Erdogan-Flüchtlinge Auch in Deutschland bleibt die Angst
Tausende Erdogan-Gegner beantragen in Deutschland Asyl. Sie fliehen vor Verfolgung und Benachteiligung in der Türkei. Doch auch hier müssen sie mit Problemen rechnen.
Murat T. hat sechs Monate in einem türkischen Gefängnis gesessen, versteckte sich nach seiner Freilassung und flüchtete dann nach Deutschland. Bis zum Juli 2016, so sagt er, arbeitete Murat T. als Rechtsberater eines Verbandes, mit seiner Familie lebte er in einem Nobelviertel. Nun sitzt er in einer kleinen Wohnung nahe Köln. "Hilfe kommt von denen, die vor uns Ähnliches erleben mussten", sagt Murat T. "Sie haben ein Netzwerk für die Neuankömmlinge gebildet."
Es gebe eine "große Solidarität", sagt die deutsch-türkische Journalistin Hüseyin Topel. Doch wer hilft den Asylbewerbern, wer unterstützt sie dabei, Anträge zu stellen? "Das können kurdischstämmige Menschen sein, Oppositionelle, Leute, die sich der Gülen-Bewegung nahe sehen, auch Unternehmer. Und viele Deutsche", sagt Topel. Die Menschen würden den Geflüchteten dabei helfen, eine Wohnung und Arbeit zu finden oder einen Kita-Platz für die Kinder.
"Wir meiden die türkische Community"
Helfen lasse sich T. nur von Menschen, denen er vertraue, sagt er. "Wir treten nur mit Menschen in Kontakt, die uns von Vertrauten vermittelt werden. Wir meiden die türkische Community, die hier seit Langem lebt. Es wäre sonst wohl nicht zu verhindern, dass uns jemand an die Regierung verrät." Es gebe viele Deutsch-Türken, die sich von den türkischen Medien manipulieren ließen. "Sie scheinen Erdogan jedes Wort zu glauben."
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wütet seit dem Putsch im Juli 2016 gegen die Opposition in der Türkei. Etwa 150.000 Beamte wurden suspendiert oder entlassen, 50.000 Menschen inhaftiert.
"Misstrauen ist ein Zustand, mit dem wir jetzt seit zwei Jahren leben müssen", sagt die 40-jährige Selina, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte. In der Türkei leitete sie ein Geschäft. Auch nach einigen Wochen in Deutschland sei sie misstrauisch. "Wir wurden bespitzelt, haben gute alte Freunde verloren, wurden denunziert als angebliche Gülen-Anhänger." Ihr Sohn blieb in der Türkei. Er will dort sein Abitur erhalten. Selina sorgt sich um ihn.
Erdogans Kritiker gelten als Landesverräter
Als Jurist, sagt Murat T., habe er dagegen gehalten, wenn demokratische Werte entsorgt werden sollten. Das sei wohl der Grund dafür, dass er verfolgt und inhaftiert wurde. Wie die Gesellschaft in der Türkei, seien auch die türkischen Flüchtlinge in Deutschland in zwei Lager geteilt. Jene, die Erdogan kritisieren, und jene, die zu dem türkischen Präsidenten halten.
In der Türkei arbeitete Canan A. als Lehrer. Nun lebt er unweit von Düsseldorf. Mit "oppositionellen Kreisen" wolle er nichts zu tun haben, sagt A. Das brauche er auch nicht. "Mir wird von der Diakonie viel geholfen." Die Kirchengemeinde unterstütze ihn etwa dabei, dass sein Studienabschluss anerkannt werde.
Doch Netze mit vertrauten Helfern brauche es noch lange, sagt Topel. Denn sie glaubt nicht, dass Erdogan seine Politik ändern werde. "Wer sich kritisch über Regierung oder Regierungsmitglieder äußert, wird zum Landesverräter gestempelt", sagt sie. Auch deshalb reise sie derzeit nicht in die Türkei. Ihr Ziel bleibe es, "Erdogans scharfe Rhetorik, Symbolpolitik und gefälschte Informationen in gleichgeschalteten Medien mit Fakten zu demaskieren".
"Wir werden Deutsch lernen"
Es gibt viele Geschichten wie die von Murat T., Selina und Canan A. Seit 2016 haben 15.654 Türken in Deutschland Asyl beantragt. Und es werden immer mehr. Im Januar und Februar dieses Jahres seien 1.429 Asylanträge von Türken eingegangen, teilt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit. Fast jeder zweite Antrag wird bewilligt. Viele der Asylbewerber seien gut ausgebildet. In der Türkei arbeiteten sie als Ärzte, Beamte, Diplomaten oder Unternehmer wie Murat T.
"Nach den vor vielen Jahren als Gastarbeiter eingewanderten Türken kommen jetzt Menschen aus gehobenen Bildungsschichten nach Deutschland", sagt T. "Wir haben Ambitionen, wir werden Deutsch lernen, die Wirtschaft hier unterstützen, etwas zurückgeben, Unternehmen gründen." In Deutschland bleiben. Das will auch Canan A. Dann spricht der Lehrer über seinen Grund dafür: Die Demokratie in der Türkei sei "zerfetzt" worden.
Hinweis der Redaktion: In einer ersten Version des Artikels hatten wir die Journalisten Fatih Aktürk und Hüseyin Topel fälschlicherweise als türkische Flüchtlinge bezeichnet. Wie bitten, das Versehen zu entschuldigen.
- dpa
- Asylgeschäftsstatistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge