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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Hartz-IV-Debatte bei "Hart aber fair" Das Finanzielle ist für viele nicht das Schlimmste
Kinobesuche, Klassenfahrten für die Kinder oder mal was Schickes zum Anziehen: Hartz IV-Empfänger können sich das kaum leisten. Aber sind sie deshalb arm? Das diskutierte Frank Plasberg mit seiner Runde. Die wichtigsten Thesen im Faktencheck.
Eine TV-Kritik von David Heisig
Die Gäste
• Sandra Schlensog, Hartz-IV-Empfängerin
• Sina Trinkwalder, Sozialunternehmerin
• Michael Müller (SPD), Regierender Bürgermeister von Berlin
• Hans-Werner Sinn, Ökonom
• Alexander Krauß (CDU), Bundesvorstand der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft
Die Fronten
Wann ist ein Mensch arm? Wenn er hungern muss? Dann gibt es in Deutschland keine Armut. Für Plasberg eine zu einfache Conclusio. Er formulierte es diffiziler: Demnach könnte arm sein, wer jeden Groschen dreimal umdrehen muss. Hartz-IV-Empfänger zum Beispiel. Hartz IV bedeute nicht Armut – das jedenfalls sei die Position von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), so Plasberg. Laut dem Unionsmann bekomme jeder vom Sozialstaat, was er zum Leben brauche.
Sinn warnte jedoch, man dürfe Spahns Aussagen nicht verkürzen. Dieser habe gesagt, Hartz IV sei der Beitrag der Solidargemeinschaft, Armut zu bekämpfen. Schlensog musste das wie Hohn vorkommen. Sie lebt als Alleinerziehende mit ihrem Sohn von 1.149 Euro im Monat inkl. Miete, Heizung und angerechnetem Elterngeld. Daher auch ihre Onlinepetition, in der sie Spahn aufruft, einen Monat von Hartz IV zu leben.
Je länger die Sendung ging, umso klarer durfte im Zuschauer die Erkenntnis reifen: Die Diskutanten wollten mit ihren Standpunkten polarisieren, hoben aber keine unüberbrückbaren Gräben aus. Gefühlt war man sich nämlich einig. Beispiel gefällig? Für Müller war klar: Hartz IV verwalte Arbeitslosigkeit nur. Sinn konterte, die Agenda sei ein Erfolg, weil die Arbeitslosigkeit heute so gering wie in den letzten 20 Jahren nicht sei. Jeder der arbeiten wolle, solle arbeiten können. Das brachte alle Teilnehmer auf einen Nenner. Arbeit beugt Armut vor.
Der Aufreger des Abends
Ein bisschen kabbeln durften sich die Diskutanten aber schon: Krauß plädierte für Ehrlichkeit. Hierzu gehöre, dass "manche nicht arbeiten wollen", sich es in Hartz IV bequem machten. Immerhin gebe es 1,1 Millionen freie Stellen in Deutschland. "Das kann man doch nicht über einen Kamm scheren", echauffierte sich Schlensog. Auch Trinkwalder empörte sich. Viele dieser Stellen führten zu prekären Beschäftigungsverhältnissen. Arbeitnehmer müssten ihre geringen Löhne noch aufstocken.
Das Finanzielle sei aber nicht mal das Hauptproblem, so Schlensog. Vielmehr sei sie von "gesellschaftlicher Teilhabe" ausgeschlossen, befinde sich am Rande der Gesellschaft und spüre "immer diese Existenzangst". Trinkwalder sprang ihr bei. Was Hartz-IV-Empfänger verwehrt bliebe, sei die Chance auf "soziale Teilhabe". Das "letzte Quäntchen soziales Gefühl" sei "mit Hartz IV ausgezogen", legte sie nach.
Soziale Teilhabe sei möglich, legte Krauß nach und benannte Ermäßigungsprogramme für Hartz-IV-Empfänger. Es sei ein Unterschied, "ob ich Leistungsempfänger bin oder ich mich aktiv einbringen kann", so Müller. Trinkwalder nickte da vehement. Krauß konterte mit den Geringverdienern, die mit ihren Steuern Sozialausgaben wie Hartz IV mitfinanzierten, selbst aber nicht "zum Amt gehen" würden. Die kämen "schlechter weg" als "manch Hartz-IV-Empfänger". Viele schämten sich eben, Gelder zu beantragen, konterte Trinkwalder. In die Rolle des Bittstellers schlüpfe niemand gern.
Der Faktencheck
Wir checken die Fakten für die Runde: Der Soziologe Stefan Liebig ist auch überzeugt, die Sozialdebatte orientiere sich zu sehr am Finanziellen. Es ginge vielmehr um den Respekt, den man Hartz-IV-Empfängern entgegenbringen müsse. Die stetige Not, eigene Bedürftigkeit nachweisen zu müssen, führe zu einer Stigmatisierung. Der User "auch Hartz4" bringt Ähnliches im Gästebuch zur Sendung auf den Punkt. Allein Urlaub beim Sachbearbeiter zu beantragen sei "psychisch schwer zu ertragen".
Viele Langzeitarbeitslose könne man indes nicht mehr im ersten Arbeitsmarkt integrieren, so Liebig weiter. Daher müsse es einen staatlich geförderten Arbeitsmarkt geben. Viele erhielten ihr Geld lieber von einem Arbeitgeber als von einem Amt. Der Sozialverband VdK unterstreicht das: Soziale Arbeitsmarktpolitik sollte wesentlicher Bestandteil der Sozialpolitik sein. Zudem sei das deutsche Jobwunder mit geringen Arbeitslosenzahlen durch Minijobs und Teilzeitbeschäftigungen erkauft, die in eine "Erwerbssackgasse" führten.
Auch katholische Sozialverbände, wie die Caritas, betonen, trotz sinkender Arbeitslosenzahlen seien viele Hartz-IV-Empfänger von den positiven Entwicklungen abgehängt. Das Recht auf soziale Teilhabe soll neben der finanziellen Mindestsicherung im Zweiten Sozialgesetzbuch verankert werden.
- Interview mit dem Soziologen Stefan Liebig auf "Zeit Online"
- Gästebuch der Sendung "Hart aber fair"