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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Diskussion mit Impfskeptikern Steinmeiers Debatte zeigt ein großes Problem auf
Ohne Debatte keine Demokratie – das bekräftigte Bundespräsident Steinmeier vor seiner Diskussionsrunde mit Bürgern. Doch der Dialog mit Fachkräften, Experten und Impfskeptikern verlor den Fokus.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat im Schloss Bellevue mit Bürgerinnen und Bürgern über eine Impfpflicht diskutiert. Er selbst wolle sich als Bundespräsident in dieser Runde nicht für oder gegen eine Impfpflicht positionieren, sagte er in seiner Eröffnungsrede. Das gebiete schon der Respekt vor dem politischen Prozess. "Mir geht es um die 'Debatte' in der Impfpflichtdebatte." Es gebe auch in Krisenzeiten keine Demokratie ohne Debatte.
Doch die Diskussion verlor über ihren Verlauf den Fokus. Während zunächst das Für und Wider debattiert wurde, ging es schließlich immer mehr um die Sicherheit der Impfstoffe – die große Frage, ob Deutschland eine Impfpflicht brauche, trat in den Hintergrund. Und sie zeigte auch, weshalb die Diskussion über Impfungen so schwierig ist.
Eingeladen waren sowohl Experten von Universitäten als auch Fachkräfte aus Krankenhäusern und Schulen. Dabei hatten zwei der Teilnehmer deutliche Vorbehalte gegen die Impfpflicht.
Debatten-Teilnehmer: Impfstoff wie die Bremse im Auto
Lehrerin Gudrun Gessert etwa wurde von Bundespräsident Steinmeier als eine Person angekündigt, die starke Vorbehalte gegen eine Impfpflicht habe. Gessert plädierte dafür, die Unterscheidung zwischen Geimpften und Ungeimpften zu beenden. Sie selbst wollte nicht sagen, ob sie geimpft sei. "Ich bin sehr bereit, mich impfen zu lassen, wenn klar ist, dass ich damit mich und meine Mitmenschen schütze", sagte sie. Sie sei aber nicht zu einer Dauerschleifen-Situation bereit. Sie kritisierte, dass es nach der vollständigen Impfung noch eine Booster-Impfung brauche. Psychologin Cornelia Betsch entgegnete, dass die Impfung gute Ergebnisse zeige, wenn es darum geht, Hospitalisierungen und schwere Verläufe zu vermeiden.
Auch Oliver Foeth, Mitarbeiter in einem Speditionsunternehmen, kritisierte die Impfpflicht. Die Entscheidung müsse frei sein. Er halte es für unmoralisch, den Menschen eine Impfpflicht aufzuerlegen. Er bezeichnete die Wirkung der Impfstoffe wie Gessert als zweifelhaft. Auch Geimpfte können das Virus weiterverbreiten, sagte Foeth.
Steinmeier versuchte, den Vorbehalten der Impfskeptiker vor allem mit Verweis auf wissenschaftliche Erkenntnisse entgegenzutreten – ebenso gingen die eingeladenen Expertinnen und Experten vor. Der Teilnehmer Kai Nagel, Modellierer an der TU Berlin, sagte dazu, dass die Weitergabe der Delta-Variante von Geimpften sehr eingeschränkt war. Er verglich es mit Bremsen in einem Auto: Sie können einen schweren Unfall verhindern, bieten aber keine hundertprozentige Sicherheit.
Bundespräsident: Nebenwirkung auch in Relation sehen
Steinmeier entgegnete, die gemeldeten Nebenwirkungen müssten stets in Relation zu den mehr als 155 Millionen verabreichten Impfdosen in Deutschland gesetzt werden. Die Impfstoffe seien von der Ema hinlänglich geprüft worden, sagte der Bundespräsident. Das gelte auch für die Trägerstoffe, die Gessert kritisierte.
Debatten-Teilnehmerin Cornelia Betsch ist Professorin für Gesundheitskommunikation der Universität Erfurt. Sie betonte, dass alle Nebenwirkungen bekannt seien und sehr akribisch verfolgt werden. Das gebe ihr eher eine Sicherheit.
Steinmeier mahnte, die Impfpflicht-Debatte immer "mit Respekt vor Fakten und Vernunft" zu führen. Lehrerin Gudrun Gessert hielt allerdings dagegen. Mehrmals sagte sie: "Ich muss Ihnen leider widersprechen, Herr Bundespräsident."
Betsch: Brauchen Faktencheck über Debatte
In einigen Teilen rückte die Debatte schließlich von der Realität ab. Etwa als darüber diskutiert wurde, ob die Impfstoffe in Deutschland eine Notfallzulassung hätten. Das behauptete Gessert. Tatsächlich aber haben die Impfstoffe eine bedingte Zulassung, also eine ordentliche Zulassung, die an bestimmte Auflagen geknüpft ist, wie in der Runde richtiggestellt wurde.
Betsch forderte später eine Überprüfung vermeintlicher Fakten zur Impfung, die in der Runde geteilt wurden. Sie kritisierte, die Debatte verliefe sich in eine kleinteilige Betrachtung medizinischer Aspekte, von denen keiner der Anwesenden über das nötige Fachwissen verfüge.
Krankenschwester: 97 Prozent der Belegschaft geimpft
Eine Pflegerin und ein Lehrer betonten zudem die Notwendigkeit der Impfungen in ihrem Arbeitsalltag. Ellen Schaperdoth, Krankenschwester am Universitätsklinikum in Köln, berichtete, dass 97 Prozent der Belegschaft doppelt geimpft sei, mehr als 70 Prozent sogar geboostert – ein Wert weit über dem Bundesdurchschnitt. Geimpft zu sein habe für sie eine unglaublich wichtige Bedeutung, für ihren Arbeitsalltag, aber auch für das Gefühl, ihre Familie schützen zu wollen, sagte Schaperdoth.
Die Impfungen seien eine wichtige Voraussetzung für den Präsenzunterricht, sah es der Lehrer Sven Winter. Er beobachte auch, dass immer mehr Schüler sich impfen lassen. Auch in seinem Kollegium gebe es eine relativ hohe Impfquote, so Winter. Wie Schaperdoth widersprach er der Annahme von Gessert, viele würden wegen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht ihren Beruf an den Nagel hängen. Die Leute gehen wegen der Überbelastung, sagte Schaperdoth dazu.
Eingeladen wurden Menschen, die sich schriftlich an den Bundespräsidenten gewandt und darin erklärt hatten, warum sie eine allgemeine Impfpflicht ablehnen beziehungsweise befürworten. Auch Bürgerinnen und Bürger, die in ihren Berufen in der Pandemie besonders gefordert sind, etwa aus dem Gesundheits- und dem Bildungsbereich, zählten zu den Gästen.
In seiner ersten Amtszeit hat Steinmeier mehrmals Bürgerdialoge in kleiner Runde abgehalten, zu denen Menschen mit kontroversen Ansichten eingeladen waren.
- Diskussionsrunde von Frank-Walter Steinmeier
- Mit Material der Nachrichtenagentur AFP