Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Das Problem mit deutscher Weihnacht Warum der Christstollen so seine Tücken hat
Weihnachten ist das Fest der Liebe – und der Völlerei. Letzteres kann auch schon mal ausarten. Erst recht, wenn man der Deutschen liebste Wonne nicht teilt: die Gemütlichkeit. Das meint Wladimir Kaminer.
In Deutschland hat die "Gemütlichkeit" einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Sie wird als Tugend und große Errungenschaft einer stabilen, die Menschen veredelnden Demokratie gepriesen. Ich kann mit Gemütlichkeit nichts anfangen. Ob die sozialistisch-atheistische Erziehung daran schuld ist und die damit verbundene Frühreife, die uns schnell aus dem Elternhaus vertrieb? Der Gedanke der Gemütlichkeit ist meinem Familienkreis jedenfalls fremd geblieben.
Händchen haltend um die Weihnachtskrippe herumsitzen und fette Vögel essen, alle zusammen und zur gleichen Zeit? Nein, danke! Stattdessen schmücken wir einen Tannenbaum mit Lametta und versuchen, ganz nostalgisch Russisch zu kochen: Pelmenis, Blinis, Hering im Mantel und gefüllte Paprika mit Schuss.
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Büchern gehört "Russendisko". Kürzlich erschien sein neuestes Buch "Die Wellenreiter. Geschichten aus dem neuen Deutschland".
Die russische Küche ist kompliziert im Zubereiten und extrem schwierig im Aufessen. Das hat Gründe. Jede Volksküche ist tief in der Geschichte des Landes verankert, mit seiner Geografie und mit dem Klima gut gewürzt. Die Italiener, die Sonntagskinder Europas, wollen zum Beispiel mit minimaler Anstrengung eine maximale Anzahl von Freunden glücklich machen, deswegen kochen sie Nudeln.
Die Japaner sind vom Wasser umgeben, die Feuchtigkeit sitzt ihnen in den Knochen, das Holz ist immer nass, es kostet also große Mühe, jedes Mal fürs Kochen Feuer zu machen, deswegen machen sie Sushi. Die russische Küche hat da eine ganz andere Ausgangssituation: Man stelle sich eine große Armee vor, die sich auf ihre letzte entscheidende Schlacht vorbereitet. Die Soldaten prüfen ihre Gewehre, die Generäle ihre Karten. Sie wissen, viele von ihnen werden aus der Schlacht nicht zurückkommen. Bevor sie aber in den Tod losziehen, müssen sie das letzte Mal vollgefüttert werden, bis sie nicht mehr laufen können.
Ich gebe zu, da liegt ein Widerspruch in der Sache. Wie sollen die Menschen mit vollem Magen kämpfen? Die übertrieben üppige Mahlzeit mindert eigentlich die Wehrhaftigkeit jeder Armee. Nun sind alle Küchen der Welt voller Widersprüche, warum soll da die russische eine Ausnahme sein?
Ein typisches Gericht dieser Küche wird wie folgt gemacht: Zuerst wird quer durchs Regal eingekauft, das Eingekaufte auf dem Küchentisch ausgebreitet und klein geschnitten. Gemüse auf meiner Frühstückszeitung, Fleisch auf dem Holzbrett. Das Ganze in die Pfanne geworfen, mit Zwiebel und Speck kurz angebraten, gewürzt und in einem großen Topf auf kleiner Flamme zwei Stunden lang geschmort. Je nach Konsistenz kann das fertige Gericht eine Suppe, ein Gulasch, ein Chili con Carne oder sogar Ratatouille heißen. In Berlin wird man von der russischen Küche schnell müde.
Wir haben keinen Krieg, in Friedenszeiten möchte man etwas Leichtes, Fruchtiges, Europäisches essen, zum Beispiel einen Salat. Meine beiden Kinder haben einen sehr unterschiedlichen Geschmack, sie können sich nicht einmal einen Salat normal teilen. Der Junge mag nur Tomaten, das Mädchen nur Gurken, am besten aber solche, die tomatig schmecken.
Was ist denn europäisch?
Also löffeln sie aus jedem Salat ihr Lieblingsgemüse heraus. Die Kinder hatten die Idee für ein deutsches Essen ins Haus gebracht. "Könntest Du, Mama, zu Weihnachten ausnahmsweise etwas Europäisches kochen?", fragten sie. Meine Frau ist flexibel, sie sagte: "In Ordnung. Ich kann auf meine Kochtraditionen verzichten und ein typisch deutsches Gericht für Euch machen."
Sie recherchierte im Netz, was die Deutschen am liebsten zu Weihnachten kochen, das Internet war mit Stollen-Rezepten voll. Die Deutschen drehen bekanntlich durch mit ihrem Stollen, es gib mehr patentierte Rezepte als Bundesbürger und jeder Sachse glaubt, der Dresdner Stollen sei seiner Oma persönlich gestohlen worden. Meine Frau fischte schnell das üppigste Rezept heraus, ging einkaufen und breitete auf dem Küchentisch die Zutaten aus.
Dazu gehörten Mehl, Zucker, Eier, Butter, kandierte Orangen- und Zitronenschalen, helle und dunkle Rosinen, Zuckerkirschen und Preiselbeeren. Dazu kamen süße Mandeln, Macadamia und Walnüsse. Sie goss 100 Gramm guten Cognac in eine Schale, legte die gezuckerten Früchte und die Nüsse für eine Stunde hinein, so stand es im Rezept. Und ging dann die russische Serie "Die Monster der Revolution" zu Ende gucken.
Die Tochter kam in die Küche, sah die Rosinen und die kandierten Früchte und pickte sie aus der Schale heraus. Der Sohn kam, sah die Nüsse und aß sie sofort auf. Ich ging ebenfalls in die Küche, die Schale mit Cognac wirkte sehr einladend. Ich schaute auf die Uhr, es war viertel nach sechs, also genehmigte ich mir einen guten Schluck.
Nachspiel mit den Katzen
Um sieben Uhr waren "Die Monster der Revolution" zu Ende. Meine Frau kam in die Küche, schaute sich den Stollen an, trank den Rest des Cognacs aus, legte die Eier und die Butter zurück in den Kühlschrank, Mehl und Zucker in die Schublade. Und? Hat Euch mein Stollen gefallen? fragte sie uns abends.
"Es war der beste Stollen unseres Lebens!", sagten wir unisono. Schon lange nicht so viel Spaß am Weihnachtsessen gehabt, bitte mehr davon und am besten das ganze Jahr über, nicht nur zu Weihnachten. Wir tranken die Alkoholreserven aus, tanzten, sangen bei Kerzenlicht die sowjetischen Schlager unserer Jugend und schon war das Jahr um.
Der Weihnachtsbaum stand noch zehn Tage neben dem Buchregal und das Katzenklo glitzerte und blinkte noch lange im elektrischen Licht, weil die Katzen das aufgefressene Lametta wieder auskackten.
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