"Anne Will" zu Greta Thunberg "Es sollten noch mehr Schüler schwänzen"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Klima-Talk, seltene Gäste und mittendrin ein Interview mit Greta Thunberg: Das Protokoll einer ungewöhnlichen "Anne Will“-Sendung.
Die Gäste
• Reiner Haseloff (CDU), Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt
• Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Parteivorsitzender
• Therese Kah, "Fridays for Future"-Aktivistin
• Wolfgang Kubicki (FDP), Stellvertretender Bundesvorsitzender
• Harald Lesch, Astrophysiker, Wissenschaftsmoderator und Autor
Die Fronten
Seit Wochen diskutiert die Republik über Klimapolitik. Oder geht es mehr um die Schulpflicht, weil die jungen Aktivisten freitags dem Unterricht fernbleiben? Die Studentin und Aktivistin Therese Kah fand jedenfalls nicht, dass die Schüler viel verpassen: "Jeder ist in der Lage, das selbst einzuschätzen, ob es ihm schadet. "In der Regel würden auch keine Klausuren geschwänzt. Für Lesch sind die Schüler die einzigen, die die Wissenschaft wirklich ernst nehmen: "Es sollten noch mehr Schüler schwänzen“, befand der Physiker. Ganz anders sah es der sachsen-anhaltinische Ministerpräsident Haseloff: "Ich würde den Schülern lieber sagen, macht in der Zeit Physik, Meteorologie, Klimapolitik, damit ihr für die Zukunft gewappnet seid.“
Genau der falsche Weg für Kah. Alle wissenschaftlichen Szenarien zeigten klar, dass das 1,5-Grad-Ziel nur dann erreicht werden könne, wenn sofort gewaltige Anstrengungen unternommen würden. "Wir haben nicht die Zeit zu warten, bis mein Studium fertig ist", sagte Kah und erntete dafür Applaus.
Was sagt die schwedische Aktivistin Greta Thunberg? Will wagte einen ungewöhnlichen Bruch und zeigte den Ausschnitt eines mit ihr geführten Interviews, indem die 16-Jährige ihre Methoden verteidigte. Sie habe gar keine Bewegung starten wollen, gab Thunberg zu Protokoll. "Ich bin Realistin. Ich weiß, was getan werden muss, und dann tue ich es einfach."
Ob sie erwarte, dass sich jetzt alle grundsätzlich ändern und zum Beispiel – so wie sie – nur noch mit dem Zug fahren? "Wenn die Menschen alle Fakten kennen, können sie selbst entscheiden." Die Vorwürfe, sie werde von anderen Menschen manipuliert, nannte sie "traurig“. Sie schreibe natürlich ihre Reden selbst, hole sich nur manchmal Informationen von Wissenschaftlern. Sie erwarte auch einen Rückgang des allgemeinen Interesses. "Ich werde nicht mehr so sehr im Fokus der Medien stehen.“
Der Aufreger des Abends
Tut die deutsche Politik genug gegen den Klimawandel? Haseloff lobte wiederholt den Kompromiss zum Ausstieg aus der Kohleenergie, wie sie die sogenannte Kohle-Kommission vor kurzer Zeit beschlossen hatte. Dieser Kommission hatte er selbst angehört. Ist der beschlossene Ausstieg ein Erfolg? Für Habeck passiert eindeutig zu wenig. "Wir sind dabei, die selbst gesteckten Klimaziele nicht einzuhalten. "Im letzten Wahlkampf hätte die Bundeskanzlerin noch gesagt, man schaffe das. "Nur um dann später zu sagen, ich habe 2030 gemeint" –, um nicht 2020 als Zeitlimit für die Reduktion der Treibhausgase festzulegen.
Haseloff und Kubicki stellten sich gegen einen schnelleren Kohleausstieg. Dies gefährde Arbeitsplätze. "Überall dort, wo Menschen Angst haben um die eigene Existenz, wählen sie radikal“, sagte Kubicki. Besser als Verbote sei es etwa, bestimmte Energie teurer zu machen. "Menschen reagieren auf Preissignale."Habeck war nicht überzeugt. "Das dümmliche Entgegensetzen von Wohlstand und Klimaschutz ist ein Rückfall in die Sechzigerjahre."
Ein Einspieler lieferte ihm weitere Argumente: Verkehrsminister Scheuer muss ändern, dass in seinem Ressort bisher überhaupt kein CO2 eingespart wird – im Gegenteil. Dennoch will er weder eine Erhöhung der Spritsteuern noch ein Tempolimit auf Autobahnen. Wasser auf die Mühlen Kahs, die Scheuers Papier zu geplanten Einsparungen kommentierte: "50 Prozent der Einsparungen kann er nicht definieren. "Selbst Haseloff zeigte sich nicht ganz zufrieden mit dieser Entwicklung. "60 Prozent der Einsparungen nach 1990 kamen aus den neuen Bundesländern durch industriellen Rückbau. "Da schauten die Länder im Osten genau hin, was im Verkehrssektor und im Westen passiere.
Der Faktencheck
Baut Indien in den nächsten Jahren 100 neue Kohlekraftwerke? Diese Zahl stellte Kubicki in den Raum, Habeck zweifelte sie an. Aufschluss gibt der Blick in einen aktuellen Bericht der US-amerikanischen Forschungseinrichtung Institute for Energy Economics and Financial Analysis IEEFA: Im August zählten die Wissenschaftler 39 im Bau befindliche indische Kohlekraftwerke. Weitere 63 seien bereits genehmigt. Zusammen macht das 99. Allerdings würden diese nicht – wie Kubicki argumentierte – gebaut, um den wachsenden Bedarf an Strom zu decken. Das schaffe das Land dank großen Investitionen in die erneuerbaren Energien allein. Vielmehr müssen die neuen Kraftwerke stillgelegte Einrichtungen ersetzen.
Laut einer nationalen Strategie gehen bis 2028 Kohlekraftwerke einer Gesamtleistung von 48 Gigawatt vom Netz. Zeitungsberichten zufolge sind viele geplante Kohlekraftwerke aufgrund des Preisverfalls bei Solarpanels unrentabel geworden. Deshalb würden weit weniger entstehen als noch vor einigen Jahren geplant. Dies gibt wiederum Habeck recht, der diese Entwicklung in der Sendung ansprach.
- Financial Times: India's renewable rush puts coal on the back burner (kostenpflichtig)
- Institute for Energy Economics and Financial Analysis: India coal plant cancellations are coming faster than expected