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Rechtsextremismus in Sachsen: Die CDU hat in 30 Jahren wenig gelernt


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Kapitulation vor Rechtsextremisten
Als Sachsen ganz offiziell zur No-Go-Area wurde


Aktualisiert am 10.10.2021Lesedauer: 7 Min.
Neonazis demonstrieren im Juni 2019 in Chemnitz: Sachsen hat ein massives Problem mit Rechtsextremismus.Vergrößern des Bildes
Neonazis demonstrieren im Juni 2019 in Chemnitz: Sachsen hat ein massives Problem mit Rechtsextremismus. (Quelle: David Speier/imago-images-bilder)
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Sachsen ist zu gefährlich, um Asylbewerber dorthin zu schicken: Eine Entscheidung vor genau 30 Jahren ist seit wenigen Tagen frei verfügbar und liest sich wie die Beschreibung eines Bürgerkriegslandes. Was hat sich seitdem getan?

24,6 Prozent für die AfD in Sachsen waren in der Höhe noch nicht absehbar, als der Ostbeauftragte der Bundesregierung für Aufregung sorgte. Marco Wanderwitz kommt aus dem Erzgebirge, und er sagte, dass im Osten erhebliche Teile der Bevölkerung "gefestigte, nicht demokratische Ansichten" hätten. Die Menschen seien "teilweise in einer Form diktatursozialisiert, dass sie auch nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind".

Vor genau 30 Jahren wurde Sachsen faktisch zu einer Art Bürgerkriegsgebiet erklärt, weil dort Ausländer völliges Freiwild waren. Ein Gericht in Nordrhein-Westfalen entschied am 10. Oktober 1991, dass aus Sicherheitsgründen Asylbewerber nicht nach Sachsen geschickt werden dürfen. Manche Passagen der Entscheidung des OVG finden sich auch inhaltsgleich im aktuellen Verfassungsschutzbericht – und vieles liest sich gruselig. Eine Gegenüberstellung:

Zur Zeit ist in Sachsen ein ganz erhebliches verbrecherisches Potential sich außerhalb gesellschaftlicher und gesetzlich vorgegebener Normen bewegender sogenannter Skinheads und Hooligans vorhanden.

Klassische Skinheads sind auch in Sachsens Straßenbild selten. Das ist aber weniger einem politischen, denn einem jugendkulturell-stilistischen Wandel zuzurechnen, sagt Michael Lühmann, ein aus Leipzig stammender Wissenschaftler am Göttinger Institut für Demokratieforschung. "Die Optik, auch die raue, rüde Gewalt der Baseballschlägerjahre mag sich gewandelt haben, die Einstellungen und die Bedrohungslage sind aber nach wie vor vorhanden."

Und das liege daran, wie die CDU seit 30 Jahren in Sachsen damit umgehe. "Es wurden Probleme weggeleugnet, mit Ausblenden bekommt man es aber nicht in den Griff." Lühmann war 2017 für die damalige Ostbeauftragte Mitautor der Studie "Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland".

Das Auftreten der mit Waffen verschiedenster Art ausgestatteten Straftäter in Gruppen von vier bis fünfzig Personen (...) stellt schon für sich ein besonderes Gefährdungsmoment dar.

Nach Fragen an das sächsische Innenministerium hatte das Gericht keine Zahlen und konnte nur von einer "hohen Dunkelziffer bezüglich der Größe der rechtsradikalen Szene" schreiben, das Potenzial gewaltbereiter Personen könne nicht abgeschätzt werden. Für 2020 schätzte Sachsens Verfassungsschutz das rechtsextremistische Personenpotenzial im Land auf 4.800 Personen, davon 1.700 gewaltorientiert.

Diese missachten das staatliche Gewaltmonopol sowie die bestehenden Gesetze und gehen der ungebetenen und verabscheuungswürdigen "Aufgabe" nach, im Wege der Lynchjustiz ihren Vorstellungen von Ausländerpolitik Geltung zu verschaffen.

In der Corona-Krise stellte der Verfassungsschutz fest, dass Rechtsextremisten das Recht auf Widerstand für sich beanspruchen und vorgeben, stellvertretend für einen großen, ungehörten Teil der Bevölkerung zu handeln. Es könnten sich neue Gruppierungen konspirativ bilden, wie das in der Flüchtlingskrise 2015 und nach den tödlichen Messerstichen 2018 auf Daniel H. in Chemnitz festzustellen gewesen sei.

2018 hat sich in Sachsen die terroristische Gruppe "Revolution Chemnitz" gebildet, 2015 die "Gruppe Freital". "In Freital waren Kinder derjenigen beteiligt, die schon in den 90ern geprügelt hatten", sagt Politologe und Historiker Lühmann. 2015 habe sich im Ort auch kaum jemand erinnert, dass dort schon 1991 Brandsätze auf das Ausländerheim geflogen waren. "Ob sich etwas wiederholt, ist auch eine Frage der Erinnerungskultur." In Hoyerswerda etwa hat erst in den vergangenen Jahren ein deutliches Umdenken eingesetzt – auf Druck der Initiativen "Zivilcourage" und "Pogrom91". Lühmann: "Solch zivilgesellschaftliches Engagement rennt aber in Sachsen oft gegen geschlossene Türen, diese Menschen gelten als Nestbeschmutzer."

(...) Die Sicherheitslage von Ausländern, namentlich von Asylbewerbern, [stellt sich] in Sachsen spezifisch ungünstiger dar als in den alten Bundesländern. Dies wird nicht in Frage gestellt durch die in jüngster Zeit zu beobachtende – möglicherweise durch die pogromartigen Ausschreitungen im sächsischen Hoyerswerda angeregte – Häufung ausländerfeindlicher Übergriffe auch in Westdeutschland.

Ende September 1991 hatten Neonazis Hoyerswerda im Kreis Bautzen zur "ersten ausländerfreien Stadt" erklärt. 230 Ausländer waren unter Polizeischutz geflohen oder aus der Stadt gebracht worden. "Ausländerfrei" wurde Unwort des Jahres. Vorausgegangen war eine Woche mit täglichen rassistischen Angriffen auf ein Wohnheim für Vertragsarbeiter und ein Flüchtlingsheim und die Bewohner. Unter "Sieg Heil"- und "Nigger raus"-Sprechchören gab es 32 Verletzte, Hunderte Beteiligte und Hunderte Applaudierende .

Nach der Kapitulation des Staates nahmen Übergriffe erst recht zu. Im August 1991 waren deutschlandweit 84 Gewalttaten gegen Einrichtungen gezählt worden, "insbesondere Brand- und Sprengstoffanschläge", 224 im September und dann 490 im Oktober 1991.

2020 sank in Sachsen der Anteil der rassistisch motivierten Gewalttaten auf 40 Prozent aller Gewaltstraftaten, "obwohl die Asylthematik für Rechtsextremisten weiterhin eine hohe Bedeutung hat", so der Verfassungsschutz. In Corona-Zeiten wurde stattdessen die Polizei vermehrt Ziel. In den meisten Fällen ging es um Körperverletzung.

Entscheidend ist vielmehr, dass (...) der Rückhalt der Gewalttäter in der übrigen Bevölkerung in den alten Bundesländern ungleich geringer ist als offenbar in Sachsen.

Die Straftäter haben in nicht unerheblichem Umfang die Sympathie von Teilen der sie umgebenden Bevölkerung, die rechtsstaatliches Bewusstsein im erforderlichen Umfang offenbar noch nicht entwickelt hat.

In Hoyerswerda hatten Hunderte Nachbarn und Schaulustige applaudiert. In einer Emnid-Umfrage 1991 war allerdings im Westen (38 Prozent) "Verständnis" für "rechtsradikale Tendenzen" wegen Ausländern noch deutlich höher als im Osten (21 Prozent), in Sachsen zeigte man Sympathie aber offen.

Im Jahr 2021 liest man deutlich beim Verfassungsschutz Sachsen, dass fehlender Widerspruch dort heute ein großes Problem sei: Die "bei Versammlungen unterbleibende bzw. unzureichende Distanzierung der gesellschaftlichen, nicht-extremistischen Mitte von Rechtsextremisten" sei eine Herausforderung.

Diese fehlende Distanzierung sieht Wissenschaftler Lühmann bei Weitem nicht auf Versammlungen beschränkt. Zum Teil sei das ein Problem der politischen Bildung. "Sachsen ist in Naturwissenschaften ganz vorne, bei der politischen Bildung ganz hinten." Das zeige sich etwa in Umfragen, wo in Sachsen 68 Prozent meinten, nicht das Grundgesetz, sondern Volkes Wille sei maßgeblich. Auf die frühen 90er-Jahre sei vor allem sicherheitspolitisch reagiert worden, sonst sei fast nichts passiert.

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Berühmt ist der Ausspruch von Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf im Jahr 2000: "Die Sachsen sind immun gegen Rechtsextremismus." Die Täter Anfang der 90er-Jahre hatte er ja auch "entwurzelte junge Leute" genannt, für die es nur Arbeit und Zukunft brauche. Eine "Imagefrage" sei das gewesen, erklärte sein damaliger Innenminister Heinz Eggert später der "Zeit". "Er wollte nicht, dass dieser Schatten auf sein Land fällt."

Als 2004 die NPD in den Landtag einzog, erstellte danach ein Arbeitskreis der CDU eine Analyse, über die die "Lausitzer Rundschau" nach den Ausschreitungen in Chemnitz 2018 schrieb: "Sie liest sich bis heute wie eine Handlungsanleitung zur Bewältigung aktueller Probleme". Nur: Sie verschwand in der Schublade. Generalsekretär der sächsischen CDU war damals: Michael Kretschmer, Ministerpräsident seit 2017.

Sein Vorgänger Stanislaw Tillich hatte im Februar 2016 nach den Übergriffen unter anderem in Clausnitz sogar gesagt: "Sachsen hat ein Problem mit Rechtsextremismus, und es ist größer als viele (...) wahrhaben wollten."

Davon wurde aber bald nicht mehr gesprochen, und das ist das Problem der CDU Sachsen, sagt Lühmann: "Das klare Eingeständnis, dass Sachsen ein Problem hat, würde bedeuten, 30 Jahre CDU-Politik ins Unrecht zu setzen, in denen es Ansätze gab, aber nie eine ernsthafte Strategie."

Die staatlichen Reaktionen zum Zwecke der dringend erforderlichen Verstärkung des Personen- und Objektschutzes wurden nur langsam in Angriff genommen. Bezeichnend ist (...), dass die erste Anfrage des Senats zur Sicherheitslage in Sachsen vom Innenminister des Landes Sachsen erst nach etwa drei Monaten beantwortet worden ist.

Viele Asylbewerberunterkünfte hatten 1991 nicht einmal einen Telefonanschluss, um Hilfe zu rufen. Bei der sächsischen Polizei waren viele Stellen nicht besetzt und die Ausrüstung war schlecht. Eine "Soko Rex" zu gezielten Ermittlungen gegen die Szene wurde Ende 1991 aufgebaut, aber bald wieder zurückgefahren und 2013 aufgelöst. Erst 2017 kündigte dann der heutige Innenminister Roland Wöller an, mit einer neuen Soko Rex "den Druck auf die Szene" zu erhöhen. Wöller betont zugleich regelmäßig, wie groß auch die Gefahr von links sei und verweist auf Leipzig-Connewitz.

... Der Senat geht außerdem davon aus, dass gerade auch aus Anlass der jüngsten Entwicklung in Sachsen die (...) Politiker und maßgeblichen Stellen (...) von einer Gefährdungserhöhung und der deswegen bestehenden Notwendigkeit zum Ergreifen "weitergehender Maßnahmen" ausgehen.

Der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hatte es abgelehnt, den Bundesgrenzschutz als Verstärkung zum Bewachen an Unterkünfte zu schicken. Das könne von Ortskräften der Landespolizei effektiver und wirtschaftlicher wahrgenommen werden, erklärte er. Und Sachsens Ministerpräsident Biedenkopf sah den Handlungsbedarf weniger vor Ort. Er forderte, Sachsen sollten künftig weniger Asylbewerber aus dem Westen zugewiesen werden. Unionspolitiker auf Bundesebene verurteilten die Gewalt – erklärten, dadurch sei eine Änderung des Asylrechts dringlicher denn je. Die "Bild" titelte schließlich: "Bonn, tu was!" – das Grundgesetz ändern. 1993 wurde das Asylrecht tatsächlich verschärft und die Regelung sicherer Drittstaaten eingeführt.

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Das Oberverwaltungsgericht befristete das Verbot, Menschen aus NRW nach Sachsen zu schicken, auf maximal drei Monate.

[Es ist] im öffentlichen Interesse geboten (...), dem (...) verbrecherischen Druck grundsätzlich nicht dadurch nachzugeben (...), dass dem Aussetzungsantrag ohne zeitliche Begrenzung stattgegeben wird.

Die Richter waren aber auch der Ansicht, dass im eigenen Land die Aufnahme auch kaum möglich sei.

... die Gemeinden in Nordrhein-Westfalen [sind] nicht zuletzt durch die Nichtweiterleitung von Asylbewerbern nach Sachsen vor letztlich unlösbare Probleme hinsichtlich Unterbringung, Verpflegung und Überwachung gestellt.

Die Wohnungsnot in Deutschland war groß, dazu waren 4,2 Millionen Menschen arbeitslos oder in Kurzarbeit. Vor dem Balkankrieg flüchteten viele Menschen nach Deutschland, dazu kamen Spätaussiedler aus Osteuropa. Im Jahr 1991 wurden in Deutschland gut 250.000 Asylanträge gestellt.

2016 waren es 720.000. Aber Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte gesagt: "Wir schaffen das".

Verwendete Quellen
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