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Erzählen von 1989: Revolution ohne Helden


Meinung
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Deutsches Erzählen von 1989
Revolution ohne Helden

MeinungEin Essay von Jonas Schaible

Aktualisiert am 10.11.2019Lesedauer: 13 Min.
Helmut Kohl spricht am 19. Dezember 1989 in Dresden: Der Kanzler im Gegenlicht, nur Konturen sind zu erkennen. Ähnlich unscharf ist das Bild der Öffentlichkeit von der Revolution.Vergrößern des Bildes
Helmut Kohl spricht am 19. Dezember 1989 in Dresden: Der Kanzler im Gegenlicht, nur Konturen sind zu erkennen. Ähnlich unscharf ist das Bild der Öffentlichkeit von der Revolution. (Quelle: Sven Simon/imago images)

Der friedliche Sturz einer Diktatur durch die Massen könnte das Selbstverständnis einer Nation prägen. In Deutschland ist das anders. Woran liegt das und was macht das mit diesem Land?

Am 4. November 1989 wurde auf dem Berliner Alexanderplatz Geschichte gemacht. Eine halbe Million Menschen strömte dort zusammen. Sie hörten Reden von Jan Josef Liefers, Jens Reich, Marianne Birthler, Stefan Heym oder Christa Wolf. Sie stellten ein Regime infrage, das sich selbst für unhinterfragbar erklärt hatte. "Die Revolution ist unumkehrbar", habe sie an diesem Tag zu Reich gesagt, erinnerte sich Bärbel Bohley, eine der Gründerinnen des Neuen Forums.

Dreißig Jahre später, am 4. November 2019, steht wieder eine Bühne auf dem Alexanderplatz. Eine Theatergruppe arbeitet die Demonstration auf, die Schauspielerinnen tragen Teile der Reden von damals vor. Es gehe aber nicht darum, alles genau nachzustellen, sagt eine. Es gehe darum, die Gefühle von damals wieder zu erwecken.

Aber irgendwie kommen nicht wirklich Gefühle auf. Unten auf dem Platz bleibt es seltsam still und ungerührt. Weil diejenigen, die damals dabei waren, die Verfremdung befremdet. Und weil viele derjenigen, die nicht dabei waren, gar nichts verbinden mit diesem 4. November, der in der gesamtdeutschen Erinnerung so eine geringe Rolle spielt. Weil er verschwindet hinter dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990.

Wo keine Gefühle sind, können keine erweckt werden. Dass da so wenig Gefühle sind, ist allerdings eine der größeren politischen Merkwürdigkeiten dieser Zeit, wenn man sich vor Augen hält, was damals eigentlich geschah.

Vor 30 Jahren stürzte eine Revolution der Massen eine brutale Diktatur. So etwas ist rar, welthistorisch gesehen. Erst recht, weil diese Gesellschaft den gewaltfreien Schritt in die Demokratie schaffte. Man könnte allerhand Geschichten über dieses unwahrscheinliche Ereignis erzählen. Heldengeschichten, Ermächtigungsgeschichten, Erfolgsgeschichten und sie alle könnten das kollektive Selbstverständnis einer Gesellschaft prägen. So ist es selbstverständlich, anderswo. So ist es nicht in Deutschland, erstaunlicherweise.

Es gibt keinen Soundtrack der Revolution, keine Hymne.

Es gibt noch kein Denkmal.

Es gibt zwar Helden, aber keine, die man in ganz Deutschland kennt.

Es gibt noch nicht einmal wirklich einen einzigen Begriff, so wie die Französische Revolution Französische Revolution heißt und nicht anders.

Die offizielle Gedenkwoche der Bundesregierung in diesem Jahr trägt den Titel "30 Jahre friedliche Revolution – Mauerfall". Die offizielle Website dieser Gedenkwoche aber heißt nur noch: "mauerfall30.berlin". So ist es oft: Der Mauerfall rückt ins Zentrum und alles wird seltsam körperlos. Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Mit der Wende kam die Einheit. Als wäre der Weltgeist in dieses Land gefahren. Als hätten nicht Menschen gehandelt. Als lasse sich eine Revolution ohne Revolutionäre auch nur denken.

"Für die meisten Menschen in Hamburg, München und Köln fanden die revolutionären Ereignisse im Herbst 1989 in einem fremden Land statt. Viele von ihnen sagten mir später, ihre eigene Pubertät sei ihnen wichtiger gewesen als die friedliche Revolution", sagt Katrin Göring-Eckardt, die aus Thüringen stammt, Mitglied war im Demokratischen Aufbruch und in Demokratie Jetzt und die heute Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag ist. So ist es geblieben.

Wie kann es sein, dass ein solches historisches Ereignis so wenig Spuren im Selbstbild eines Landes hinterlässt? Was macht das mit den Menschen, die es erlebt haben, aber sich nicht erzählen können oder die nicht verstanden werden, wenn sie es tun?

Zunächst muss man festhalten: Was 1989 in der DDR geschah, war eine Revolution. Die unten wollten nicht mehr weiterleben wie bisher, die oben konnten das System nicht mehr halten. "Das war ja ein Gefühl wie 1945. Das war ja ein Zusammenbruchgefühl", erinnert sich der ehemalige Treuhand-Direktor Detlef Scheunert im "Deutschlandfunk". Menschen flohen massenweise. Wahlfälschungen wurden zum Anlass für Proteste. Die Massen standen auf. Einschüchterung wirkte nicht mehr. "Kein Mensch mehr, so scheint es, schert sich im 40. Jahr der Republik um Drohungen und Verbote der sozialistischen Obrigkeit", schrieb der "Spiegel" am 9. Oktober 1989. Was langsam seinen Sinn verloren hatte, wurde endgültig sinnlos.

Dafür, dass es trotzdem keine deutsche Revolutionsgeschichte gibt, lassen sich Gründe finden. Einige liegen in der Revolution selbst, einige in dem Land, dem sich die Revolutionäre anschlossen und einige in dem Land, das dadurch neu entstand. Das Paradoxe ist, dass einige dieser Gründe den Erfolg der Revolution erst möglich machten.

Wie man sich anderswo an Revolutionen erinnert

Manche Revolutionen, wie die in Frankreich und den USA, haben das westliche Verständnis von Geschichte und Politik grundlegend verändert. In vielen Ländern sind Revolutionen selbstverständlich Teil des kollektiven Selbstverständnisses. Revolutionsgeschichten, die sich herausgebildet haben, kreisen um handelnde Personen, um Helden, um Revolutionäre.

Man kennt den Sturm auf die Bastille. Man kennt den Sklavenaufstand in Haiti. Man kennt Lenin, der im verplombten Zug nach St. Petersburg reist, die Stadt, die seinen Namen tragen wird. Man kennt Che Guevara und Fidel Castro unter Genossen im Dschungel. Man kennt Ajatollah Chomeini, der im Pariser Exil ins Flugzeug steigt und in der islamischen Republik in Teheran landet.

Selbst die Novemberrevolution 1918, diese merkwürdig vergessene deutsche Revolution, hat ihre ikonischen Momente, hat Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, hat Philipp Scheidemann, der vom Balkon des Reichstags die Republik ausruft. Heute kann man hinter diesem Balkon als Abgeordneter im Restaurant sitzen.

Auch das Jahr 1989 hat legendäre Revolutionäre hervorgebracht: Polen hat Lech Wałęsa, Tschechien hat Václav Havel.

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Es stimmt zwar, dass eine Geschichte das Schicksal braucht, den Einzelfall, den Helden, und dass Gesellschaft, ganz besonders eine Revolution, überindividuell ist, unkontrollierbar, emergent. Aber Gesellschaften auf der Suche nach Sinn schaffen es trotzdem, Erzählungen zu finden.

Wie es klingt, wenn eine Revolution fester Teil des kollektiven Selbstverständnisses ist, zeigt das erfolgreichste moderne Revolutionsepos, das zugleich das erfolgreichste US-amerikanische Musical dieses Jahrzehnts ist: "Hamilton".

Dessen Held Alexander Hamilton war erster Finanzminister der USA, aber auch Waisenkind, Aufsteiger, Liebhaber, erfolgreicher Politiker, tollkühner Soldat, Revolutionär. In einem Lied singt er über die Schlacht von Yorktown, in der die US-Truppen 1781 die britische Armee schlugen. Die weiße Fahne weht, die Soldaten sind noch unsicher, was das bedeutet, als Hamilton diesen lakonischen Satz sagt: "Ich sehe George Washington lächeln."

In diesem Moment, der Schlüsselszene der Revolutionsgeschichte, versteht man sofort: Es ist vorbei. Alles wird gut. Wenn Washington lächelt, lächeln die USA.

Würde man von der deutschen Revolution 1989 singen, wer wäre Hamilton? Wer Washington? Wer müsste lächeln, damit Deutschland lächelt? Wäre es gut, es gäbe jemanden? Warum gibt es niemanden?

Keine Helden, keine Anführer, keine Theoretiker

In der Schlüsselszene der Revolutionsgeschichte von 1989 verkündet Politbüromitglied Günter Schabowski im grauen, etwas zu großen Anzug die Öffnung der Grenzübergänge, kratzt sich auf Nachfrage am Kopf, und sagt dann: "Das tritt, nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich." Man kann nicht einmal sagen, dass dieser Satz von der Revolution geblieben ist, weil ihn kein Revolutionär gesprochen hat und weil es nicht einmal ein Satz war. Wenn Schabowski stammelt, lächelt Deutschland?

"Es ist oft so, dass sich in der Geschichtsschreibung Legenden halten, etwa die, Schabowski habe die Mauer geöffnet. Dabei waren es die Menschen, die den Druck erzeugt haben", sagt Roland Jahn, Regimekritiker in der DDR, 1983 ausgebürgert, danach als Journalist Beobachter der Revolution und heute Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen.

Natürlich gibt es Geschichten, Artikel und Fernsehbeiträge über Dissidenten, aber die Schlüsselfiguren der friedlichen Revolutionen im westdeutschen Erinnern sind neben Schabowski doch: Michail Gorbatschow und seine Perestroika. Hans-Dietrich Genscher in der Prager Botschaft. Vielleicht Ronald Reagan, mit seiner Rede Jahre zuvor, "Mr. Gorbatschov, tear down this wall!" Und irgendwie auch David Hasselhoff.

Also der wichtigste Mann der Sowjetunion, der westdeutsche Außenminister, ein US-Präsident und ein US-amerikanischer Popsänger, der nicht mit allem zu tun hatte, nur zwei Monate nach dem 9. November 1989, an Silvester, an der Mauer sang und heute sagt, Menschen dankten ihm für den Mauerfall.

"Das sind die Momentaufnahmen aus dem Fernsehen, die man auch jetzt in Wiederholungen sehen kann", sagt Werner Schulz, der seit den 1970ern in der DDR-Opposition aktiv war, fürs Neue Forum an den Runden Tischen saß und später für die Grünen im Bundestag und im Europaparlament saß. "Da fehlt aber ein ganzes Stück Geschichte."

Die dezentrale Revolution

Dass es im kollektiven Gedächtnis keine eindeutigen Führungsfiguren gibt, mag auch an denen liegen, die dazu hätten werden können – Menschen, die heute "Bürgerrechtler" heißen, nie "Revolutionäre". "Die haben allesamt darauf verzichtet, sich vorzudrängen", sagt Schulz. Aram Radomski, der die Leipziger Montagsdemo vom 9. Oktober filmte und damit in die Welt trug, sagte einmal: "Manchmal stört es mich, wenn ich deswegen zu einem Symbol gemacht werde. Das bin ich nicht."

"Für viele war auch das Parteiensystem nicht geeignet, ihre Vorstellung von Politik umzusetzen, wie für Bärbel Bohley", sagt Roland Jahn. Bohley, Mitbegründerin des Neuen Forums, ging in den Neunzigern nach Bosnien. In der Bundesrepublik spielte sie keine herausgehobene Rolle mehr.

Die Bewegung hatte also keinen Kopf und auch kein Zentrum. Da waren Leipzig und Berlin, aber eben auch Plauen, Oschatz, Bischofswerda – die Revolution war überall. "Die Protestbewegungen sind wie Pilze nach dem warmen Regen aus dem Boden geschossen", sagt Werner Schulz.

Der Revolution fehlte beides nicht. Sie konnte gerade deshalb Erfolg haben, weil sie wirklich eine Massenbewegung war, weil sie in der Fläche Unterstützung hatte und weil ein Sicherheitsapparat keine Führer kaltstellen kann, die es nicht gibt. Der Held ist die Masse. Nur lässt sich von einer Masse so schlecht erzählen.

Revolution ohne Blutvergießen

In "Hamilton" reflektiert der Held vor der entscheidenden Schlacht über seine Kindheitssehnsucht nach Krieg: "Sollten sie einmal meine Geschichte erzählen, dann weil ich ruhmreich auf dem Schlachtfeld gestorben bin – oder nach oben gekommen". Der Gemüsehändler Mohammed Bouazizi, der sich 2011 selbst verbrannte, galt schnell als Auslöser des gesamten Arabischen Frühlings. Wer von Helden spricht, kann vom Heldentod nicht schweigen.

In den Gefängnissen der Stasi wanden sich Menschen unter Folter, im Todesstreifen zwischen DDR und BRD wurden Flüchtlinge hinterrücks erschossen, aber während der Revolution selbst fiel kein Schuss.

Die Angst war da, vor den Volkspolizisten, die prügelten und verhafteten, vor der Stasi, aber vor allem vor der "chinesischen Lösung". "Davor hatten die Menschen Angst, unter die Euphorie mischte sich viel Anspannung", erinnert sich Roland Jahn. "Ich wusste nicht, ob ich abends nach Hause komme, wenn ich auf die Straße ging", sagt Katrin Göring-Eckardt.

Im Juni 1989 hatte das chinesische Politbüro Panzer auf dem Tiananmen-Platz aufrollen lassen und Tausende getötet. Man weiß, dass es Überlegungen gab in der Führung der DDR, die friedliche Revolution ebenfalls mit Waffen niederzuschlagen – so wie 1953 in der DDR. Oder 1956 in Budapest. Oder 1968 in Prag.

Aber Gorbatschow wollte es nicht, die DDR-Führung am Ende auch nicht, oder zumindest nicht alle in ihr. Die Gewaltfreiheit, die ohne die Gewaltfreiheit der Revolutionäre undenkbar gewesen wäre, macht diese Revolution so außergewöhnlich und strahlend, aber zugleich auch so schwer zu erzählen.

Ankunft in einem post-heroischen Land

Natürlich war die Situation auch deshalb außergewöhnlich, weil es diesen Fixpunkt im Westen gab: Die Grenzen gingen auf, die Massen machten rüber, wie es Tausende seit Monaten getan hatten. Sie kamen in ein Land, das sich unter sanftem Zwang der Westalliierten gerade erst mühsam den Glauben an Ehre und Stolz abtrainiert hatte, an Martyrium und Opferwille, an Pflichterfüllung und Heldenmut, an Soldatentum und Erbfeindschaft.

Die Revolutionäre fuhren in ein Land, das von Helmut Kohl regiert wurde, den man Birne nannte. Einen Helden nennt niemand Birne. Wenn der Held in dieser post-heroischen Gesellschaft noch vorkommt, dann in Gestalt des "Helden des Alltags", der kein Übermensch ist, sondern nur einer mit dem Herz am rechten Fleck und einer eigenen Awardshow, zur besten Sendezeit im Ersten, moderiert von Jörg Pilawa.

Ist das schlecht? Oder ist es genau so, wie es sein sollte in einer Gesellschaft der Freien und Gleichen?

Scheußliche Männer haben oft Revolutionen und Revolutionen haben oft scheußliche Männer hervorgebracht. Lenin war ein scheußlicher Mann und Stalin, der ihm folgte, war noch scheußlicher. Im jakobinischen Frankreich wurde geköpft, in Ajatollah Chomeinis Iran wird gesteinigt, in Castros Kuba landen Journalisten im Knast, und auf den Plantagen der Vereinigten Staaten wurden Sklaven ausgepeitscht. Selbst Lech Walesa ist heute Reaktionär.

Pastoren wie Christian Führer, Frank Richter oder Friedrich Schorlemmer, Künstlerinnen wie Bärbel Bohley oder Kurt Masur, Autorinnen wie Katja Havemann brachten die friedliche Revolution und die friedliche Revolution brachte Männer wie Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble, Johannes Rau und Peter Struck und Frauen wie Angela Merkel. Das ist eine unaufregende Geschichte, aber alles in allem keine schlechte Bilanz.

Keine Lust auf einen Neuanfang

Eine post-heroische Gesellschaft zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass sie Helden argwöhnisch beäugt, sondern auch dadurch, dass sie "sich erinnert daran, dass sie mal heroisch war", schreibt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Sie zieht Kraft aus der Vergewisserung, dass sie gelernt hat. Wenn Deutschland stolz ist, dann darauf, sich seiner Schuld gestellt zu haben.

Nun brach wieder Geschichte ein in das Land, das derart zu sich gefunden hatte. Die deutsche post-heroische Gesellschaft roch den Gestank von Trabbis und sie hatte keine Lust auf eine selbstbewusste Wir-Geschichte. Oder einen Neuanfang. Sie hatte ja schon einmal neu anfangen müssen und es sich im Wirtschaftswunder bequem gemacht.

Werner Schulz erinnert sich an die Widerstände im Westen: "Die Konservativen um Kohl hatten Sorge vor dem Veränderungselan und Ideen wie dem Recht auf Arbeit. Die post-nationalen Linken und Liberalen sahen sich von den schwarz-rot-goldenen Farben bedrängt."

Der Revolutionsbegriff, schrieb die Philosophin Hannah Arendt, sei "unlösbar der Vorstellung verhaftet, daß sich innerhalb der weltlichen Geschichte etwas ganz und gar Neues ereignet, daß eine neue Geschichte anhebt." Nur konnte in Ostdeutschland keine neue Geschichte anheben.

Die friedliche Revolution fraß ihre Kinder nicht, sie löste nur alles auf, worin die Kinder waren. Wie oft gibt es das, dass ein Volk eine Revolution macht und dann wird es geschluckt? Dass Revolution nicht der Beginn von etwas ist, sondern vor allem das Ende?

Westdeutschland nahm die DDR in sich auf und das Ergebnis war kein neues Land, sondern das alte, mit ein paar neuen Menschen.

Ein Denkmal für die Revolution gibt es in diesem alten neuen Land bis heute nur auf Plänen. Wolfgang Thierse, der ehemalige Bundestagspräsident, der sich im Oktober 1989 dem Neuen Forum anschloss, wird wütend, wenn er darüber spricht: "Es gibt genügend Leute, die sagen, das Brandenburger Tor sei das Wiedervereinigungsdenkmal", sagt er. "Das ist die typische westdeutsche Abschätzigkeit und Missachtung gegenüber der friedlichen Revolution."

Normalitätslust der Massen

Das stimmt mit hoher Wahrscheinlichkeit, zumal der Westen gerade dabei war, den Wettstreit der Systeme zu gewinnen und an den Beweis seiner Überlegenheit glaubte. Aber natürlich ist alles komplizierter, denn die Revolutionäre wurden nicht nur vom Westen überwältigt, sondern auch von den von ihnen befreiten Massen. "Die wesentlichen Ziele der Revolution sind erreicht worden", sagt Werner Schulz. "Aber das gesellschaftliche Gespräch, das danach anhob, wurde abrupt abgebrochen."

Revolutionseifer verschwand hinter Normalitätslust auf das gute Leben des Westens. Während die Bürgerrechtler noch diskutierten, wie es weitergehen könnte im Land, wählten die Leute im März 1990 Helmut Kohl.

"Das war Volkes Wille, aber der hat eine behutsame Erneuerung unmöglich gemacht. Es war eine Dynamik im Gange, die selbst die Bürgerrechtler, die eine Reform innerhalb der DDR wollten, überrollt hat", sagt Roland Jahn. "Ich habe das Gefühl, ich kenne fast alle persönlich, die damals das Beste aus beiden Systemen wollten, so wenige waren das", sagt Katrin Göring-Eckardt. Kommt die D-Mark nicht zu uns, kommen wir zu ihr. Die D-Mark kam und die Wirtschaft kollabierte. Die Treuhand wickelte die Wirtschaft ab.

Das alles wäre vielleicht so oder so passiert. Aber die Frage ist: Hätte die Revolution in dieser Lage stärker etwas sein können, das zusammenhält, was auseinanderfiel? Hätte man diesen Aufbruch symbolisch verarbeiten können? Wäre dann manches heute anders zwischen Ost und West, gäbe es Ost und West überhaupt noch in dieser Form?

Was wäre möglich gewesen?

"Ich habe an einem Verfassungsentwurf des runden Tisches mitgearbeitet, für ein gemeinsames Deutschland mit einer wirklichen demokratischen Gründungslegende", sagt Werner Schulz. "Dieser historische Moment ist verspielt worden, das tat weh." Was wäre heute anders? "Niemand könnte behaupten, dass er Bürger zweiter Klasse ist. Es hätte die Ostdeutschen stolz gemacht, wenn sie nicht nur verschlissene Betriebe, eine marode Infrastruktur und einen Keller voller Stasi-Akten in diese Einheit eingebracht hätten."

Das wäre eine Möglichkeit gewesen, eine neue Verfassung nach Artikel 146 des Grundgesetzes, kein Beitritt der neuen Länder nach Artikel 23. Natürlich wären die Folgen unkalkulierbar gewesen. Wer weiß schon, was Helden anrichten und ob sie zu scheußlichen Männern werden? Wer kann voraussagen, was Heroismus mit einem Land macht, was eine neue Gründungserzählung und ob man zwei davon haben kann?

Vielleicht hätte es andere Möglichkeiten gegeben, aus dieser Revolution mehr zu machen.

So oder so wächst das Bewusstsein dafür, dass ja etwas passiert ist im Herbst 1989, und in den Jahren danach. Vom Westen aus konnte man das vergessen. Im Osten nicht. Die Revolution war zu groß, ihre Gravitationskraft zu stark, die Erfahrung zu intensiv, um keine symbolische Bedeutung zu haben, um vergessen im Keller der Geschichte zu verstauben.

"Erzählend entwickeln wir unsere Vorstellung von uns selbst", schreibt die Publizistin und Philosophin Carolin Emcke, die sich intensiv mit der Erzählbarkeit von Erfahrungen befasst hat: "Von unserer Herkunft erfahren wir durch Geschichten, die erinnerten, die erfundenen, unserer Vorfahren, von uns selbst erfahren wir durch die Reaktionen der anderen." Wenn die wichtigste Reaktion Indifferenz ist, erfahren wir auch dadurch etwas.

Man kann sein Leben nicht nicht erzählen und man kann eine Revolution nicht nicht erzählen. Die Frage ist deshalb nicht, ob eine Revolution ein Land prägt, sondern wie.

Das Finale von "Hamilton", das allerletzte Lied dieses modernen Revolutionsepos‘, trägt den Titel: "Who lives, who dies, who tells your story". Wer erzählt deine Geschichte? Wer sorgt dafür, dass etwas bleibt?

Wut als einziger Bezugspunkt

Ein Satz ist wirklich geblieben von der Revolution, ein einziger ikonischer Slogan: "Wir sind das Volk!" Aber er hat seine Unschuld verloren, seit er zum Ruf der rechtsextremen Pegida-Demonstrationen wurde und damit vom Schrei nach Selbstermächtigung, zum Ruf nach Gängelung der anderen.

Die AfD wirbt heute damit, die Wende zu vollenden. Wenn radikale Rechte kritisiert werden, behaupten sie, es sei wieder so wie in der DDR. Merkel wird mit der SED verglichen. 58 Prozent der Ostdeutschen sagen, dass sie heute nicht besser vor staatlicher Willkür geschützt seien als damals, im Willkürstaat DDR.

Man hat den Eindruck, dass von der glorreichen Revolution aller Glanz abgefallen ist, dass als Bezugspunkt heute nur mehr die Wut geblieben ist.

"Ich persönlich habe das Gefühl, ich habe einmal im Leben eine Revolution gemacht, wow, machen wir doch die nächste! Aber ich erlebe oft eine andere Haltung, eine drohende: Ich habe einmal eine Revolution gemacht, und passt bloß auf, wir können das nochmal!", sagt Katrin Göring-Eckardt.

Das Fehlen einer positiven Revolutionsgeschichte fällt plötzlich wirklich auf, jetzt da die radikale Rechte versucht, die Lücke mit eigenen Deutungen zu füllen.

Aus dem Neuen, das nach Revolutionen anhebt, entsteht "eine neue Geschichte, begonnen, wenn auch nicht intendiert von handelnden Menschen", schreibt Hannah Arendt, "die sie nun weiterführten, anreicherten und ihren Nachkommen überlieferten, dass sie den einmal geschlagenen Faden weiter in die Zukunft spinnen möchte".

Wie lässt sich der Faden dieser Geschichte spinnen?


"Die Gesellschaft steht vor zwei riesigen Transformationen, der digitalen und der ökologischen. Jetzt wäre für alle ohne Revolutionserfahrung ein guter Moment, die Erfahrung der Ostdeutschen mit Umwälzungen zu nutzen und zu lernen, wie man mit so etwas umgehen kann", sagt Katrin Göring-Eckardt. "Die meisten Ostdeutschen haben das ja bemerkenswert gut hingekriegt. Als Gesellschaft dürfte man ruhig auch vermitteln: Wir wollen von euch lernen. Wir sind auf euch angewiesen."

Vielleicht wäre das der Weg, aus der Revolution auf den Straßen, nach 30 Jahren, doch noch eine Revolution in Gedanken zu machen.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Gespräche mit Katrin Göring-Eckardt, Roland Jahn, Werner Schulz, Wolfgang Thierse
  • Deutschlandfunk: "Ich konnte richtig aggressiv sein", Interview mit Detlef Scheunert
  • Hannah Arendt: Über die Revolution
  • Carolin Emcke: Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF
  • Carolin Emcke: Weil es sagbar ist. Essays übers Zeugenschaft
  • Lin-Manuel Miranda: Hamilton
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