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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wie sexistisch ist der Wahlkampf? Hass gegen Frauen im Netz: "Das ist erschreckend"
Die Bundestagswahl rückt näher, die Berichterstattung über Parteien und Kandidaten wird dichter. Dabei fällt auf: Immer wieder werden Politikerinnen im Internet mit Hass überschüttet.
"Schlampe", "Lügnerin", "Drecks-Mörderin, verschwinde aus der Politik" – diese Beschimpfungen in den sozialen Medien sind für Politikerinnen in Deutschland Alltag. Nach der jüngsten Berichterstattung über Franziska Giffey (SPD), deren Doktortitel aberkannt wurde, über Annalena Baerbock (Grüne), die ihren Lebenslauf korrigierte oder auch über Ricarda Lang (Grüne), der eine Welle des Hasses nach einem TV-Auftritt entgegenströmte, zeigt sich: Frauen werden deutlich kritischer in die Mangel genommen als Männer. Zumindest wirkt es so. Eine Datenerhebung aus jüngster Zeit gibt es dazu nicht. Nun treten zwei Männer, Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD), und eine Frau, Annalena Baerbock (Grüne), als Kanzlerkandidaten ihrer Parteien an. Wie sexistisch werden die nächsten drei Monate bis zur Bundestagswahl?
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"Nicht sexistischer, als es unsere Gesellschaft ohnehin ist", findet Martin Fuchs, Politik- und Digitalberater. Auch zuvor habe Sexismus bei Wahlkämpfen eine Rolle gespielt. In den vergangenen 16 Jahren, seit Merkels Kanzlerschaft begann, habe sich daran nichts geändert. "Persönliche Angriffe sind nicht neu, allerdings werden sie heute sichtbarer als früher", sagt er t-online.
"Debatte hat heute eine andere Intensität"
Das liege an den sozialen Medien und an der Annahme vieler Menschen, das Internet sei ein rechtsfreier Raum. Verändert habe sich dadurch auch der mediale Diskurs. Viel schneller werde heute reagiert, da digitale Nachrichtenportale schneller Themen aufgreifen. "Die Debatte hat heute eine andere Intensität", sagt Fuchs. Tatsächliche oder vermeintliche Verfehlungen gelangen schnell an die Öffentlichkeit, werden dann in sozialen Medien, wie etwa auf Twitter, diskutiert. Das war vor 16 Jahren anders.
In der Berichterstattung über die korrigierten Lebensläufe – von Annalena Baerbock und aber auch von Armin Laschet – zeigte sich in den t-online-Zugriffszahlen, dass das Interesse an Baerbock deutlich größer ist. "Die Angriffe auf Politikerinnen sind einfacher, weil sie als die Schwächeren gelten", erklärt der Digitalexperte Martin Fuchs. Meistens seien jene, die im Netz stark kritisieren, Männer.
"Die Gesellschaft muss sich da einen Spiegel vorhalten, denn das ist seit Jahrzehnten so. Frauen haben schon lange vor dem Internet darunter gelitten, etwa auf ihr Äußeres reduziert zu werden. Männer fühlen sich überlegen und denken, ihre Meinung sei die richtige." In der Vergangenheit habe es zu wenig Solidarisierung mit Frauen gegeben.
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Deshalb rät Martin Fuchs, dass sich noch mehr Menschen gegen die Angriffe starkmachen sollen – nicht nur Frauen, auch Männer. "Gegenhalten, Posts kommentieren, sich deutlich positionieren." Das Opfer solle eher nicht darauf eingehen, denn das verschlimmere die Situation nur noch. Solange es jedoch kein Umdenken gebe und die Angreifer im Netz nicht konsequenter strafrechtlich verfolgt würden, könne man wenig dagegen ausrichten.
"Das Ausmaß ist erschreckend und abartig"
Die SPD-Politikerin Sawsan Chebli kennt das Problem. "Das Ausmaß an misogynem Hass und Hetze, das sich im Internet vor allem gegen junge Frauen richtet, ist erschreckend und abartig", sagt sie t-online. "Es ist überwiegend blanker Hass." Chebli kenne das aus eigener Erfahrung. "Ich weiß, wie alleingelassen man sich fühlen kann und wie wichtig es in dem jeweiligen Moment ist, dass sich Leute hinter einen stellen." Hass und Hetze im Internet seien nichts, woran sich Frauen "gefälligst gewöhnen sollen".
Chebli denkt dennoch nicht, dass der Wahlkampf sexistisch geführt wird. Vielmehr seien es die Kampagnen einzelner, die auf eine öffentliche Diffamierung von Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock abzielten. Kürzlich erst wurde Annalena Baerbock für eine Politkampagne der INSM unfreiwillig als Antagonistin benutzt. Mehr dazu lesen Sie hier. "Unabhängig von den Fehlern, zu denen sie zu Recht Stellung beziehen musste, sehen wir an ihrem Beispiel, dass Frauen in der Politik an anderen Maßstäben gemessen werden. Dass Annalena Baerbock sich zudem rechtfertigen und erklären muss, wie sie Mutter und gleichzeitig Kanzlerin sein will, zeigt, dass wir eine krasse Schieflage haben", sagt Chebli.
Einige Medien hatten über die private Vereinbarung von Annalena Baerbock und ihrem Mann berichtet: Werde Baerbock Kanzlerin, werde sich ihr Mann stärker um die Kinder kümmern und seinen Beruf ruhen lassen. "Wenn ich ein Regierungsamt annehme, ist ganz klar, dass mein Mann seine Arbeit dort so nicht fortführen wird", hatte Baerbock gesagt. Das mediale Interesse daran war groß.
"Politik verlangt einem viel Zeit ab, oft bis spät in die Nacht. Hier stellt sich schnell die Frage nach der Vereinbarkeit von Politik und Familie", sagt Sawsan Chebli. Diese Hürde ließe sich aber überwinden: "Sitzungszeiten und -orte müssten flexibler sein und auch die Elternzeit-Option für Politikerinnen und Politiker sollte neu thematisiert werden, um den Gang in die Politik attraktiver zu machen", schlägt die 42-Jährige vor. Solange diese strukturellen Hürden nicht überwunden wären, komme man nicht wirklich weiter in der Frage "Frauen und Politik".
"Frauen überlegen hundert Mal, ob sie gut genug sind"
Und die Politikerin sieht ein weiteres Problem: "Während Männer sofort nach Macht greifen, treten Frauen häufig einen Schritt zurück und überlegen sich hundert Mal, ob sie gut genug sind", sagt sie. Hinzu komme, dass viele Erfahrungen die Frauen machen, abschreckend wirkten. Sobald sie in der Öffentlichkeit stünden, "werden viele auf ihr Äußeres reduziert oder ihre Kompetenz infrage gestellt". Eine Lösung sei ein Paritätsgesetz.
Politikwissenschaftler Nils Diederich von der FU Berlin bewertet die Lage so: "Ich habe nicht den Eindruck, dass der Wahlkampf bisher 'sexistisch' geführt wird", sagt er. Wer sich ins Rampenlicht stelle, werde eben manchmal mit Tomaten oder faulen Eiern beworfen. "Da sind Männer wie Frauen betroffen: Scholz, Baerbock, Giffey ...". Er habe auch nicht den Eindruck, dass Fehler von Politikerinnen kritischer beäugt werden, als die der männlichen Mandatsträger.
Die Veränderungen würden durch gesellschaftliches Verhalten und individuelles Bewusstsein geschehen, politische Entscheidungen seien dabei nur ein relativ kleiner Beitrag, wie etwa bei der Mindestquote in Vorständen. "Die Frauenquote im Parlament wurde 2017 hauptsächlich durch den Einzug der AfD gesenkt. Es bleibt abzuwarten, ob da die nächsten Wahlen Veränderungen bringen", erklärt Nils Diederich.
Chebli: Frauen gelten als zu emotional
Die SPD-Politikerin Chebli ist hingegen überzeugt, dass eine Frau per se als unerfahren und nicht hart genug gelte. "Hinzu kommt der Vorwurf der Inhaltsleere", sagt Chebli. Frauen seien angeblich noch dazu zu emotional – so der Vorwurf vieler. "So wird Frauen oft sofort jede Kompetenz abgesprochen, wenn ihnen auch nur der geringste Fehler unterläuft."
Forscherin Uta Kletzing beschäftigt sich an der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft mit Karrierewegen, Hindernissen und Unterstützungsbedarfen. "Die aktuellen öffentlichen Meinungsäußerungen sagen nichts aus über das tatsächliche Ausmaß sexistischer Anfeindungen in der Politik. Repräsentative Daten dazu liegen bislang nicht vor", sagt Kletzing. Worüber Politikerinnen jedoch immer wieder in Studien berichten, sei, dass ihr Aussehen thematisiert werde, das ihrer männlichen Kollegen allerdings nicht. "Manche Politiker nennen Mandatsträgerinnen mit Vorsatz süße Maus, andere denken sich bei solchen Sprüchen nichts. Beides ist bedenklich", heißt es in einem Bericht der Akademie.
Auch Sawsan Chebli hat schon eigene Erfahrungen mit Sexismus in der Politik gesammelt. "Die reichen von ganz subtilen Sprüchen bis hin zu offenkundigem Sexismus", erzählt sie. Häufig gehen bei ihr dabei Sexismus und Rassismus Hand in Hand.
Merkel: Bin erst bei Quote 50/50 zufrieden
16 Jahre hatte Deutschland eine weibliche Bundeskanzlerin. Hat sich nichts geändert? Auf die Frage, warum nach so einer langen Zeit noch immer nicht mehr Frauen in der Politik sind, sagte Angela Merkel in der Regierungsbefragung im Bundestag am 23. Juni: "Ich bin erst zufrieden, wenn es 50/50 ist." Nun geht allerdings ihre Zeit als Kanzlerin zu Ende. Auf den letzten Metern wird sie nichts mehr ändern können.
Und sollte es wieder eine weibliche Kanzlerin geben? Merkel lacht nach dieser Frage und macht eine kleine Pause. Dann erklärt sie gewohnt diplomatisch: "Ich bin der Meinung, dass die Bürgerinnen und Bürger nach 16 Jahren mündig genug sind, ihre Entscheidung zu treffen."
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Martin Fuchs, Politik- und Digitalberater
- Schriftliches Interview mit Sawsan Chebli (SPD)
- Schriftliches Interview mit Nils Diederich, Politikwissenschaftler an der FU Berlin
- Spiegel: "Mein Mann übernimmt die volle Verantwortung und Arbeit zu Hause"
- Spiegel: In sozialen Medien wandelt sich das Klima – in Richtung Frauenfeindlichkeit
- Süddeutsche Zeitung: Der Hass der Zeit (kostenpflichtig)
- Eaf: Sexismus in der Politik – Ein Tabu
- Deutschlandfunk Kultur: Wie Kinder und Regieren zusammengehen
- Deutschlandfunk: "Das sind Machtdemonstrationen unter der Gürtellinie"
- Spiegel: "Gendersprache" und Vorstandsquoten, nichts könnte mir egaler sein"
- Zeit: Wer ist Annalena Baerbock?
- Twitter: Profil von Ricarda Lang
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- Twitter: Profil von Franziska Giffey