Kolumne "Zwischentöne" Die syrische Tragödie
Syrien kennt heute jeder, immerhin gibt es fast täglich neue Schreckensnachrichten von dort. Allerdings ist das Land eigentlich ein ganz anderes.
Heute ist für mich ein bewegender Tag. Ein Tag an dem Kummer und Leid, Glück und Freude, Melancholie und Hoffnung in einem Punkt kulminieren. Ein Herzensprojekt ist vollbracht: An diesem Freitag erscheint ein Bildband über Syrien im Handel von meinem guten Freund, dem Fotografen Lutz Jäkel, und mir herausgegeben. Es ist ein Buch, von dem ich nie dachte, dass es das mal geben wird.
Syrien ist die Heimat meiner Eltern. Für mich steht dieses Land sowohl für glückliche Ferientage unter Feigen- und Olivenbäumen, als auch für schauderhafte Kriegserlebnisse, die selbst in Deutschland ganz nah an mich herangekommen sind. Mein Vater wurde 2015 zum „Kollateralschaden“, als er von Geschosssplittern eines Kampfjets der US-geführten Anti-Terror-Allianz getroffen wurde und ein Bein verlor.
Die meisten Menschen weltweit verbinden mit Syrien nur noch Krieg, Tod und Brutalität. Folterkeller des Regimes und IS-Terroristen, die Menschen in orangenen Overalls die Köpfe abschneiden. Flucht und Vertreibung. Trauer und Elend. Doch das allein ist nicht mein Syrien, wo einst die Hetither weilten, Alexander der Große seine Spuren hinterließ, die Römer herrschten, Saulus zum Paulus wurde und Mohammed sich geweigert haben soll, Damaskus zu betreten mit den Worten, man dürfe nur einmal ins Paradies.
Ich war sechs Jahre alt, als ich das erste Mal mit meiner Familie nach Syrien gereist bin. Im westfälischen Ahlen kennt man ländliche Gegenden, Gestüte, viel Natur und provinzielle Ordnung. Meine Heimat eben. Ich fragte mich damals schon oft, wie es wohl in der meiner Eltern aussehen würde. Sie hatten mir zwar davon erzählt, aber was bedeutet das schon?
Syrien empfing mich mit einem kleinen Schock. Dutzende Menschen stürmten auf mich ein, die alle zu meiner Familie gehören sollten. Ich wurde von mir gänzlich fremden Personen umarmt, geküsst, geherzt. Alles war anders in Syrien. Selbst die Luft roch anders. Die Schönheit Syriens und die Schönheit Deutschlands - von da an sollten mich beide Welten prägen.
Ich erinnere mich gut an frühere Zeiten, in denen ich noch umständlich erklären musste, wo Syrien überhaupt liegt. Welche Sprache dort gesprochen wird. Was für Menschen dort leben. Plötzlich ist Syrien zwar in aller Munde, aber wird nur mit Horror assoziiert. Das schmerzt.
In meiner Arbeit als Wissenschaftlerin, Pädagogin und Autorin habe ich mich lange Zeit von diesem Thema ferngehalten. Syrien war nicht mein Fachgebiet. Syrien war mein Privatleben. Als „Berufsmuslima“ hab ich zudem mit genug Kontroversen zu tun. Kurz, ich hatte nie vor, zu Syrien etwas zu publizieren.
Als mich Lutz Jäkel eines Abends anrief und vorschlug, ein Buch mit Bildern aus der Zeit vor dem Krieg zu machen, war ich zunächst skeptisch… bis ich mir seine atemberaubenden und Geschichten erzählenden Fotos noch einmal in Ruhe ansah. Mit einem einfühlenden Blick für Land und Leute und einem Gespür für den richtigen Moment hatte er dieses kulturell und menschlich so reiche Land fantastisch eingefangen.
Ab da war es mir auch ein persönliches Anliegen, mit der lieben Unterstützung vieler bekannter und weniger bekannter Syrer, Deutschsyrer und deutscher Syrienkenner ein anderes Bild vom Land meiner Eltern zu vermitteln. Eines ohne Krieg. Ein Aufmunterndes. Ich will keinen Abgesang auf Syrien. Ich will daran erinnern, dass Syrien mehr ist, als der Ort einer der größten Tragödien nach dem Zweiten Weltkrieg, und dass dieses Land immer noch existiert und hoffentlich bald wieder erblühen wird.
So lange denke ich jedoch bedrückt an die Vergangenheit und halte unseren Bildband schweren Herzens in Händen - so wie Mitte dieser Woche. Lutz Jäkel und ich hatten eine ergreifende Buchpremiere im Rahmen der Frankfurter Buchmesse in der Deutschen Nationalbibliothek. Wir präsentierten das Werk mit Reden, einer Live-Reportage und Diskussionen.
Nach der fast zweistündigen Veranstaltung kam ein älterer Herr zu mir, der einen syrischen Mann bei sich aufgenommen hat. Dieser stellte sich mir auf Arabisch vor und bedankte sich von Herzen dafür, dass wir Syrien thematisieren und das Land in guten wie in schlechten Zeit zeigen.
Sein Gastvater erzählte mir, dass er auf der Flucht seine Frau und seine beiden Kinder verloren habe. Langsam gehe es ihm wieder besser. Die Geschichte war schwer zu ertragen. Ich wandte mich zu ihm, sagte ihm, wie leid mir das tue, was seiner Familie passiert sei. Ich wünschte ihm, er möge hier bald wieder zu Kräften kommen. Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln. Ich fühlte mich ohnmächtig und etwas beschämt, ich hatte ja gut Reden.
Lassen Sie uns Syrien und seine tragischen Helden bitte nicht vergessen!
Lutz Jäkel, Lamya Kaddor - Syrien. Ein Land ohne Krieg. Verlag: Malik. 2017, 200 Seiten, 45 Euro.