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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Reportage aus Halle "Meine Mutter saß nur ein paar Meter entfernt"
In Halle tötet ein Rechtsextremer zwei Menschen, verletzt weitere schwer – erst nach Stunden kann die Polizei ihn stoppen. Für die Stadt ist der Horror damit nicht vorbei.
Eine Stadt steht unter Schock: Es ist 12 Uhr, als im Paulusviertel in Halle an der Saale die Welt nicht mehr dieselbe ist. Ein 27 Jahre alter Rechtsextremist fährt in einem VW-Kombi über die Humboldtstraße nahe der Innenstadt. Im Auto: selbstgebaute Sprengsätze, eine Art Schrotflinte, ein Schnellfeuergewehr, eine Pistole, Munition. Seine Tat hält er mit einer Helmkamera in einem Video fest.
An der Synagoge stoppt der Wagen. Der Mann geht zum Tor, es ist verriegelt. Er kommt nicht hinein, hämmert dagegen und versucht es schließlich mit einem Sprengsatz zu öffnen. Eine Frau bemerkt ihn – aber nicht die Waffen, die er bei sich trägt. Sie geht an ihm vorbei, spricht den Mann an. Er schießt ihr in den Rücken. Neben seinem Auto bricht die Frau sofort zusammen. Die Synagoge, in der Dutzende Menschen den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur begehen, bleibt für ihn verschlossen: "Verkackt", schreit der Schütze. "Versager", sagt er zu sich selbst.
Über die Schillerstraße geht seine Fahrt weiter. Ein türkischer Imbiss in der Nähe ist sein nächstes Ziel. Er betritt den Laden. Immer wieder schießt er. "Bitte nicht", wimmert ein Mann, der sich hinter einer Kühltruhe versteckt. Doch der Schütze schießt ihn erbarmungslos nieder, geht aus dem Imbiss. Geht kurz danach wieder hinein. "Der lebt noch", sagt er – und schießt wieder. Einmal, zweimal, dreimal. Dann geht er zurück auf die Straße. Schießt zielloses um sich. Die Polizei ist mittlerweile eingetroffen, zielt auf den Todesschützen, trifft ihn am Hals. Aber der 27-Jährige fährt weiter. Aus Halle hinaus. Erst zwei Stunden nach den ersten Schüssen wird er festgenommen.
Ausnahmezustand in der Stadt
Die Stadt ist im Ausnahmezustand. Sämtliche Straßen, der Hauptbahnhof: gesperrt. Der Nahverkehr: eingestellt. Die Hallenser werden angewiesen, nicht auf die Straßen zu gehen, sich von den Fenstern fernzuhalten. Spekulationen über mehrere Täter, die auf der Flucht sind, machen die Runde. Halb Deutschland, so fühlt es sich an, ist in Alarmbereitschaft. All das löst sich erst am Abend langsam auf.
Nicht aber die gespenstische Stille. Noch immer sind zu diesem Zeitpunkt die Straßen im Paulusviertel von Hunderten Polizeikräften gesperrt. Das Einzige, was man hört, sind Sirenen. Immer wieder. Nur langsam dürfen die Anwohner wieder in ihre Wohnungen.
Erst später am Abend kommen etliche Menschen zum Marktplatz der Stadt, um den Opfern und ihren Angehörigen zu gedenken. An einem Steinquader legen sie Blumen nieder und zünden Kerzen an. In der Marktkirche betet die christliche Gemeinde, um gemeinsam Solidarität für die Opfer auszudrücken.
Den Menschen ist der Schock in die Gesichter geschrieben. Einige wollen Blumen am Tatort niederlegen. Doch die Polizei lässt sie nicht. Denn die Beamten sind noch mit der Spurensicherung beschäftigt. Dort, wo das erste Opfer sein Leben verloren hat.
"Ich will da überhaupt nicht hin"
"Meine Mutter saß im Café, nur ein paar Meter von der Synagoge entfernt", sagt einer der Anwohner. "Ich habe sie stundenlang nicht erreicht. Jetzt weiß ich, dass sie nur Minuten vor den Schüssen gegangen ist." Er greift sich ins Gesicht, ringt sichtlich um Fassung. "Es ist so traurig, dass nun so über Halle berichtet wird". Erst jetzt begreifen die Menschen allmählich, was hier am diesem Tag passiert ist.
Eine andere Frau wohnt genau in der Straße, in der alles seinen Anfang genommen hat. Sie kann auch am Abend nicht in ihre Wohnung. "Ich will da aber auch nicht hin", sagt sie. Stattdessen sucht sie Zuflucht bei einer Freundin.
Das eigentliche Ziel des Schützen, die Feiernden in der Synagoge, dürfen am Abend wieder nach draußen. Der Gemeindevorsitzende berichtet: "Wir haben zuerst Schüsse gehört." Ein Sicherheitsmann und er hätten dann über den Monitor einer Kamera gesehen, wie jemand, der wie ein Soldat einer Spezialeinheit gekleidet gewesen sei, jemanden erschossen habe. Danach habe er auf die Tür geschossen. Die Leute hätten sich in der Synagoge mit Möbeln und anderen Dingen verbarrikadiert. Gott sei Dank habe der Schütze keinen Weg in das Gotteshaus gefunden.
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Als die Synagoge sich am Abend leert, die verängstigten Menschen nach Hause dürfen, hat die Polizei den Tatverdächtigen bereits festgenommen. Seine Bluttat war zu Ende. Der Schrecken für die Menschen in Halle dauert an.
- Eigene Recherche
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa