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Zum journalistischen Leitbild von t-online.TV-Kritik "Anne Will" zum Brexit "Das ist die Chance der jungen Menschen"
Am Freitag könnte tatsächlich der harte Brexit Realität werden. In Nordirland werden alte Ängste wach. Ein kurioser Hoffnungsschimmer: Das britische Votum bei der Europawahl.
Die Gäste
- Ursula von der Leyen (CDU), Bundesverteidigungsministerin
- Günter Verheugen (SPD), ehemaliger EU-Kommissar
- Philippa Whitford, Abgeordnete der Scottish National Party, gegen Brexit
- Greg Hands, Tory-Abgeordneter, für Brexit
- Annette Dittert, Leiterin des ARD-Studios London
Die Positionen
Können Sie noch? Muss ja. Denn jetzt hängt wirklich (mal wieder) alles von den nächsten Tagen ab. Tut sich in London und Brüssel nichts, tritt das Vereinigte Königreich am Freitag ohne Abkommen aus der Europäischen Union aus. "Dass die Insel am Freitag mit einem No Deal rauscrasht – auch das ist nicht ausgeschlossen", meinte ARD-Korrespondentin Annette Dittert.
Günter Verheugen rechnet hingegen fest damit, dass Theresa May eine erneute Fristverschiebung bis 30. Juni erreicht. Der ehemalige EU-Kommissar stellte der EU kein gutes Zeugnis aus. "Brüssel hat ein Lehrstück dafür geliefert, wie man nicht mit einem Mitgliedsland umgehen darf, das raus will", kritisierte er. "Die Probleme liegen nicht auf der britischen Seite. Die Probleme liegen auf der Seite der EU." Denn die Union diktiere Vorbedingungen, die für London nicht akzeptabel seien, darunter einen Europäischen Gerichtshof sowie keine Mitsprache bei der Handelspolitik.
Das würden sie alles zur Disposition stellen?, fragte die Moderatorin nach. Zumindest zur Diskussion, erwiderte Verheugen. "Wir verlieren nicht ein Mitglied, wir verlieren das Gewicht von 20 Mitgliedsstaaten", mahnte er mit Blick auf die britische Wirtschaftskraft: "Wir haben ein Interesse daran, dass wir die engstmöglichen Verbündeten bleiben."
Das unterschrieb auch Ursula von der Leyen, wies allerdings Verheugens Brüssel-Rüffel zurück. Sie warnte vor dem Brexit als dem denkbar schlechtesten Start für die zukünftige Beziehung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich. Beide Seiten müssten sich auf die gemeinsamen Werte, Positionen und Interessen bei so wichtigen Themen wie China, internationalem Terrorismus oder Digitalisierung besinnen. "Wir haben eine lange Zukunft vor uns", mahnte die Verteidigungsministerin.
Der Aufreger des Abends
Würde der Brexit erneut verschoben, müsste Großbritannien eventuell an den Europawahlen Ende Mai teilnehmen. "Das wäre einfach lächerlich", meinte Mays Parteifreund Greg Hands und warnte Europa. Würde sein Land an die Urnen gezwungen, würden noch mehr EU-Gegner in das Parlament gewählt. Diese Kausalität stieß in der Runde auf heftige Gegenwehr. Von der Leyen wollte die Europawahlen zwar nicht zum heimlichen zweiten Referendum über den Austritt hochstilisieren. Sie sah aber eine Chance: "Ich bin der festen Überzeugung, dass die jungen Menschen klar für Europa abstimmen werden." Die hätten verstanden, dass sie ein Signal gegen Spaltung setzen könnten. "Das ist die Chance der jungen Menschen", sagte von der Leyen.
Auch Dittert sprach von einer jungen Generation, die so pro-europäisch sei wie lange nicht mehr: "Die Stimmung in Großbritannien hat sich doch geändert."
Das Zitat des Abends
Viele Sorgen bezüglich des Brexits erscheinen in weiten Teilen der EU noch als graue Theorie. Ganz anders sieht das in Nordirland aus. Dort weckt die Möglichkeit einer harten Teilung der Insel traumatische Erinnerungen an Jahrzehnte des Terrors und Tausende von Toten. Die schottische Brexit-Gegnerin Philippa Whitford wurde in Belfast geboren und hat dort noch Verwandtschaft. Sie weiß: "Die Leute haben wirklich wieder Angst."
Während Verheugen meinte: "In Wahrheit, bei gutem Willen, ist dieses Nordirland-Problem nicht so furchtbar schwer", sah von der Leyen darin weit mehr als einen nervigen Stolperstein auf dem Weg zu einer Lösung. Sie sprach von einer "Grenze, die keine sein soll, an der so viel Blut geflossen ist". Würden Irland und Nordirland durch eine europäische Außengrenze ohne spezielle Regelungen getrennt, hätte das unabsehbare Folge: "Die alten Wunden würden alle wieder aufgerissen werden."
Der Faktencheck
Whitford verwies auf die historische Bedeutung des Karfreitagsabkommens für die Menschen in Irland und Nordirland. Die Republik Irland verzichtete im April 1998 auf ihre Forderung nach einer Wiedervereinigung. In den 20 Jahren danach wurde die Grenze im Alltag immer mehr zur bloßen Theorie. Waren werden selbstverständlich im Nachbarland weiterverarbeitet und wieder zurück geschickt, der Strommarkt ist generell vereinheitlicht.
Dieser rege Austausch hinterlässt Spuren und verwischt Trennlinien. "Es gibt rund 275 (Land-)Grenzübergangsstellen zwischen Nordirland und der Republik Irland", informiert das Europäische Parlament. "Zum Vergleich: An der gesamten Ostgrenze der Europäischen Union, also von Finnland bis Griechenland, zählt man nur 137 Grenzübergänge." Laut dem Karfreitagsabkommen haben alle in Nordirland geborenen Bürger bei der Staatsbürgerschaft die Wahl: britisch, irisch oder beides. Nordiren mit britischem Pass werden nach dem Brexit einen anderen Status innehaben als Landsleute mit irischem Pass, die sich plötzlich außerhalb der EU wiederfinden.
Im Januar explodierte im nordirischen Londonderry eine Autobombe. Es wurden IRA-Dissidenten hinter dem Anschlag vermutet, ein Zusammenhang zum Brexit ist aber nicht bewiesen. Die Detonation nahe der inneririschen Grenze weckte dennoch umgehend böse Erinnerungen – auch wegen der Symbolkraft des Tatorts, jener Stadt, die Anhänger eines geeinten Irlands bei ihrem alten Namen "Derry" nennen.