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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Außenpolitiker Norbert Röttgen "Wieso fangen wir erst jetzt an, zu reagieren?"
An der griechisch-türkischen Grenze kommt es zu dramatischen Szenen, Tausende Migranten wollen in die EU. CDU-Politiker Norbert Röttgen erklärt im Interview, was jetzt geschehen sollte.
Der Syrienkrieg ist erneut eskaliert, Hunderttausende Menschen befinden sich in dem Land auf der Flucht. Auch an der Grenze zwischen der Türkei und dem EU-Mitglied Griechenland ist die Lage angespannt. Bis zu 20.000 Migranten befinden sich dort und wollen in die EU. Bislang halten sie die griechischen Sicherheitskräfte zurück.
Norbert Röttgen kandidiert für den CDU-Vorsitz, er ist ein Experte für Außenpolitik. Im Interview kritisiert er die Haltung der Bundesregierung: Zu lange wurde seiner Meinung nach im Syrien-Konflikt nicht entschieden genug interveniert, den Flüchtlingen müsse jetzt geholfen werden. Röttgen plädiert für ein entschlosseneres Handeln der Politik – und mehr Druck auf Russland.
t-online.de: Herr Röttgen, im Mittelmeer ertrinkt ein Flüchtlingskind, Menschen rennen gegen Zäune, bitten Europa verzweifelt um Hilfe: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Bilder von der türkisch-griechischen Grenze sehen?
Norbert Röttgen: Mich erfüllt Mitleid und Traurigkeit, wenn ich diese Menschen sehe, die in Lebensgefahr sind, weil sie vor Bomben flüchten müssen. Es ist schrecklich, was dort gerade passiert. Unter dieses Gefühl mischt sich Unverständnis – wieso hat die Politik zuvor die Augen verschlossen, wieso fangen wir erst jetzt an zu reagieren?
Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist zur Grenze gefahren, um sich die Situation dort anzuschauen. Haben Sie das auch vor?
Dass Ursula von der Leyen hingefahren ist, war gut und richtig. Reisen an Krisenorte halte ich prinzipiell für geboten, wenn man von dort aus mehr tun kann als von hier aus. Dazu muss man über ein Amt verfügen, um tatsächlich etwas tun zu können. Andernfalls besteht die Gefahr, dass man Hoffnung schafft, aber am Ende enttäuscht. Da ich derzeit über ein solches Amt nicht verfüge, plane ich nicht, dorthin zu reisen.
Gegenwärtig warten knapp 20.000 Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze. Was soll jetzt mit ihnen geschehen?
Die Menschen, von denen Sie sprechen, waren schon länger in der Türkei und haben sich jetzt an die griechische Grenze bewegt, weil es einen massiven Flüchtlingsdruck aus Nordsyrien gibt. Wir müssen daher die fast 1.000.000 Flüchtlinge im Blick behalten, die an der syrisch-türkischen Grenze stehen, die also in die Türkei drängen. Diesen Menschen muss geholfen werden. Wenn wir ihnen helfen, entspannt sich die Situation auch für die Menschen an der türkisch-griechischen Grenze.
Die griechische Regierung geht mit Gewalt gegen die Flüchtlinge vor: Schlauchboote von Migranten werden abgedrängt und Flüchtlinge mit Tränengas beschossen. Finden Sie das richtig?
Ich finde es falsch, Griechenland in dieser schwierigen Situation öffentlich zu kritisieren.
Soll die Grenze also im Zweifel auch mit Gewalt geschützt werden?
Der Schutz der europäischen Außengrenze ist ernst gemeint und wird darum auch mit polizeilichen Mitteln durchgeführt. Andernfalls wäre die Grenze nicht geschützt, sondern offen. Ich bin entschieden für einen Schutz der europäischen Außengrenzen. Daraus folgen aber zwei Dinge: Die Europäer müssen politisch, wirtschaftlich und humanitär auf die Ursachen, warum so viele Menschen flüchten, einwirken. Und zum anderen dürfen wir Binnenstaaten der EU jene Länder, die eine EU-Außengrenze haben, nicht alleinlassen – denn mit dem Schutz ihrer nationalen Grenzen übernehmen sie zugleich für uns alle die Mammutaufgabe, unsere EU-Außengrenze zu schützen.
Also soll Deutschland jetzt Flüchtlinge aufnehmen?
Unsere wichtigste Aufgabe jetzt ist es, den Flüchtlingen schnellstmöglich dort zu helfen, wo sie sind, und zwar in der Türkei. Und darum müssen wir jetzt trotz aller Kritik an Erdogan mit der Türkei kooperieren – um den Menschen zu helfen und im eigenen Interesse.
Vor anderthalb Jahren haben Sie im t-online.de-Interview im Hinblick auf die Migration gesagt: "Sind wir den nächsten Krisen wieder nur unvorbereitet ausgesetzt? Oder entwickeln wir Strategien, Einfluss zu nehmen? Das ist entscheidend." Erkennen Sie mittlerweile bei der Bundesregierung eine Strategie im Hinblick auf Flucht und Migration?
Von einer Strategie kann, befürchte ich, noch nicht gesprochen werden. Zum Beispiel gäbe es ohne Russland den Krieg gegen die Menschen in Idlib nicht, Assad allein wäre dazu nicht in der Lage. Doch verschiedene europäische Außenminister haben es in den vergangenen Wochen bei bloßen Appellen an Putin belassen. Solange Putin für seine Eroberungspolitik keinen Preis bezahlen muss, wird ihn das schwerlich beeindrucken. Genau das können und müssen die Europäer ändern.
Sie sind für eine Neuauflage des Abkommens mit der Türkei. Welchen Sinn hat das, wo Herr Erdogan sich an die aktuelle Abmachung offenbar doch auch nicht mehr gebunden fühlte?
Ein neues Abkommen mit Erdogan ist unausweichlich, wenn wir den Flüchtlingen helfen wollen. Bislang hatte das Abkommen funktioniert, es sind bisher rund 3,5 Milliarden Euro an die Türkei von der EU ausbezahlt worden – ein Bruchteil des Geldes, das wir allein in Deutschland für die bei uns lebenden Flüchtlinge jährlich bezahlen.
Herr Erdogan forderte im Hinblick auf die Flüchtlinge eine "Lastenteilung" zwischen der Türkei und der EU. Was halten Sie davon?
Wir müssen anerkennen, dass die Türkei mit rund vier Millionen Flüchtlingen weit mehr Flüchtlinge als jedes europäische Land aufgenommen hat. Auch darum ist ein Abkommen der EU mit der Türkei sinnvoll.
Ein Zyniker würde einwenden: Dann geht es den Menschen in den Städten besser, doch russische Jets werfen weiter ihre Bomben ab.
Darum ist es unerlässlich, dass der Westen durch politischen und wirtschaftlichen Druck Russland veranlasst, sein Kriegstreiben einzustellen.
Wenn die EU die Türkei unterstützen soll und Erdogan wiederum mit Waffengewalt Einfluss nimmt, dann wird die EU doch indirekt Teil eines Krieges in Syrien.
Überhaupt nicht. Es wird keine Beteiligung europäischer Länder an dem Krieg geben. Im Gegenteil: Wir müssen für die Beendigung des Krieges durch Druck auf Russland arbeiten und den Opfern und Flüchtenden Hilfe leisten.
Die Sanktionen sollen also klarmachen: Wir reagieren hart, wenn ihr massiv die Menschenrechte missachtet?
Die Androhung von Sanktionen hat einen doppelten Sinn: Erstens drücken sie die scharfe Missbilligung von den Kriegsverbrechen aus, die darin bestehen, dass gezielt Zivilisten durch Bombardierung vertrieben werden. Zweitens sind sie ein Druckmittel, um Russland an den Verhandlungstisch zu bringen.
- Persönliches Gespräch mit Norbert Röttgen am 4. März 2020