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Verfassungsschutz: Trend zur Radikalisierung an den Rändern


Radikalisierung
Verfassungsschutz: Trend zur Radikalisierung an den Rändern

Von dpa
Aktualisiert am 18.06.2024Lesedauer: 4 Min.
Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2023Vergrößern des Bildes
Der Verfassungsschutz hat im vergangenen Jahr einen Zuwachs sowohl im Linksextremismus als auch im Rechtsextremismus festgestellt. (Quelle: Kay Nietfeld/dpa/dpa-bilder)
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An den Rändern radikalisiert sich nach Einschätzung des Verfassungsschutzes der Protest. Gleichzeitig suchen und finden Radikale Anschluss in der Mitte. Ein Einblick in den Verfassungsschutzbericht.

Spionage, islamistische Terroristen und gewaltbereite Extremisten aus dem rechten und linken Spektrum bedrohen Sicherheit und Demokratie in Deutschland nach Einschätzung des Verfassungsschutzes aktuell in hohem Maße.

Er habe zur Sicherheitslage in Deutschland "nicht viel Positives zu berichten", räumt der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Thomas Haldenwang, bei der Vorstellung des aktuellen Jahresberichts seiner Behörde ein. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagt: "Wir müssen unsere Demokratie aktiv verteidigen."

Insgesamt hat der Verfassungsschutz im vergangenen Jahr einen Zuwachs sowohl im Linksextremismus als auch im Rechtsextremismus festgestellt. Dem Bericht zufolge stieg die Zahl derjenigen, die dem linksextremistischen Spektrum zugerechnet werden, um rund 500 Menschen auf rund 37.000 Menschen an. Rund 11.200 Linksextremisten galten im vergangenen Jahr als gewaltbereit. Das waren 3,7 Prozent mehr als im Jahr zuvor.

Ähnlich verlief die Entwicklung im rechtsextremistischen Spektrum. Der Verfassungsschutz schätzt 14.500 von insgesamt rund 40.600 Rechtsextremisten als gewaltbereit ein (2022: 14.000 bzw. 38.800). Den Parteien Heimat (vormals NPD) und Die Rechte rechnet der Nachrichtendienst inzwischen weniger Mitglieder zu als noch vor Jahresfrist.

Verlag der Neuen Rechten gilt jetzt als erwiesen extremistisch

Der neurechte Antaios-Verlag von Götz Kubitschek wird laut Haldenwang seit Anfang Juni nicht mehr als Verdachtsfall, sondern als gesichert rechtsextremistische Bestrebung beobachtet. Je höher die Einstufung, desto intensiver sei auch der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel, erklärt der BfV-Chef und fügt hinzu, "alles natürlich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit". Es handele sich um einen Verlag, der Publikationen mit rassistischen, völkischen, teilweise auch antisemitischen, geschichtsrevisionistischen Inhalten verbreite.

Neues Gutachten zur AfD soll bald kommen

Die AfD wird vom Verfassungsschutz aktuell als Verdachtsfall beobachtet. Aus den Reihen der AfD und ihrer Nachwuchsorganisation, Junge Alternative (JA), rechnet das Bundesamt inzwischen 11.300 Mitglieder dem rechtsextremistischen Personenpotenzial zu, wobei Doppelmitgliedschaften in Partei und JA abgezogen sind.

Im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2022 waren rund 10.200 AfD-Mitglieder und JA-Angehörige aufgeführt worden. Um das extremistische Potenzial innerhalb der AfD einzuschätzen, hatte sich der Verfassungsschutz damals auf die Wahl- und Abstimmungsergebnisse beim Bundesparteitag 2022 in Riesa sowie auf Äußerungen von Parteifunktionären berufen.

Im aktuellen Bericht heißt es: "Es besteht weiterhin eine - wenn auch signifikant abnehmende - Heterogenität innerhalb der Partei, sodass nicht alle Parteimitglieder als Anhänger extremistischer Strömungen betrachtet werden können."

Die AfD hat seit 2022 nach eigenen Angaben netto Mitglieder dazugewonnen. Wann der Verfassungsschutz über ein aktuelles Gutachten zur AfD berichtet, das derzeit erstellt wird, ist noch offen. "Wir wollen uns keine Zeit damit lassen", sagt Haldenwang. In jedem Fall werde das Bundesamt erst abwarten, was das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht in seinen schriftlichen Urteilsgründen ausführt. Das Gericht hatte am 13. Mai in einem Berufungsverfahren die Verdachtsfall-Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz für rechtens erklärt.

Neuer linksextremistischer Verdachtsfall

Die radikale Klimaschutz-Bewegung "Ende Gelände" hat der Verfassungsschutz neu als linksextremistischen Verdachtsfall eingestuft. Damit kann der Inlandsgeheimdienst zur Beurteilung der Aktivitäten dieser Gruppe nun auch nachrichtendienstliche Mittel nutzen, wie etwa Observation oder das Einholen von Auskünften über Informanten (V-Leute) aus der Szene. Im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2023 ist von einer "Verschärfung von Aktionsformen bis hin zur Sabotage" die Rede.

Grundsatzpapiere von "Ende Gelände" lassen nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz zudem "deutlich eine Radikalisierung im Hinblick auf die vorherrschenden ideologischen Positionen der Gruppierung erkennen". Im April hatten rund 100 Aktivisten der Gruppe in Gelsenkirchen das Uniper-Steinkohlekraftwerk Scholven blockiert.

"Ende Gelände" ist laut Verfassungsschutz in 70 Ortsgruppen organisiert. Mit Ausnahme des Saarlandes soll es inzwischen in allen Bundesländern Ableger geben. Auf die Frage eines Journalisten, was die Verdachtsfall-Einstufung für Kontakte der Grünen Jugend und der Jusos bedeute, antwortet Faeser, "dass ich den Jugendorganisationen empfehle, die Zusammenarbeit zu beenden".

Bedrohung durch islamistische Terrororganisationen

Das islamistische Personenpotenzial bewegt sich mit 27.200 Personen weiter auf hohem Niveau. Die größte Bedrohung in diesem Spektrum geht laut BfV derzeit von der Gruppe Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISPK) aus. Der ISPK hat seinen Ursprung in Afghanistan, seine Anhängerschaft stammt laut Verfassungsschutz überwiegend aus Zentralasien. Der ISPK habe es geschafft, sehr viele Anhänger und Mitstreiter hinter sich zu scharen, sagt Haldenwang. Die Gruppe rufe dazu auf, "große Anschläge" zu begehen.

Und noch eine schlechte Nachricht hat er mitgebracht: "Es ist dem ISPK auch gelungen, möglicherweise über die Flüchtlingswelle aus der Ukraine, Anhänger nach Westeuropa zu bringen, die sich jetzt also hier in verschiedenen Ländern Westeuropas aufhalten." Die Nachrichtendienste der betroffenen Staaten seien aber in der Lage, "große Vorbereitungshandlungen" wie etwa das Beschaffen von Waffen, mitzubekommen.

Faeser verweist auf mehrere Festnahmen der vergangenen Monate, durch die mögliche Anschläge verhindert worden seien, sowie auf Bemühungen ihres Ministeriums, islamistische Gefährder wieder nach Syrien und Afghanistan abschieben zu können. Was Afghanistan betrifft, gibt es dazu inzwischen Kontakte zu den Behörden in Usbekistan. Auch für Syrien gelte, "wir reden mit Nachbarländern", sagt die Ministerin, die dazu diese Woche bei der Innenministerkonferenz von Bund und Ländern in Potsdam sicher viele Fragen beantworten muss.

Angesichts der aktuellen Bedrohungslage bräuchte es eine "aktive, zupackende Innenministerin", sagte die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Andrea Lindholz. Die CDU-Politikerin forderte Faeser auf, das Islamische Zentrum Hamburg zu verbieten.

Haldenwang: Meinungsfreiheit hat Grenzen

Obgleich die Meinungsfreiheit in Deutschland ein hohes Gut sei, müsse sich der Verfassungsschutz teilweise auch um die Aufklärung von Bestrebungen auch unterhalb der Schwelle des Strafrechts kümmern, sagt Haldenwang. Als Beispiel führt er die jüngsten Kundgebungen von Islamisten in Hamburg an, bei denen das Kalifat als erstrebenswerte Herrschaftsform gepriesen wurde.

Ein ganzes Kapitel des mehr als 400 Seiten starken Berichts trägt den Titel "Auswirkungen des Nahostkonflikts und Antisemitismus". Dass die Bedrohung von Jüdinnen und Juden gewachsen sei, nennt Haldenwang "unerträglich". Faeser betont, die Sicherheitsbehörden gingen "aktiv gegen jede Art von antiisraelischer und antisemitischer Hetze vor".

Verwendete Quellen
  • Nachrichtenagentur dpa
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