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Stuttgart: Jugendforscher Albert Scherr erklärt die Gewalt in der Innenstadt


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Gewalt in der Innenstadt
So erklärt ein Jugendforscher die Randale von Stuttgart

  • Sonja Eichert
InterviewVon Sonja Eichert

Aktualisiert am 23.06.2020Lesedauer: 6 Min.
Zerstörtes Schaufenster in Stuttgart: Wie kam es zu den Randalen in der baden-württembergischen Hauptstadt?Vergrößern des Bildes
Zerstörtes Schaufenster in Stuttgart: Wie kam es zu den Randalen in der baden-württembergischen Hauptstadt? (Quelle: Silas Stein/dpa)
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Die Ausschreitungen in Stuttgart haben für Entsetzen gesorgt. Schnell folgten Spekulationen über Gründe und Konsequenzen. Soziologe Albert Scherr spricht im Interview über die Hintergründe der Ereignisse.

In der Nacht von Samstag auf Sonntag ist es in der Innenstadt von Stuttgart zu schweren Ausschreitungen gekommen. 400 bis 500 Menschen gerieten mit der Polizei aneinander, 19 Polizisten wurden verletzt, etliche Geschäfte zerstört. Auslöser soll die die Kontrolle eines 17-Jährigen gewesen sein, dem ein Drogendelikt vorgeworfen wurde. Mit ihm hätten sich sofort Hunderte Jugendliche solidarisiert, sagte Polizeivizepräsident Thomas Berger. Schnell wurde über die Gründe der Eskalation spekuliert, ein politisches Motiv schloss die Stuttgarter Polizei aus.

Über die Hintergründe der Ereignisse in Stuttgart hat t-online.de mit Prof. Dr. Albert Scherr gesprochen. Der Soziologe leitet das Institut für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und arbeitet unter anderem zu den Schwerpunkten Gesellschaftsforschung, Rassismus und Jugend.

t-online.de: Herr Scherr, wie beurteilen Sie das, was am Wochenende in Stuttgart geschehen ist?

Albert Scherr: Über die wirklichen Hintergründe ist ja bislang wenig bekannt. Meine Einschätzung wäre daher, dass das getan werden soll, was im Augenblick auch politisch gefordert wird: Eine gründliche Aufklärung der Hintergründe. Dabei muss man zwei Ebenen unterscheiden: Das eine ist die Frage nach dem, was man in der Gewaltforschung oder in der Jugendforschung als "situative Eskalationsdynamik" beschreiben würde, also was ist in der konkreten Situation vor Ort gelaufen. Wie der Konflikt sich hochgeschaukelt hat und dann diese erstaunliche und wirklich erschreckende Zuspitzung bekommen hat.

Die zweite Ebene ist: Was steckt dahinter? Insbesondere an Entwicklungen, die eventuell dazu geführt haben, dass sich zwischen bestimmten Teilgruppen von Jugendlichen im Verhältnis zur Polizei so etwas wie ein starres Feindbild entwickelt hat. Und dann eben nicht mehr die Autorität als Regeldurchsetzer akzeptiert wird, sondern man sich legitimiert fühlt, massiv gegen die Polizei vorzugehen sowie Geschäfte zu plündern und anzugreifen.

Haben Sie eine Vermutung, warum die Situation so eskaliert ist?

Bei dem was im Augenblick bekannt ist, wäre ich vorsichtig damit, eine Ferndiagnose zu stellen. Und es macht auch überhaupt keinen Sinn, wenn jetzt Politikerinnen oder die Medien sich ganz schnell an irgendwelche Erklärungen wagen, die sehr aus der Luft gegriffen sind. Wir müssen einfach abwarten, dass die Polizei ihr Wissen von dem ganzen Prozess kenntlich macht. Und natürlich müsste man auch andere Akteure befragen. Stuttgart hat ja eine relativ breite mobile Jugendarbeit. Dort hat man genaueres Wissen über die Szene. Bevor man von diesen Seiten – und idealerweise auch von den betroffenen Jugendlichen selbst – keine Informationen hat, bleibt alles sehr spekulativ. Wichtig wäre eine unabhängige neben den Ermittlungen der Polizei.

Wie beurteilen Sie es, dass vor allem Jugendliche beteiligt waren?

Ich würde nicht "Jugendliche" sagen. Es waren junge Männer. Das ist ein Unterschied. Dass es junge Männer waren, die den Konflikt mit staatlichen Autoritäten gesucht haben, und das auch mit Gewalt, überrascht einen als Jugendsoziologen nicht. Da greifen ganz bestimmte Muster von jungen Männern: Sie vergewissern sich ihrer Männlichkeit, indem sie zeigen, dass sie in der Lage sind, sich gegen Gegner zu verteidigen. Da kommen dann ganz klassische traditionelle Männlichkeitsbilder zum Tragen.

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Sehen Sie auch einen Zusammenhang zu dem, was sich derzeit in den USA abspielt?

Um es mal vorsichtig zu formulieren: Ich finde die Überlegungen nicht ganz abwegig, dass die Medienbilder über solche Konflikt-Eskalationen einen bestimmten Anreiz haben könnten.

Also doch ein politisches Motiv?

Ich würde nicht von einem politischen Hintergrund sprechen. Wenn Sie Deutschland mit den USA oder auch mit Frankreich vergleichen, stellen Sie fest, dass die Polizei hierzulande eine wesentlich größere Akzeptanz in der Bevölkerung hat. In den USA wie auch in Frankreich haben größere Teile der Bevölkerung eine Wahrnehmung der Polizei als unfaire staatliche Ordnungsmacht, gegen die man sich wehren muss. Dann entsteht so ein Feindbild "Polizei". Und wenn so ein Feindbild erstmal im Raum ist, entstehen auch solche Konfliktdynamiken. In Deutschland existiert das bislang so noch nicht. Ich nehme deshalb eher an, dass es die Medienbilder von direkter Konfrontation mit der Polizei sind, die herübergeschwappt sind und nun quasi als Vorbild dienen.

Auch über die deutsche Polizei gab es in den letzten Tagen heftige Debatten in den Medien, ausgelöst von einer Kolumne in der "taz". Innenminister Seehofer will gegen die Autorin jetzt Anzeige erstatten. Er sieht eine "Enthemmung der Worte", die zu Gewaltexzessen führen würde. Teilen Sie seine Wahrnehmung?

Soweit würde ich nicht gehen. Was im Augenblick geschieht, ist eher, dass sehr schnell Bilder der Polizei, die vielleicht in den USA angemessen sind, hier in die deutschen Vorstellungswelten übergehen. Auf einmal zirkuliert dann eine Idee von Polizei als illegaler Ordnungs- und Besatzungsmacht, was dazu beiträgt, die Akzeptanz der Polizei zu schwächen.

Entsteht da gerade ein Trend in Deutschland?

Vorsichtig gesagt: Wir sind zumindest an einem Punkt angekommen, wo man die Gefahr nicht ausschließen kann, dass sich ein konfrontatives Verhältnis zur Polizei verfestigt. Deshalb ist es jetzt notwendig, rasch zu einer differenzierteren Wahrnehmung zurückzukehren. Für mich ist das Stuttgarter Ereignis erstmal ein punktuelles Ereignis. Und wir wissen überhaupt nicht, ob das jemals wieder vorkommen wird. Jetzt einen Trend zu beschwören, beinhaltet immer die Gefahr, entsprechende Erwartungen in die Öffentlichkeit zu setzen. Das wäre keine wirklich kluge Antwort auf die Situation.

Handelt es sich bei dem Ereignis denn um ein neues Phänomen?

Mit Blick auf die letzten zwanzig, dreißig Jahre würde ich sagen: Ja. Mit Blick auf die fünfziger und sechziger Jahre allerdings würde ich sagen: Nein. Massive Übergriffe von Jugendlichen, auch Konflikte mit der Polizei, sind historisch kein neues Phänomen. In der Tat ist es in der jüngeren Vergangenheit aber so nicht mehr vorgekommen.

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Bundesarbeitsminister Heil hatte von "wahnsinnig irrationaler Gewalt" gesprochen. Würden Sie ihm bezüglich der Irrationalität der Ereignisse zustimmen?

Unter Einschränkungen. Wahrscheinlich werden die allermeisten beteiligten Jugendlichen drei Tage später rückblickend auch sagen: Da hat sich was entwickelt, das ich gar nicht mehr verstehen kann. Das war zweifellos keine langfristig und strategisch geplante, zielgerichtete Gewalt, sondern da ist eine Eigendynamik entstanden, unter Einfluss von Alkohol. Insofern kann man von einer irrationalen Gewalt reden. Aber inwiefern hilft einem so eine Einschätzung hier weiter?

Die Polizeigewerkschaft fordert konkret für Stuttgart ein Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen und eine Sperrstunde. Meinen Sie, dass man solchen Ausschreitungen so Einhalt gebieten könnte?

Das sind wieder Schnellschuss-Reaktionen. Ich wäre zu allererst dafür, dass man ein Dialogprogramm zwischen Polizei und Stuttgarter Jugendlichen auflegt, also eine vertrauensbildende Maßnahme. Ich würde mir wünschen, dass Polizei und Politik sich der Diskussion mit den Jugendlichen in Stuttgart stellen. Das halte ich für wesentlich nahe liegender als die Idee einer Sperrstunde, weil die aus meiner Sicht potenziell eher kontraproduktiv ist. Wenn man auf Jugendliche, die sich aus guten oder auch schlechten Gründen in ihren Freiräumen aktuell eingeschränkt fühlen, mit weiteren Einschränkungen reagiert, ist das eher dazu geeignet, dass sich der Konflikt weiter hochschaukelt.

Meinen Sie, dass die Corona-Einschränkungen eine Rolle gespielt haben?

Es ist ziemlich plausibel zu sagen, dass sich durch diese Einschränkungen der letzten Wochen und Monate auch etwas aufgestaut hat. Jetzt mit den ersten Öffnungen wird ein Kompensations- und Feierbedürfnis entstehen – vielleicht auch ein Drang, über die Stränge zu schlagen.

Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn identifiziert als Grund auch die Geltungssucht in den sozialen Medien. Welche Relevanz sehen Sie da?

Das ist ein bisschen gewagt. Das Argument wäre ja dann: Die haben diese Randale veranstaltet, um die Bilder zu erzeugen, die hinterher in den sozialen Medien Aufmerksamkeit finden. So etwas kann ein jedoch durchaus Verstärkungselement sein. Jugendliche haben das Bedürfnis, irgendwie beachtet und medial wahrgenommen zu werden. Aber ich will nochmals betonen: Bevor man nicht mal ein paar Interviews mit Tatbeteiligten geführt hat, bevor man nicht weiß, wie sie selbst beschreiben, was da gelaufen ist, was sie als Gründe anführen, hängt das alles sehr in der Luft.

Wie kann es auch Ihrer Sicht jetzt weitergehen?

Mich hat die Reaktion der Politik irritiert: Zunächst haben sowohl der Oberbürgermeister als auch der Innenminister eine gründliche Aufklärung der Ereignisse eingefordert. Und dann kündigen sie im nächsten Schritt die Bildung einer 40-köpfigen Polizeikommission an, die diese Aufklärung leisten soll. Bei aller Wertschätzung der Polizei gegenüber halte ich es für keine überzeugende Strategie, jemanden mit der Aufklärung eines Problems zu beauftragen, der möglicherweise selbst in das Problem verstrickt ist.

Mein zentrales Argument wäre: Es braucht jetzt Ruhe und Zeit, sich alles genau anzuschauen. Es braucht ein Zugehen auf die Jugendszenen im Sinne von Dialogangeboten. Es braucht eine neutrale Instanz, um das auch praktisch zu erforschen. Schnellschuss-Erklärungen und Forderungen nach noch mehr repressiven Strategien sind jetzt kontraproduktiv.

Herr Prof. Scherr, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Interview mit Prof. Dr. Scherr
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