Presse zum Anschlag in Hanau "AfD kann Nazi-Sympathie kaum verbergen"
Elf Menschen tot, sechs Menschen verletzt. Der rassistische Anschlag in Hanau schockiert die Republik. Und die Presse fordert Konsequenzen.
Aus offenbar rassistischen Motiven hat der 43-jährige Deutsche Tobias R. in Hanau neun ihm fremde Menschen, seine Mutter und sich selbst erschossen. Generalbundesanwalt Peter Frank, dessen Behörde die Ermittlungen im Fall übernommen hat, sprach von einer "zutiefst rassistischen Gesinnung" des Mannes. Nach dem Mord an dem Politiker Walter Lübcke und dem Anschlag in Halle ist es der dritte Fall von rechtsextremem Terror in Deutschland binnen kurzer Zeit. Ein Überblick über die Meinungen in der deutschen und internationalen Presse.
"De Standaard" (Belgien): "Dass die Regierung das Problem erkennt und benennt – Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) sagte, 75 Jahre nach Ende der NS-Diktatur sei der rechte Terror wieder da – ist ein Schritt nach vorn. Denn lange Zeit hat die deutsche Gesellschaft so getan, als ob sie das rechtsextreme Monster gebannt hätte. In den 1960er Jahren wurde die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) gegründet, schaffte jedoch nie den Durchbruch.
Und während im übrigen Europa die rechtsextremen Parteien schnell wuchsen, schien Deutschland das letzte gallische Dorf zu sein, das standhielt. Die Deutschen schienen definitiv ihre Lektion gelernt zu haben. Oder steckten sie nur wie der Vogel Strauß den Kopf in den Sand? (...) Obwohl eine große Mehrheit der Deutschen radikal gegen rechtsextremes Gedankengut ist – 'Wir sind mehr' sagen sie – verbuchte die AfD im vergangenen Jahr in den neuen Bundesländern beachtliche Wahlerfolge. Mittlerweile wurde die Partei vollständig von Leuten übernommen, die ihre Sympathie für die Nazi-Partei kaum noch verbergen."
"The Guardian" (Großbritannien): "Eine der Schlüsselfragen unserer Zeit besteht darin, inwieweit das Ausmaß der Wiederauferstehung des Nationalismus den Rechtsextremismus und tödlichen Rassenhass angefacht und legitimiert hat. Die Sache ist kompliziert. In gewisser Weise ähnlich wie [die rechtspopulistische britische Partei] Ukip hatte die AfD als eine vor allem euroskeptische Partei begonnen. Doch seit der Migrationskrise von 2015 hat sie sich in eine breitere Bewegung mit starken Elementen verwandelt, die bewusst Islamophobie und Rassismus schüren.
(...) Angela Merkels bevorstehender Abschied von der Bühne bedeutet, dass eine Periode politischer Turbulenzen unvermeidlich ist. Doch während die erfolgreichste Partei der Nachkriegsära in Deutschland über ihre künftige politische Richtung nachdenkt, sollten die Ereignisse von Hanau all jenen stark zu denken geben, die versuchen möchten, die äußerste Rechte zu zähmen, einzubinden oder zu imitieren. Der Sperrgürtel zur Isolierung der AfD und ihresgleichen muss aufrechterhalten werden."
"La Voix du Nord" (Frankreich): "Der ultrarechte Terrorismus ist eine westliche Realität, die tief in den dunklen Tiefen unserer Gesellschaften verwurzelt ist. Der Anschlag in Hanau bei Frankfurt hat am Mittwochabend neun Tote unter den Gästen der Shisha-Bars gefordert, und der Mörder hat Nachrichten hinterlassen, die seine rassistischen Beweggründe bezeugen. Deutschland wird von diesem Phänomen getroffen, das bereits durch den Aufstieg der ultrarechten Partei Alternative für Deutschland (AfD) und Pegida erschüttert ist, die jeden Montag in Dresden ihren Hass zum Ausdruck bringt.
Bundeskanzlerin Angela Merkel räumt ein: 'Dieses Gift existiert in unserer Gesellschaft'. Im Juni wurde ein einwanderungsfreundlicher CDU-Politiker ermordet. Im Oktober kamen bei einem Anschlag auf die Synagoge von Halle zwei Menschen ums Leben. Es wäre falsch, sich auf Deutschland zu konzentrieren. Der giftige Glaube an die Vorherrschaft der Weißen breitet sich aus."
Liebe Leserinnen und Leser, wie steht es nach dem Anschlag in Hanau um Ihr Sicherheitsbefinden? Fühlen Sie sich in Ihrem Alltag unsicherer als zuvor? Wie wirkt die Gewalttat auf Sie nach? Schreiben Sie uns eine E-Mail an leseraufruf@t-online.de. Eine Auswahl der Einsendungen werden wir mit Nennung des Namens veröffentlichen.
"Tages-Anzeiger" (Schweiz): "Die Gefahr ist aber auch gewachsen, weil rassistische Hetze in der Gesellschaft heute verbreiteter und sichtbarer ist als vermutlich jemals zuvor seit Bestehen der Bundesrepublik. Im Internet wird Einwanderern, vor allem Muslimen, tausendfach Deportation, Gewalt oder Tod angedroht. Bei Pegida in Dresden, bei den Neuen Rechten, bei den sogenannten Reichsbürgern und auch bei manchem Politiker der Alternative für Deutschland werden Woche für Woche rassistische Parolen laut, die nicht viel weniger aggressiv und menschenverachtend tönen als jene des rechten Terroristen von Hanau. (...)
Die potenziellen Terroristen zu fassen und die gewaltbereiten Szenen in den Griff zu bekommen, genügt deshalb nicht. Die Behörden müssen auch stärker gegen Hetze und Übergriffe im Internet und auf der Straße vorgehen, notfalls mit schärferen Gesetzen. Der Gefahr aber, dass der immer hemmungslosere Hass auf 'Fremde' schleichend das Gemeinwesen vergiftet, kann nur die deutsche Gesellschaft als Ganzes begegnen. Für einen Aufstand der weltoffenen Mehrheit ist es höchste Zeit."
"Corriere della Serra" (Italien): "Das Massaker von Hanau ist ein weiterer rassistischer Terrorakt gegen ethnische oder religiöse Minderheiten, der in einem deutschen Bundesland verübt wird. Zu lange unterschätzt, zeigt das weite Spektrum der neonazistischen Ultrarechten so, dass diese eine diffuse Erzählung von Hass, Fremdenfeindlichkeit und Aufstachelung zur Gewalt geschaffen haben, die Früchte trägt und die Gruppen oder Einzelpersonen dazu bringt, blutige kriminelle Pläne wahr zu machen."
"El Mundo" (Spanien): "Nach zwei Weltkriegen und den blutigen Erfahrungen des jüdischen Holocausts und des sowjetischen Gulags, die durch die zerstörerischsten utopischen Projekte des 20. Jahrhunderts – den Nationalsozialismus und den Kommunismus – hervorgerufen wurden, glaubte man, Europa sei endgültig gegen Kriegsgelüste geimpft.
Die tiefe Wirtschaftskrise (...) und das daraus resultierende Misstrauen der Bürger gegen Gemeinschaftsinstitutionen, die sich als unfähig erwiesen haben, mit den Folgen umzugehen, haben die intoleranten Einstellungen wieder aufflammen lassen, die von den Hassreden des Nationalismus, von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit noch angeheizt werden. Die beiden Schießereien, bei denen am Mittwochabend in der deutschen Stadt Hanau elf Menschen ums Leben kamen, sind die tragische Folge des europaweiten Erwachens des Populismus und der extremen Rechten, die bei den europäischen Wählern immer mehr Unterstützung finden."
"Rzeczpospolita" (Polen): "Wenn jemand willkürlich auf Menschen schießt, die spät abends eine Kneipe besuchen, dann muss das kein Terrorismus sein. Aber in Hanau war es anders. Denn wenn der Schütze in sozialen Medien schreibt, dass er Fremde hasst und über die Liquidierung schlechterer Nationen spekuliert, dann ist er ein Terrorist. Ein rassistischer, rechtsextremer, flüchtlingsfeindlicher und vermutlich auch (...) nationalistischer Terrorist.
Das wird vielen bestimmt nicht gefallen, da sie den Terrorismus auf islamistische Fundamentalisten beschränken wollen. Wie viel einfacher wäre die westliche Welt, wenn alle Terroristen beim Attentat 'Allahu akbar!' rufen würden. Aber im Verlauf des letzten Jahres haben im weitergefassten Westen diejenigen Anschläge verübt, die Muslime und andere 'Nicht-Weiße' hassen. [Hanau] ist die Mitte Europas. Die Mitte Deutschlands, in dem ein von Rassenhass ausgelöster Terrorismus besonderes Entsetzen auslöst."
"Frankfurter Rundschau": "Es ist daher notwendig, endlich einzusehen, dass der Rechtsextremismus die größte Gefahr für die Menschen in diesem Land ist. Denn während rechte Terroristen morden, machen sich Rechtsradikale in den Parlamenten breit und bemühen sich nach Kräften, die Demokratie zu beschädigen. Und teils gelingt ihnen das auch, siehe Thüringen. Was es daher jetzt braucht, ist ein massiver Abwehrkampf gegen die Bedrohung von rechts.
Dazu gehört, dass die Sicherheitsbehörden umdenken und sich noch stärker auf rechte Netzwerke konzentrieren müssen. Dazu gehört, dass die demokratischen Parteien alle Flirts mit der AfD einstellen und sich auf die Verteidigung der Demokratie konzentrieren müssen. Und dazu gehört, dass die Gesellschaft sich unmissverständlich dem Gift des Rassismus entgegenstellen muss. Viel zu lange haben viel zu viele die Gefahr von rechts ignoriert oder kleingeredet. Damit muss jetzt endlich Schluss sein."
- Anschlag in Hanau: Alle Infos im Newsblog
"Süddeutsche Zeitung": "Synagogen und Moscheen müssen besser bewacht werden, solange die Gefährdung so groß ist. Zur Prävention gehört auch, dass vielschüssige Handfeuerwaffen nicht mehr von Privatleuten, auch nicht von Sportschützen, zu Hause aufbewahrt werden dürfen. Das ist kein Generalverdacht gegen Schützen, sondern die nötige Konsequenz aus etlichen Mordtaten. Staatliches Handeln aber reicht nicht aus. Jeder und jede Einzelne steht in der Pflicht.
Das fängt bei schlechten Witzen an und hört bei widerspruchslosem Hinnehmen von Alltagsrassismus nicht auf. Man muss die Dinge klar benennen, zum Beispiel: Wer die AfD wählt, stellt sich selbst in die rechte Ecke, weil er auch die Rechtsextremisten wählt, die es in dieser Partei gibt. Dieses Land und seine Gesellschaftsordnung, seine Menschen, egal ob aus Kaufbeuren, Edirne oder Krakau stammend, sind es wert, dass seine Bürger sie verteidigen – vor allem gegen jene, die mit Wort und manchmal mit Mord die Zeit zurückdrehen wollen."
"Neue Osnabrücker Zeitung": "Das Blutbad von Hanau war ein rechter Anschlag: widerwärtig, abstoßend und für Deutschland beschämend. Aber kam der Terrorakt überraschend? Auch 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz ist die braune Gefahr nicht gebannt. Der Attentäter von Hanau mordete in den Shisha-Bars zwar offenbar allein, aber unter deutschen Dächern wohnen viele Rechtsextremisten, die ihm im Stillen applaudieren.
Der braune Sumpf findet sich aber auch im Bundestag. Solange die AfD sich nicht klar zu Neonazis abgrenzt und Höckes rechtem Flügel abschwört, ist sie Teil des Problems. Sogenannte Wutbürger sollten sich darüber im Klaren sein: Es gibt keine Entschuldigung dafür, geistige Brandstifter und Feinde von Demokratie und Anstand zu wählen. An diesem Tabu darf nicht gerüttelt werden."
"Landeszeitung": "Die zehn Morde von Hanau lassen sich nicht allein psychiatrisch erklären, sondern nur mit Bezug zum gesellschaftlichen Rechtsruck. Der Hanauer Täter wähnte sich wie die von Halle, Kassel oder Christchurch getragen von gleichgesinnten Verschwörungstheoretikern. Vor 100 Jahren war die Stimmung ähnlich. Rechtsterror unterminierte die Weimarer Republik. Auch die Mörder von damals wähnten sich in einer Notwehrhaltung. Hanau belegt nicht, dass sich die Geschichte wiederholt – aber menschliches Verhalten. Ungeist ist ein Wiedergänger."
"Westfälische Nachrichten": "Zwei Schreckensnachrichten liegen übelkeitserregend nah beieinander. Vor wenigen Tagen durchkreuzte die Polizei die perfiden Pläne einer rechten Terrorzelle. Doch die Erleichterung währt nur kurz, weil in Hanau ein Attentäter seine kruden rassistischen Ideen in einen Terrorakt münden lässt. Dies ist nicht nur die abscheuliche Tat eines Wirrkopfes mit mutmaßlich psychischen Problemen. Hier zeigt sich, wie die Ausdehnung des Sagbaren nach und nach Gedanken und Wertegerüste bis zur Menschenverachtung und Selbstüberhöhung mutieren kann."
t-online.de: "Wir dürfen es nicht zulassen, dass unsere Demokratie vergiftet wird. Ein tolerantes, pluralistisches Land, in dem Recht und Gesetz allerorten durchgesetzt werden und niemand Hass und Ausgrenzung erleiden muss: Diese Basis unserer Bürgergesellschaft gilt es jetzt zu verteidigen. Das ist eine Aufgabe für Gesetzgeber, Polizei und Verfassungsschutz, die sich lange auf den islamistischen Terror konzentriert, aber die Gefahr von rechts vernachlässigt haben. (...)
Doch es wäre falsch, diese Aufgabe nur der Politik und den Behörden zu überlassen. Der Einsatz für Toleranz und gegen Böswilligkeit ist eine Aufgabe für jeden einzelnen Bürger. Wenn rechte Scharfmacher Migranten diffamieren, wenn Kollegen am Stammtisch rassistische Sprüche klopfen, wenn Bekannte auf Facebook, WhatsApp und Co. fremdenfeindliche Parolen teilen, dann ist die einzig richtige Reaktion: Widerspruch. Nicht mit mir. Nicht hier."
"Straubinger Tagblatt/Landshuter Zeitung": "Helfen kann eine ehrliche gesellschaftliche Debatte über die Zustände im Land. Eine Diskussion, die schon in der Schule ansetzt und ganz altmodisch wieder Werte und Normen vermittelt. Die beibringt, dass das Fernsehen nicht die Normalität abbildet, wenn Menschen zur besten Sendezeit einfach mal so der Kopf abgeschlagen wird. Die klar macht, dass Beleidigungen und Morddrohungen im Internet kein Kavaliersdelikt sind und die immer wieder aufgreift, warum im Oktober 2015 so viele Flüchtlinge ins Land kamen."
"Frankfurter Allgemeine Zeitung": "Ein Land steht still. In Berlin, Hamburg und vielen anderen deutschen Städten bekunden Bürger und Politiker ihre Erschütterung über den Massenmord von Hanau und ihr Mitgefühl mit den Angehörigen der Opfer. (...) Erinnerungen an Attentate und Amokläufe werden wach, die ebenfalls aus heiterem Himmel gekommen zu sein schienen und Tod und Angst in den Alltag friedlicher Gesellschaften trugen.
Doch die Bluttaten kommen nicht aus dem hellblauen Nichts, sondern aus der Hölle des Hasses, der Verblendung und des Wahns. (...) Es gibt keinen Terrorismus ohne Wahn. Auch Fremdenhass, der am Ende einer Radikalisierungsleiter zur Pistole greift, gehört dazu. Alle, die dieser Leiter mit 'Umvolkungs'-Phantasien und anderer Hetze Sprossen hinzufügen, tragen eine Mitverantwortung, wenn der Wahn zu einer Wahnsinnstat führt."
"Hessische Niedersächsische Allgemeine": "Es ist nicht allein die Hetze im Netz, die bei Menschen wie dem Attentäter von Hanau die letzten Skrupel beseitigt. Es ist auch deren Wahrnehmung eines gesellschaftlichen Klimawandels, die den Einzelgängern am rechten Rand Auftrieb verleiht. Wenn ein Faschist wie Björn Höcke in Thüringen mit seiner AfD-Landtagsfraktion die Wahl eines Ministerpräsidenten beherrschen und AfD-Vorsitzender Jörg Meuthen via Twitter den Anschlag von Hanau relativieren kann, dann sehen sich auch jene zum Handeln aufgerufen, deren Hass auf Ausländer, Juden und Andersdenkende sich bisher nur in Kommentarforen entlud."
- Nachrichtenagenturen dpa, AFP