Hohe Inzidenzen Warum ist die Impfskepsis in Bayern so hoch?
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder fährt einen harten Coronakurs. Doch die Impfquote ist dort besonders niedrig, die Inzidenzen deswegen hoch. Experten nennen Gründe.
Die Alpen glühen dieser Tage in knalligem Pink und Violett auf der Corona-Übersichtskarte. Im Süden Bayerns hatten Stand Freitag nach Angaben des Robert Koch-Instituts acht Landkreise die Tausender-Marke bei der Zahl der gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen gerissen, die Werte der anderen Kommunen am Alpenrand lagen teils weit über 500.
Das liegt aus Sicht der Staatsregierung vor allem daran, dass sich dort bisher deutlich weniger Menschen gegen Corona impfen lassen als im Norden des Freistaats und der Republik. Doch woran liegt das?
Verschwörungsmythen weit verbreitet
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) nannte jüngst im Interview mit "Bild Live" unter anderem "höhere Querdenker- und Reichsbürgerzahlen" als Ursache.
Diese These stützt der Religionswissenschaftler Michael Blume: "Im Alpenraum hat sich eine einzigartige Tradition der kleinteiligen, sprachlichen Autonomie entwickelt", sagt der Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg. "Dies bedeutet positiv ein besonders starkes Engagement für Demokratie und Föderalismus. Leider kippt es jedoch auch immer wieder in Verschwörungsmythen und Antisemitismus."
Viele Anhänger alternativer Medizin
Impfverweigerer automatisch politisch rechts zu verorten, wäre zu kurz gegriffen. "Unter den Impfgegnern gehören 31 Prozent dem liberal-intellektuellen Milieu an", heißt es in einer Analyse sozialer Netzwerke durch die Unternehmensberatung Komm.Passion. Neben einem "Störsender-Cluster mit russischen Einflüssen" und AfD-nahen Nutzern gebe es bei Impfgegnern auch ein "sozial-ökologisch-esoterisches Cluster".
Eine Erklärung für die niedrigen Impfquoten am Alpenrand ist daher die Nähe zu alternativer Medizin. "Das skeptische Milieu ist nicht selten gut situiert, gut gebildet und offen gegenüber alternativmedizinischen Behandlungsmethoden", sagte eine Sprecherin des bayerischen Gesundheitsministeriums.
Hohe Zahl von Impfskeptikern auch unter Ärzten
Eine Studie aus dem Jahr 2012 deutet darauf hin, dass es nicht nur bei Patienten im Süden Bayerns eine größere Impfskepsis gibt – sondern auch bei Hausärzten. Bei einer Umfrage unter Praxis- und Kinderärzten fand der Hauptautor der Studie, Martin Weigel, einen Zusammenhang zwischen niedrigen Impfquoten und der Einstellung der Mediziner gegenüber Impfungen.
Am negativsten waren diese Meinungen in Südbayern, auch die Impfquote gegen Masern und Meningokokken war dort auffallend niedrig. "Die Frage ist: Suchen sich die Impfunwilligen einen eher impfkritischen Arzt oder andersherum?", sagt Weigel. Eine Antwort könne er nicht liefern.
Besonders kritische Einstellung gegen den Staat
Für manche ist die Verweigerung der Impfung ein Zeichen des Misstrauens gegenüber dem Staat. "Die Menschen im Alpenraum waren und sind besonders kritisch gegenüber staatlichen Obrigkeiten", sagt Religionswissenschaftler Blume.
Verstärkt werde dies dadurch, dass Parteien wie die AfD die Impfung als Protestthema für sich entdeckt hätten, sagt der Seniorprofessor für Soziologie an der Universität Leipzig, Andreas Diekmann. "Was da Ursache und Wirkung ist, ist natürlich die Frage. Es ist generell ein Mangel, dass es in Deutschland nicht genügend harte Daten dazu gibt."
Vorbehalte gegen Impfungen haben lange Tradition
Fest steht, dass Skepsis gegenüber Impfungen im Alpenraum eine gewisse Tradition hat. Schon bei der Immunisierung gegen die Pocken im 19. Jahrhundert habe es in Bayern gerade in ländlichen Regionen "eine ziemlich massive Impfgegnerschaft" gegeben, sagt die Heidelberger Medizinhistorikerin Bärbel-Jutta Hess.
Die Gründe dafür waren demnach ähnlich diffus wie heute: Manche interpretierten die Narbe der Pockenimpfung als "Teufelszeichen" und sahen Krankheiten als "gottgegebenes Schicksal". Andere Menschen hatten aus gutem Grund Angst: Weil die Impfspritzen anfangs nicht ausreichend gereinigt wurden, gaben sie zeitweise unerkannt Syphilis an Kinder weiter.
Damals griff die bayerische Regierung laut Hess zu drastischen Maßnahmen: "In einem Fall wurden sogar die Eltern in Gewahrsam genommen, damit das Kind währenddessen geimpft werden konnte." Gut 200 Jahre später scheint ein solcher Impfzwang ein ganzes Stück weit entfernt. Stattdessen setzt die Politik auf immer mehr Einschränkungen für Ungeimpfte – und Überzeugungsarbeit.
Lichtblick: Steigende Impfzahlen zurzeit
Landräte im Süden Bayerns riefen angesichts der dramatischen Corona-Lage erneut zu Impfungen auf. "Wir alle wollen einen Lockdown vermeiden, wollen offene Schulen", sagte die Oberallgäuer Landrätin Indra Baier-Müller (Freie Wähler). "Das schaffen wir nur, wenn sich möglichst viele impfen und boostern lassen und wir Kontakte in den nächsten Wochen wo möglich vermeiden." Die Impfquote lag dort zuletzt bei etwa 60 Prozent, etwa sechs Prozentpunkte unter dem im bundesweiten Vergleich ohnehin schon niedrigen Schnitt Bayerns.
Im niederbayerischen Landkreis Rottal-Inn solle das Impfzentrum von Montag an wieder "auf Volllast" fünf Tage die Woche laufen, kündigte Landrat Michael Fahmüller (CSU) an. Anfang November war dort eine Impfquote von gerade einmal 53,1 Prozent gemeldet worden.
Ein Lichtblick: Mehrere Landkreise in Südbayern meldeten zuletzt, dass die Nachfrage nach Impfungen wieder steige. Im oberbayerischen Landkreis Berchtesgadener Land mit einer Impfquote von zuletzt rund 56 Prozent sei die Nachfrage "im Wochenvergleich sehr stark erhöht", sagte eine Sprecherin. Allerdings habe es sich überwiegend um Booster-Impfungen gehandelt – also nicht um Impfverweigerer.
- Nachrichtenagentur dpa