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FDP-Chef Christian Lindner kritisiert Angela Merkel: "Das halte ich für falsch"


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Corona-Krise
Christian Lindner kritisiert Angela Merkel: "Das halte ich für falsch"

InterviewVon Tim Kummert und Florian Harms

Aktualisiert am 09.04.2020Lesedauer: 8 Min.
FDP-Chef Christian Lindner: "Ich sehe die Chance für einen Modernisierungsschub"Vergrößern des Bildes
FDP-Chef Christian Lindner: "Ich sehe die Chance für einen Modernisierungsschub" (Quelle: Urban Zintel für t-online.de)
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In Deutschland gilt auch über Ostern eine strenge Kontaktsperre. FDP-Chef Lindner kritisiert, dass Kanzlerin Merkel keine Wege für eine Lockerung benennt – und fordert einen Expertenrat.

Christian Lindner ist gerne unterwegs: Der FDP-Chef hat einen Führerschein für Sportboote, eine deutsche Rennfahrerlizenz und einen Jagdschein. Doch gegenwärtig ist der 41-Jährige wie so viele Menschen gezwungenermaßen fast immer daheim. Vom Homeoffice aus steuert er die Geschicke seiner Partei.

Die Ausgangsbeschränkungen im Zuge der Corona-Krise treffen auch den FDP-Vorsitzenden. Wie Lindner damit umgeht, weshalb er die Kanzlerin für ihre mangelnde Kommunikation über eine Lockerung der Maßnahmen kritisiert und was Deutschland von Österreich lernen kann, erzählt er im Interview:

t-online.de: Herr Lindner, wir sprechen über eine Videoverbindung mit Ihnen. Sie sitzen zu Hause, wir ebenfalls, weil das Coronavirus uns wie alle anderen Bürger massiv einschränkt. Wie geht es Ihnen?

Christian Lindner: Natürlich sorge ich mich um meine Omas, die besonders bedroht sind. Ich habe auch viel Kontakt mit Menschen, die verzweifelt um ihre wirtschaftliche Existenz kämpfen. Persönlich bin ich gesund, aber ich vermisse Menschen: Nicht nur meine Freunde, auch die Kollegen im Parlament, die Zufallsbegegnungen auf dem Bahnsteig und die Besucher meiner Veranstaltungen, aus deren Reaktion ich immer viel über die Stimmung im Land lerne.

Wen sehen Sie denn noch regelmäßig?

Nur meine Lebensgefährtin und auf eine gewisse Entfernung manchmal Journalisten bei TV-Schalten. Sonst niemanden. Das ist hart, aber im Moment leider alternativlos.

In der Regel führen Sie das hektische Leben eines Berufspolitikers. Nun sind Sie entschleunigt worden, weil Sie viel mehr Zeit zu Hause verbringen müssen, und…

…verzeihen Sie, da muss ich unterbrechen. Ja, ich verbringe meine Zeit fast ausschließlich zu Hause. Aber von Entschleunigung kann keine Rede sein, ganz im Gegenteil. Auch vor der Pandemie hatte ich immer wieder Zeiten zum Nachdenken, vor allem auf Reisen. Ich war ja nahezu pausenlos im Land unterwegs.

Die Reisen fallen nun aber weg.

Exakt. Also bin ich den Tag über im Homeoffice, aber zugleich permanent und nahezu pausenlos in Videokonferenzen. Außerdem kommen fortwährend neue Gesetzesvorschläge oder politische Maßnahmen, die wir bewerten müssen.

Wie sieht ein Arbeitstag bei Ihnen gerade aus?

Morgens mache ich Sport, dabei schaue ich Serien. Anschließend setze ich mich an meinen Schreibtisch, schaue in meine E-Mails und informiere mich über die aktuelle politische Lage. Dann folgt in der Regel die erste Schaltkonferenz am Telefon mit unseren Geschäftsführern und Sprechern. Und an die schließen sich dann weitere mit Experten, Wissenschaftlern, Regierung oder Journalisten an. Gegen Abend gehe ich gerne auf Instagram live, um direkt mit der Community zu diskutieren. Letzte Woche Freitag waren das zwei Stunden. Anschließend werfe ich einen Blick in die digitalen Ausgaben der Zeitungen des nächsten Tages.

Wenn man von zu Hause aus arbeitet, fehlt eine klare Trennung von Beruf und Privatleben. Wie gehen Sie mit dieser Vermengung um?

Das erfordert ein waches Bewusstsein, damit man am Ende nicht nur noch arbeitet – oder gar nicht mehr konzentriert. Ich sehe aber auch Vorteile. Plötzlich sehe ich bei den Videokonferenzen auch mal Vorstände aus den wichtigsten deutschen Unternehmen im Holzfällerhemd sitzen. Durch diesen informellen Umgang miteinander entsteht auch Nähe. Ich werde dem FDP-Präsidium vorschlagen, dass wir Sitzungen außerhalb der Sitzungswochen künftig rein digital abhalten. Das spart Zeit und CO2.

Wird das Leben in Deutschland nach der Corona-Pandemie digitaler sein als vorher?

Davon bin ich überzeugt.

Inwiefern?

Ich sehe die Chance für einen Modernisierungsschub: Viele merken jetzt, welche Flexibilität die Digitalisierung zulässt, es gibt mehr Videokonferenzen, vielleicht ergibt sich auch bei den Lieferdiensten ein Boom. Wir haben ja immer dafür geworben, dass wir Bildung, Ämter und Gesundheit digitaler machen müssen. Jetzt nach der Krise wird die Bereitschaft wachsen, den offensichtlichen Nachholbedarf entschlossen anzugehen.

Wann haben Sie gemerkt, wie dramatisch diese Corona-Krise werden könnte?

Als die Pandemie in unserem direkten Umfeld ankam: Sehr früh wurden FDP-Kollegen positiv auf Corona getestet. Der Krankheitsverlauf machte klar, dass Corona deutlich gefährlicher als eine Grippe ist. Deshalb habe ich noch vor den ersten Schulschließungen der Regierung in einer Bundestagsrede nahegelegt, dass das Leben kontrolliert heruntergefahren werden muss.

Nun stehen das öffentliche Leben und die Wirtschaft weitgehend still. Ändert die Corona-Krise eigentlich Ihre Sicht auf den Kapitalismus?

Was meinen Sie damit?

In Deutschland gäbe es wohl schon eine Schutzmaskenpflicht für alle Bürger – nur sind bislang nicht ausreichend viele Masken vorhanden. In der FDP heißt es oft, dass der Markt schon allen Bedarf regele. Doch jetzt wird klar: Von allein deckt der Markt offenbar nicht alle Bedürfnisse.

Das Marktverständnis von uns Liberalen ist anders, als Sie es darstellen. Der Markt ist pragmatisch das beste Instrument, um Angebot und Nachfrage effizient auszugleichen. Planwirtschaft hat sich nirgends bewährt. Vor Corona gab es kein Bedürfnis nach Schutzmasken. Sie hatten doch vermutlich keine, oder? Hier sehe ich eher Defizite beim staatlichen Katastrophenschutz, der solche Lagen voraussehen sollte und Vorräte anlegen muss.

Fordern jetzt ausgerechnet Sie als liberaler Politiker einen stärkeren Staat?

Aber natürlich – aber an den richtigen Stellen. Ich brauche keine Bonpflicht beim Bäcker, kein Missmanagement wie bei BER oder PKW-Maut und auch keine Maßregelungen. Aber wir brauchen ein funktionierendes Gesundheitssystem, starke Polizei, beste Schulen, gute Straßen, schnelle Netze und einen Schiedsrichter für fairen Wettbewerb auf den Märkten. Leider ist der Staat oft stark gewesen, wo er eher lästig ist, und schwach dort, wo wir ihn vermissen.

Die Chance für einen gut gewappneten Staat in der Krise war da: Im Jahr 2013 wurde dem Bundestag ein Papier vorgelegt, das beispielsweise auf einen Mangel an Desinfektionsmitteln im Falle einer Pandemie hinwies. Genau das trifft jetzt ein. Die FDP war damals in der Bundesregierung – doch gehandelt hat Ihre Partei damals nicht.

Das Papier aus dem Januar 2013 stammt ja von der Bundesregierung, in der die FDP mit Daniel Bahr den Gesundheitsminister stellte. Im September wurden wir allerdings aus Regierung und Parlament abgewählt.

Das wären ja trotzdem noch acht Monate Zeit gewesen, um entsprechende Maßnahmen einzuleiten.

Nein, erst mit dem Bundeshaushalt 2014 wäre das möglich gewesen. Wenn das aber ein Versuch sein soll, die FDP für die mangelnde Vorbereitung verantwortlich zu machen, ist er etwas amüsant. Sie sprechen über acht Monate. Was ist mit den sieben Jahren seitdem? Die Wahrheit ist eine andere. Es gibt enorm viele Risiken für unsere Gesellschaft, aber die Ressourcen des Staates sind begrenzt. Während des Kalten Kriegs war die Bundeswehr groß, danach wurde sie kleiner, weil die Risiken andere waren. In diesem Sinne wurde die Wahrscheinlichkeit einer Pandemie wie Corona als gering einschätzt. Nun wird man dies und die notwendigen Maßnahmen neu bewerten.

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Als Ende Dezember das Virus in China ausbrach oder als im Januar die Lage dort schlimmer wurde, da hätte man doch schon auf die Idee kommen können, dass die Pandemie auch hierzulande die Wirtschaft lahmlegen kann. Hat die Bundesregierung zu spät reagiert?

Selbst renommierte Virologen haben noch Ende Februar gesagt, dass man bedenkenlos Großveranstaltungen besuchen könne. Es wäre von mir unfair, jetzt in der Retrospektive die Bundesregierung zu kritisieren. Man muss jetzt einen möglichst guten Umgang mit dieser Krise finden und danach die richtigen Schlüsse ziehen.

Besonders schwer trifft die Corona-Krise die südlichen europäischen Länder wie Spanien und Italien. Die Regierungen dort fordern Corona-Bonds, also eine Vergemeinschaftung von Schulden mit anderen europäischen Ländern wie Deutschland. Können Sie sich vorstellen, Ihre Ablehnung gegen derlei Bonds angesichts des Dramas aufzugeben?

Die Bilder aus Spanien und Italien sind schrecklich. Dennoch halte ich von Coronabonds nichts. Was diese Länder jetzt brauchen, ist medizinische Hilfe, Atemgeräte oder finanzielle Unterstützung für das Gesundheitssystem. Danach brauchen wir realwirtschaftliche Investitionen in Arbeitsplätze und Spitzentechnologie, die europäische Institutionen unterstützen können. Wenn aber Deutschland für Schulden anderer haftet, ohne Einfluss auf die dortige Politik zu haben, wird das nicht zu soliden Finanzen führen. Zumal kein Anlass besteht. Spanien zum Beispiel sagt selbst, dass man weiter Zugang zum Kapitalmarkt habe.

Was macht Sie da so sicher?

Das sieht man an deren Zinsen. Auch die Europäische Zentralbank hilft. Sollte ein Land den Zugang zum Kapitalmarkt verlieren, haben wir den Euro-Rettungsschirm ESM. Der kann helfen, aber die Haftung bleibt klar geregelt und es sind Bedingungen daran geknüpft. Alles andere würde die Stabilität der Währung unterspülen.

In vielen deutschen Medien gibt es eine große Zustimmung für die Coronabonds, wer dagegen ist, gilt teilweise als unsolidarisch und als schlechter Europäer. Können Sie mit diesem Image leben?

Ich mache mich nicht abhängig vom Applaus des Tages. Und ich ertrage die Reaktionen der Twitter-Community. Wir vertreten eben unsere Überzeugungen, selbst wenn wir anecken. Trotz anfänglicher Empörung haben sich die im Nachhinein mitunter als ganz in Ordnung herausgestellt.

Zum Beispiel?

Wir haben uns seit 2015 für eine weltoffene, aber kontrollierte Migrationspolitik eingesetzt. Noch im Bundestagswahlkampf wurde mir ein Rechtsruck vorgeworfen. Vieles von dem, was wir damals vorschlagen haben, findet heute breite Zustimmung. In der Klimapolitik haben wir uns für Spitzentechnologie und weltweite Kooperation ausgesprochen, wollten aber die wirtschaftliche Substanz nicht geschürter Panik opfern. In der Corona-Krise haben wir als eine der ersten Parteien für den Lockdown plädiert, aber jetzt werden wir kritisiert, weil wir als erste über Strategien für eine schrittweise Öffnung in Richtung Exit sprechen.

Die Kanzlerin hat bislang genau solche Strategien nicht skizziert. Halten Sie das für richtig?

Nein, das halte ich für falsch. Wir müssen jetzt Wege suchen, wie schnellstmöglich wieder das öffentliche Leben in Deutschland stattfinden kann. In Nordrhein-Westfalen, wo wir als FDP mit in der Regierung sitzen, wurde jetzt ein Expertenrat für die Lockerung der Maßnahmen einberufen. Das ist nicht nur fachlich für die Regierung eine Hilfe. Sondern dieser Rat sendet auch an die Bevölkerung die Botschaft, dass jetzt nach Lösungen gesucht wird, um den Stillstand zu beenden.

Sie fordern also einen Expertenrat für die Bundesregierung zur Beratung einer Exit-Strategie aus dem Lockdown?

Ja. Allein schon deshalb, weil man sich aktuell primär auf die fachliche Einschätzung des Robert Koch-Instituts verlässt. Dabei hat sich gezeigt: Die Auffassungen der Virologen unterscheiden sich teilweise gründlich, und viele mussten bereits frühere Aussagen revidieren. Das lehrt doch, dass es unklug ist, sich allein auf eine Meinung zu verlassen.

Wer sollte in diesem Expertenrat auf Bundesebene vertreten sein?

Da will ich keine konkreten Vorgaben machen. In Nordrhein-Westfalen sind es Virologen, unter anderem Professor Streeck, der in Heinsberg eine Feldstudie zur Verbreitung von Corona unternimmt. Das hätte ich beispielsweise vom Robert Koch-Institut auch erwartet, aber es geschieht bislang nicht. Ein Staatsrechtler wie Udo di Fabio ist dabei, auch Vertreter der Wirtschaft sind vertreten.

In Österreich hat Kanzler Sebastian Kurz angekündigt, die Ausgangssperre zum 1. Mai praktisch vollständig zu beenden. Kann Österreich ein Vorbild für Deutschland sein?

Ja, vielleicht nicht in allen Punkten, aber in Teilen sicherlich schon. Das Leben nach der Lockerung wird nicht sofort ein Leben sein, wie wir es im Februar hatten. Aber die gegenwärtigen, scharfen Maßnahmen können nicht so lange aufrechterhalten werden bis wir einen Impfstoff haben.

Wann könnten Ihrer Ansicht nach die Schulen wieder öffnen?

Einen Stichtag kann ich nicht nennen, doch in den Wochen nach Ostern sollten die Schulen und Kitas wieder aufgemacht werden. Allein schon wegen der Eltern, die ja in das gesellschaftliche Leben und in die Wirtschaft zurückkehren sollen.

Wie kann das Leben in Deutschland wieder normalisiert werden, ohne Menschen der Gefahr durch das Virus auszusetzen?

Im Handel sollten beispielsweise Möglichkeiten zur Desinfektion bestehen, die Beschäftigten sollten Schutzmasken tragen, vielleicht wird es eine maximale Zahl von Menschen pro Fläche geben. Doch darüber darf die Bundesregierung nicht erst am 21. April nachdenken, das muss sie deutlich früher tun! Man kann sehr schnell ein Land von Tempo 100 auf Tempo 15 runterfahren, aber von Tempo 15 auf Tempo 85 wieder rauf, das ist deutlich schwieriger. Und das muss daher gut geplant sein.

Wenn die Ausgangsbeschränkungen aufgehoben werden, was machen Sie dann als erstes?

Ein ausgedehntes Abendessen mit Freunden und der Familie – entweder daheim oder draußen bei unserem Lieblingsitaliener.

Herr Lindner, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Gespräch in einer Video-Schaltkonferenz mit Christian Lindner
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