"Unendliches Leid gebracht" Halle gedenkt der Opfer des Jom Kippur-Anschlags
2019 griff Antisemit Stephan B. die Synagoge in Halle an, scheiterte an der massiven Holztür und tötete doch zwei Menschen. Nun gedenkt die Stadt den Opfern – anders als sie es bisher tat.
Mit Kränzen, Blumen und Appellen ist in Halle zwei Jahre nach dem Terroranschlag an die Opfer und Hinterbliebenen erinnert worden. Ministerpräsidenten Reiner Haseloff (CDU) sagte am Samstag vor der Synagoge der Jüdischen Gemeinde, der 9. Oktober 2019 sei eine Zäsur für Sachsen-Anhalt und ganz Deutschland gewesen. "Unser besonderes Gedenken gilt den Opfern und ihren Angehörigen, über die der Täter unendliches Leid gebracht hat", sagte er.
Haseloff warnte die Gesellschaft vor dem Vergessen und vor Verharmlosungen rechtsextremistischer Gewalt. "Das dürfen wir nicht unwidersprochen lassen", sagte er. "Ziehen wir gemeinsam eine rote Linie des Anstands. Diffamierungen des Anderen müssen wir konsequent entgegentreten, Rechtsextremisten gemeinsam die Stirn bieten", sagte er. Antisemitismus und Rassismus breite sich auch in der Mitte der Gesellschaft weiter aus.
Was nach dem Attentat bleibt, sind ein Antisemit in lebenslanger Haft, zwei tote Menschen, eine Tür und die damit verbundene Erzählung vom Glück, das der jüdischen Gemeinde in Halle an jenem Tag wohl widerfuhr. Glück, das den beiden zufälligen Opfern an diesem Tag fehlte.
Schützende Tür ist heute Teil eines Kunstwerks
Da ist zum einen der in einem Dönerladen getötete 20-jährige Kevin S. Im Prozess gegen den Attentäter berichtet Kevins Vater voller Stolz, wie sein Sohn trotz gesundheitlicher Probleme gekämpft habe – um Akzeptanz und vor allem um Eigenständigkeit. Durch jahrelange Praktika habe es der Sohn geschafft, eine Malerlehre anfangen zu können. "Er war megastolz", sagte der Vater des Opfers.
Und da ist die 40 Jahre alte Passantin Jana L., der der Attentäter vor der Synagoge in den Rücken schoss. Als sie ihm über den Weg lief, ahnte sie nicht, in welcher Lebensgefahr sie sich befand. Jana L. sackt wenig später in sich zusammen und stirbt auf dem Fußweg.
Das Ziel des Attentäters Stephan B. waren die Menschen in der voll besetzten Synagoge, die sich dort am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur getroffen hatten. Er scheiterte an der massiven Tür vor dem Gotteshaus, die heute als Mahnmal – eingefasst in ein Kunstwerk – auf dem Gelände der Synagoge steht.
Man könne es von der Präsenz im eigenen Leben mit dem Tod der Eltern vergleichen, sagt der damals anwesende Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Halle, Max Privorozki, rückblickend. "Es ist etwas, das immer präsent ist, aber das heißt nicht, dass man den ganzen Tag daran denkt." In diesem Jahr zu Jom Kippur habe er um 12.00 Uhr noch mal an das Attentat erinnert. "Das war so nicht geplant."
Anstoßen auf das Leben
Privorozki berichtet, wie seine Tochter ihn nach dem Attentat und ihn in Sicherheit wissend in die Arme schloss. Da habe er realisiert, mit dem Leben davongekommen zu sein, sagt er. Stunden verbrachte die Gemeinde in der Synagoge. Selbst nach dem Attentat mussten die Überlebenden mehr als vier Stunden in dem Gotteshaus verharren – auf Anordnung der Polizei. Nach den polizeilichen Maßnahmen wurde die Gemeinde mehrheitlich mit einem Bus in das St.-Elisabeth- und St.-Barbara-Krankenhaus gebracht. Dort wurde nach Angaben vieler Anwesender erstmalig Platz geschaffen für einen Moment des Durchatmens.
"Die nachhaltigste Erinnerung an dem Tag kann ich auf einen Moment reduzieren: Das war am Abend, als wir nach dem Fastenbrechen im Kreis der jüdischen Gemeinde mit einem Kasten Bier in der Mitte zusammengesessen und aufs Leben angestoßen haben", berichtet Hendrik Liedtke, ärztlicher Direktor des Krankenhauses, mit schwerer Stimme. "Da war bei vielen der Punkt, wo sie realisiert haben, was sie da eigentlich hinter sich haben", sagt Liedtke.
Der Moment soll für Liedtke in einer Tradition weiterleben: Auch zu Jom Kippur 2021 brachte er, wie schon im vergangenen Jahr, einen Kasten Bier zu der Synagoge. "Jeder hat sofort verstanden, warum es dieser Kasten Bier war – das musste ich niemandem erklären."
Gedenken in kleineren Kreisen
Der Stadt Halle habe der Anschlag eine Narbe zugefügt, sagt der aktuell suspendierte Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos). "Die zeigt sich immer dann, wenn Jüdinnen und Juden angegriffen werden. Ganz gleich, wo." Man werde sofort an die Ereignisse von damals erinnert, erzählt Wiegand. "Die Stadt hält dann den Atem an."
Zum ersten Jahrestag im vergangenen Jahr hatten viele Spitzenpolitiker Halle besucht, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war dabei. Mit staatlichen Zeremonien und emotionalen Gesten war der Opfer des rechtsterroristischen Anschlags gedacht worden.
- Nachrichtenagentur dpa