazu bewegt?

Meine Großeltern haben mir die Liebe zur Natur mitgegeben. Ich stamme aus Thüringen, aus Gera. Ich war zwar zu jung, um Teil der Bürgerrechtsbewegung zu sein. Aber in Gera gab es einen Pfarrer, der Bürgerrechtler war, und der sich unglaublich engagiert hat. Mir hat dieser Mut total imponiert. Der Wunsch frei solidarisch miteinander zu leben, hat mich geprägt, und so bin ich zu den Grünen gekommen.

Die Grünen kommen aus den sozialen Bewegungen und wollten mal Anti-Parteien-Partei sein. Jetzt feiern Sie einen Mitgliederrekord, geben sich radikal-pragmatisch und formulieren offen ihren Machtanspruch. Werden Sie spießig?

Überhaupt nicht. Wir wollen dieses Land verändern, um es voranzubringen. Da sind wir uns sehr treu geblieben. Das leidenschaftliche Eintreten für Umweltschutz und Gerechtigkeit liegt in unserer programmatischen DNA. Was sich seit den Gründungsjahren geändert hat, ist der Anspruch, auch aus der Regierungsverantwortung heraus zu gestalten. Dieser Anspruch ist aber für eine politische Partei völlig richtig. Wir haben in der rot-grünen Regierungszeit von 1998 bis 2005 bereits gezeigt, dass wir das können. Dass es beim Klimaschutz in den letzten Jahren nicht vorangegangen ist, liegt daran, dass die Grünen nicht mehr regieren.

Der Blick in die Umfragen ist für die Grünen gerade nicht so erfreulich. Mit 16 Prozent sind Sie weit von den letzten Spitzenwerten entfernt. Haben Sie Angst, dass es jetzt wieder wie vor der Bundestagswahl 2013 läuft, als sie nach ähnlichen Höhenflügen bei gut acht Prozent landeten?

Das ist jetzt die Stunde der Exekutive, besonders die CDU steigt in aktuellen Umfragen. Das ist vollkommen normal. Weltweit profitieren Regierungen davon. Die nächste Bundestagswahl ist völlig offen. Die Wahl wird erstmals seit der Wahl von Konrad Adenauer ohne einen amtierenden Kanzler bzw. eine Kanzlerin stattfinden. Ich würde mich über Umfrageverluste ärgern, wenn wir schwere Fehler gemacht hätten. Aber die Corona-Krise konnten wir nun nicht vorhersehen. Ich bin überzeugt davon, dass es ein wahnsinnig spannender Wahlkampf wird.

Ist es in der Corona-Krise schwieriger, als Opposition durchzudringen?

Ja, natürlich. Am Anfang ging es um die akute Krisenbewältigung, das ist auch richtig so. Doch jetzt geht es vermehrt auch um die Frage, welchen Zustand wollen wir für nach der Krise eigentlich zurück? Was gilt es womöglich anders zu machen, um auf zukünftige Krisen besser vorbereitet zu sein? Ich führe dieses Interview gerade in Brandenburg auf dem Land, und merke jetzt schon, wie stark die Dürre hier bereits im April ist. Die Landwirte nebenan machen sich große Sorgen. Die Klimakrise war nie weg, sie ist nach wie vor da, und sie wird und muss uns auch bald wieder verstärkt beschäftigen. Denn für sie wird es keinen Impfstoff geben.


Kommt Ihnen die Beschäftigung mit der Klimakrise gerade zu sehr unter die Räder?

Es ist richtig, dass die Bewältigung der Corona-Krise aktuell Priorität hat. So viele Menschen leiden unter der derzeitigen Situation, haben Existenzsorgen und wissen nicht, wie es weitergeht. Ihnen akut zu helfen, muss im Vordergrund stehen. Mir ist nur wichtig: Wir brauchen für die Bewältigung ein Konjunkturprogramm, das die Wirtschaft ankurbelt und gleichzeitig beim sozial-ökologischen Umbau unterstützt. Wir dürfen nicht blind in Abgase und Beton investieren, sondern müssen den Firmen helfen, auf eine klimafreundliche Produktion umzustellen. Der Umbau muss sozial sein. Firmen, die Staatshilfen erhalten, dürfen in der Krise keine Dividenden ausschütten oder die Managergehälter erhöhen, stattdessen geht es darum, Arbeitsplätze mit guten Arbeitsbedingungen zu erhalten. Es muss ein Transformationsprogramm sein.

Sie werden am nächsten Samstag per Videoschalte einen kleinen Parteitag abhalten, der bei Ihnen Länderrat heißt. Die Corona-Krise wird das Thema sein. Worüber werden Sie debattieren?

Wir wollen zum einen diskutieren, wie das Konjunkturprogramm ausgestaltet werden muss. Wir werden aber auch über die sozialen Auswirkungen der Krise reden. Wir sehen ja, wie schwer es viele haben. Eltern müssen Homeoffice und Homeschooling unter einen Hut bekommen. Alleinerziehende fühlen sich komplett im Stich gelassen. Auf unserer Website wird der digitale Länderrat live übertragen.

Was wird im Leitantrag des Parteitags stehen?

Wir werden drei Schwerpunkte im Leitantrag formulieren. Zuerst geht es um direkte Hilfen für diejenigen, die besonders von den Einschränkungen betroffen sind. Wir werden etwa Vorschläge für ein Corona-Elterngeld machen, das Familien unterstützt, die derzeit nicht oder nur eingeschränkt arbeiten können, weil sie ihre Kinder betreuen müssen. Wir fordern auch, das Arbeitslosengeld II mindestens temporär zu erhöhen. Das Geld reicht gerade jetzt in der Krise oft nicht aus, weil für Familien etwa das kostenlose Mittagessen in Schulen wegbricht. Beim Arbeitslosengeld II sollte es einen krisenbedingten Sonderbedarf von 100 Euro für Erwachsene und 60 Euro für Kinder geben. Auch das Arbeitslosengeld I muss jetzt länger gezahlt werden. Dann formulieren wir ein kurzfristiges Konjunkturprogramm, damit wir jetzt richtig durch die Krise kommen. Um unseren Wohlstand langfristig zu sichern und nachhaltig und vorsorgend aus der Krise zu kommen, braucht es ein langfristiges Investitionsprogramm.

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Wird die Debatte um Lockerungen den Familien gerade gerecht, etwa mit Blick auf die Kitas?

Ich wünsche mir von den Kultusministerinnen und Kultusministern in der Frage der Kitaöffnungen wirklich mehr Kreativität. Es ist richtig, dass wir Schulen und Kitas nur öffnen können, wenn die Hygieneregeln eingehalten werden. Aber zwischen einer Komplettöffnung und einer Komplettschließung bis August gibt es wahnsinnig viel Spielraum. Man könnte die Kitas zum Beispiel in Kleingruppen öffnen. Derzeit wird den Familien signalisiert, dass sie bis auf weiteres auf sich gestellt sind. Diese Botschaft deprimiert viele Familien, die gerade an den Grenzen ihrer Belastung sind.

Die SPD-Chefin Saskia Esken hat zur Krisenbewältigung eine Vermögensabgabe ins Spiel gebracht hat. Braucht es so etwas, um die Lasten zu verteilen?

In der Finanzkrise 2008/2009 ging es bei der Bankenrettung extrem ungerecht zu. Es muss bei der Bewältigung der Corona-Krise gerechter zugehen als damals. Die Vermögen, die heute mit Staatsgeld gerettet werden, müssen deshalb einen Beitrag leisten zur Finanzierung der Krise. Als Konsequenz aus der Corona-Krise muss die Schuldenbremse weiter gefasst werden und die Tiefe der Krise rechtfertigt sehr lange und flexible Tilgungszeiträume. Und die Krise wird einen besonderen Beitrag von denen, die gut durch die Krise gekommen sind, verlangen, von denen die starke Schultern haben. Entscheiden kann man das erst richtig, wenn wir wissen, wie hoch die Rechnung ist.

Wie zufrieden sind Sie mit dem Krisenmanagement der Bundesregierung?

Ich will nicht meckern. Das fände ich in dieser Krise wirklich falsch. Man sieht ein Bemühen, diese Krise gemeinsam zu bewältigen. Meine große Sorge ist, dass bestimmte Gruppen durchs Raster fallen: Alleinerziehende, Hartz-IV-Empfänger, Kinder und Familien, Kulturschaffende. Da muss nachgelegt werden.

Und in der EU?

Das Krisenmanagement in Europa ist eine große Schwachstelle der großen Koalition. Sie setzt auf kalte Schulter statt auf Empathie und Solidarität. Wir müssen für ein gemeinsames Europa kämpfen. Nicht nur, um das Projekt Europa vor Nationalismus zu retten. Es ist auch im Interesse Deutschlands, dass es allen Staaten gut geht, allein weil unsere Wirtschaften so verwoben sind.

Wo fehlt es Ihnen konkret?

Es gibt einen wahnsinnigen Frust in Italien und Spanien. Die mangelnde Unterstützung gerade am Anfang der Krise war fatal. Die Solidarität kam nicht aus Europa selbst, sondern von außerhalb. Wir brauchen Corona-Bonds, also gemeinsame Anleihen, um die Kosten der Krise zu bewältigen. Da darf sich die Bundesregierung nicht länger verweigern.

Die gemeinsame Schuldenhaftung durch die Bonds macht Ihnen keine Sorgen?

Kein Land kann etwas für diese Krise. Corona-Bonds sind wichtig, damit Solidarität in Europa kein leeres Versprechen bleibt. Und wenn Zulieferer-Firmen in Italien stillstehen, dann kann auch die deutsche Automobilindustrie nicht produzieren. Die Ablehnung der Corona-Bonds ist pure Ideologie der Bundesregierung.

Werden die Lockerungen in einigen Bundesländern gerade zu forsch umgesetzt, wie die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung sagte?

Als Bürger erwarte ich ein abgestimmtes Vorgehen zwischen Bundesregierung und Bundesländer, doch mit Sorge sehe ich Gockelkämpfe mancher Ministerpräsidenten. Das wichtige ist, dass die Lockerungen schrittweise erfolgen und die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Ich habe wenig Verständnis dafür, dass so intensiv über Möbelhäuser und Profi-Fußball diskutiert wird. Die relevanten Fragen sind für mich, wie wir Familien und Alleinerziehende mit kleinen Kindern helfen, wie wir Menschen davor schützen, nicht in Armut abzustürzen und wie wir die Wirtschaft langsam wieder zum Laufen kriegen, ohne dass wir die Gesundheit der Bevölkerung aus den Augen verlieren. Da muss alle Kraft reinfließen, damit wir verantwortungsvoll lockern können.

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Ihr Parteitag am Samstag wird komplett digital per Videokonferenz ablaufen. Ist das einmaliger Ausdruck der Krise oder können Sie sich das als Zukunftsmodell vorstellen?

Erst einmal freue ich mich auf dieses demokratische Experiment. Es ist das erste Mal, dass eine im Bundestag vertretene Partei so etwas auf Bundesebene macht. Wir wollen damit auch in der Krise Raum für Debatten bieten. Wir waren schon vorher als Partei sehr digital unterwegs, die Corona-Krise beschleunigt das. Ich kann mir vorstellen, dass wir auch in Zukunft noch mehr auf digitale Formate setzen. Aber die persönliche Begegnung bleibt wichtig, das Digitale kann nur eine Ergänzung sein. Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der man sich nur noch in Videokonferenzen sieht.

Rechnen Sie damit, ihren Parteitag vor der Bundestagswahl 2021 wieder analog abhalten zu können?

Sicher ist in diesen Zeiten nichts, ich plane zweigleisig. Aber ich hoffe, dass wir mit strengen Hygieneauflagen Ende 2020 einen analogen Parteitag ermöglichen können. Allein aus Gründen des Parteienrechts lassen sich auch gar keine geheimen Wahlen digital abhalten, um etwa eine Wahlliste aufzustellen.

Müsste man das Parteienrecht dann jetzt ändern?

Wir sollten das Parteiengesetz reformieren, um den Parteien mehr digitale Möglichkeiten zu geben. Das fordere ich schon länger.

Was sollte man dann reformieren?

Auch über Programme oder den Parteivorstand muss derzeit auf Parteitagen entschieden werden. Die Vorsitz-Wahl der SPD war deshalb ja auch gar keine echte Urwahl. Der Parteivorstand hat dem Parteitag empfohlen, dem Ergebnis der Mitgliederbefragung zu folgen. So etwas sollte man direkt ermöglichen. Und dafür müsste man das Parteiengesetz ändern.

Was vermissen Sie persönlich in der Corona-Krise am meisten?

Ich liebe meine Familie sehr und bin froh, dass ich mit ihr diese Zeit verbringen kann. Aber ich vermisse es schon, auch andere Leute zu treffen. Ich würde gerne mal wieder mit Freunden in meinem Stammlokal sitzen. Und mir fehlt Zeit, auch wenn das komisch klingt. Die Tage sind gerade wahnsinnig anstrengend und vollgepackt mit Arbeit und Kinderbetreuung, da fehlt Zeit zum Abschalten und Durchatmen.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Michael Kellner per Videokonferenz
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