Gesellschaft Lauterbach: Zahl Pflegebedürftiger steigt "explosionsartig"
Schon heute fehlen Pflegekräfte - und die Prognosen zum künftigen Pflegebedarf erschrecken. Doch nun sind die Zahlen noch dramatischer als gedacht. Abhilfe ist nicht in Sicht.
Trotz eines massiven Anstiegs bei den Pflegebedürftigen sieht Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) keine Chance mehr auf eine Pflegereform in dieser Wahlperiode. Im vergangenen Jahr kamen rund 35.000 Pflegebedürftige mehr als in den Vorjahren üblich dazu, wie der Spitzenverband der Krankenkassen in Berlin mitteilte. Somit stieg deren Zahl auf nun 361.000.
Lauterbach sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND): "Demografisch bedingt wäre 2023 nur mit einem Zuwachs von rund 50.000 Personen zu rechnen gewesen." Bei dieser Berechnung wurde davon ausgegangen, dass die Wahrscheinlichkeit von Pflegebedürftigkeit in jeder Altersgruppe konstant bliebe, wie der Kassenverband erläuterte. Tatsächlich steige aber die Zahl der Pflegebedürftigen seit 2017 jedes Jahr im Durchschnitt um rund 326.000, so der Kassenverband. Damals wurden Menschen mit Demenz in neuen Pflegegraden in die Versicherung aufgenommen.
Keine Reform mehr vor der nächsten Wahl
Lauterbach sagte: "In den letzten Jahren ist die Zahl der Pflegebedürftigen geradezu explosionsartig gestiegen." Er gehe von einem Sandwicheffekt aus. "Zu den sehr alten, pflegebedürftigen Menschen kommen die ersten Babyboomer, die nun ebenfalls pflegebedürftig werden." Die Babyboomer und deren Eltern seien gleichzeitig auf Pflege angewiesen.
Trotz des "akuten Problems" in der Pflegeversicherung werde eine umfassende Finanzreform in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich nicht mehr zu schaffen sein, räumte Lauterbach ein. Eine interministerielle Arbeitsgruppe zu dem Thema soll laut Gesundheitsministerium ihre Beratungen Ende Mai beenden. Sie werde aber "wohl kaum zu einer einheitlichen Empfehlung" kommen, so der Minister. Der Grund dafür seien die unterschiedlichen Ansichten der Ampel-Partner. Lösungsmöglichkeiten dienten dann als Grundlage für eine große Reform in der nächsten Wahlperiode. "Dann muss sie aber auch kommen."
"Hiobsbotschaft für Pflegebedürftige und Angehörige"
Lauterbachs Äußerungen rief heftige Reaktionen hervor. So sprach die Präsidentin des Sozialverband VdK, Verena Bentele, von einer Hiobsbotschaft für viele Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. "Wir als VdK fordern die Politik dringend auf, noch in dieser Legislaturperiode zu handeln", sagte Bentele der Deutschen Presse-Agentur. DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel sagte: "Statt dringend notwendige Reformen weiter auf den Sankt Nimmerleinstag zu verschieben, muss der Gesundheitsminister endlich handeln."
Die Sozialvorständin der Diakonie Deutschland, Maria Loheide, forderte: "Wenn die Pflege vor dem Kollaps bewahrt werden soll, muss die Politik schnell umsteuern." Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, warf Lauterbach vor, von eigenem Versagen abzulenken. Grünen-Fraktionsvize Maria Klein-Schmeink versicherte: "Unser Ziel bleibt es, dass Pflege gerecht und verlässlich finanziert wird, und das so schnell wie möglich."
Leistungsniveau nicht zu halten
Das Leistungsniveau der Pflegeversicherung kann nach Einschätzung von Lauterbach mit dem jetzigen Beitragssystem allein nicht erhalten werden, wie er deutlich machte. Laut bisherigen Prognosen erhöht sich die Zahl der Pflegebedürftigen binnen 15 Jahren von heute rund fünf auf sechs Millionen, ein besonders starker Anstieg ist aufgrund der Demografie etwa in Bayern und Baden-Württemberg zu erwarten. Zwischen 280.000 und 690.000 Pflegekräfte werden laut Statistischem Bundesamt bis 2049 bundesweit fehlen.
Der Verband der Ersatzkassen (vdek) warf der Regierung vor, nur kurzfristig Finanzierungslöcher zu stopfen. Zum vergangenen Juli hatte die Koalition eine Beitragserhöhung für Kinderlose auf 4 Prozent und für Beitragszahler mit einem Kind auf 3,4 Prozent beschlossen. Die Betriebskrankenkassen schlugen Anfang Mai mit Hochrechnungen Alarm, nach denen der Pflegeversicherung 2024 ein Defizit von einer Milliarde Euro droht - und für 2025 von 4,4 Milliarden. Diakonie-Expertin Loheide hatte bereits zum Tag der Pflegenden im Mai gemahnt: "Wenn das Geld der Pflegeversicherung nicht mehr ausreicht, ist die Versorgung der pflegebedürftigen Menschen gefährdet." Kassen und Kommunen ignorierten bereits oft den Anstieg der Personalkosten.
Union: Bankrotterklärung Lauterbachs
Eine Bankrotterklärung - so der Vorwurf der Union an Lauterbach und die Regierung. "Das ist für die Ampel ein Scheitern mit Ansage", sagte CDU-Gesundheitsexperte Tino Sorge. "Wenn die Koalitionäre keine Lösungen mehr finden, weil ihre Ansichten zu weit auseinander liegen, dann sollten sie den Gestaltungsanspruch im Gesundheitsbereich aufgeben." Bayerns CSU-Fraktionschef und Ex-Gesundheitsminister Klaus Holetschek sagte: "Die geplante große Pflegeform in der nächsten Wahlperiode kommt viel zu spät." Holetschek forderte eine Lohnersatzleistung wie beim Elterngeld für pflegende Angehörige.
Die Angehörigen gelten seit Langem als "der größte Pflegedienst Deutschlands". Doch viele Familien seien seelisch, körperlich und finanziell am Ende, mahnte die Stiftung Patientenschutz. "Damit die Bundesregierung unmittelbar helfen kann, muss das Pflegegeld sofort und pauschal um 300 Euro erhöht werden", forderte Brysch.
Pflegepersonal fehlt
Laut einer Befragung des Evangelischen Verbands für Altenarbeit und Pflege vom Februar müssen vier von fünf Pflegeeinrichtungen ihr Angebot einschränken, weil Personal fehlt. Neun von zehn ambulanten Dienste lehnten 2023 Neukunden ab. Die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg führt Pflegekräfte an der ersten Position unter allen Engpass-Berufen. Dabei waren vergangenes Jahr 10.000 Beschäftigte mehr als im Vorjahr in der Kranken-, Alten- und Kinderkrankenpflege im Job - knapp 1,7 Millionen. 82 Prozent aller Pflegekräfte sind Frauen. Mehr als jede Zweite arbeitet in Teilzeit.
Die Pflege im Heim wird unterdessen immer teurer. Die Zuzahlungen für Pflegebedürftige stiegen trotz Entlastungszuschlägen zum 1. Januar im Bundesschnitt auf 2576 Euro pro Monat - 165 Euro mehr als Anfang 2023. Lauterbach hatte bereits bisher deutlich gemacht, dass er die reine Beitragsfinanzierung der Pflegeversicherung vor dem möglichen Ende sieht. Langfristig komme man um Steuermittel hierfür nicht herum, sagte er im April auf der Altenpflegemesse in Essen.
- Nachrichtenagentur dpa