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Zirkeltag: "DDR-Bürger fühlten sich als Menschen zweiter Klasse"


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Roland Jahn über Stasi-Strukturen
"Es gibt Gruppierungen mit Ehemaligen"

Patrick Diekmann

Aktualisiert am 05.02.2018Lesedauer: 9 Min.
Roland Jahn im Gespräch: Nach Gefängnisstrafe und Sippenverfolgung in der DDR, war für den heutigen Chef der Stasiunterlagenbehörde die Wende eine besondere Genugtuung.Vergrößern des Bildes
Roland Jahn im Gespräch: Nach Gefängnisstrafe und Sippenverfolgung in der DDR, war für den heutigen Chef der Stasiunterlagenbehörde die Wende eine besondere Genugtuung. (Quelle: dpa-bilder)
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In der DDR saß er als Bürgerrechtler im Gefängnis, heute ist er Herr über die Stasi-Akten. Ein Gespräch mit Roland Jahn über Reue, das Leid seiner Familie und das Überleben in einer Diktatur. Das Erbe der deutschen Teilung ist laut Jahn auch der Grund für die Fremdenfeindlichkeit im Osten.

Roland Jahn (64) hat eine bewegte Vergangenheit: In der DDR wurde der SED-Gegner und Bürgerrechtler vom Studium ausgeschlossen. Nach Protesten kam er sechs Monate ins Gefängnis und wurde 1983 gewaltsam ausgebürgert. Im Jahr 2011 wurde er Chef der Stasiunterlagenbehörde (BStU) und kämpft seitdem um Aufklärung der Prozesse bei der einstigen Geheimpolizei in der DDR. Auf welchem Stand ist dieser Prozess? Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Erben der deutschen Teilung und der steigenden Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern? Über diese Themen spricht Roland Jahn mit t-online.de anlässlich des "Zirkeltages".

t-online.de: Herr Jahn, am sogenannten "Zirkeltag" ist die Mauer genauso lange weg, wie sie Deutschland trennte. Woran denken Sie, wenn Sie an Ihr Leben in der DDR zurückdenken?

Roland Jahn: Es ist von heute aus betrachtet eine erschreckende Erkenntnis, wie sehr wir uns an die Verhältnisse und die Mauer gewöhnt hatten. Auch an den Schrecken, dass dort Menschen erschossen wurden, die einfach von der einen auf die andere Seite der Stadt wollten. Diese brutale Absurdität kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.

Was hat sich mit der Errichtung der Mauer 1961 in der DDR geändert?

Die Mauer war ein Instrument, um die Fluchtmöglichkeiten der Menschen einzuschränken und zugleich ein Disziplinierungsinstrument nach Innen. Die Option, dem SED-Staat zu entfliehen, war mit einem Schlag genommen. Die Mauer war ein massives Machtinstrument, das bewirkte, dass sich die Menschen an die Verhältnisse in dem Land anpassten. Die Anpassung und Unterordnung ans System hat die DDR bis zum Fall der Mauer geprägt.

Auch Ihr Buch heißt "Wir Angepassten: Überleben in der DDR". Müssen sich die Menschen heute nicht mehr an Staat und Gesellschaft anpassen?

Anpassung ist nicht per se negativ, sondern kann auch etwas Schlaues oder Überlebensnotwendiges sein. Es kann verhindern, dass man mit dem Kopf gegen die Wand rennt. Es gibt daher keinen Maßstab, wie man sein Leben in einer Diktatur leben muss. Jeder versuchte einen individuellen Weg zu finden, wie man mit den Verhältnissen der Diktatur zurechtkam. Ein Familienvater war ganz anders in seinem Verhalten gefordert als ein Alleinstehender. Diese Erfahrung musste ich im Gefängnis machen. Wenn man Familie und Kinder hat, verletzbarer ist, geht man weniger in Konfrontation und passt sich an bestimmten Stellen an.

Sie haben Ihre Zeit im Gefängnis angesprochen. Welche Erfahrungen aus der DDR-Zeit haben Sie in Ihrem heutigen Leben negativ gezeichnet?

Die Sippenverfolgung war das Schlimmste. Die liebsten Menschen wurden schikaniert und waren Repressionen ausgesetzt, obwohl sie nichts dafür konnten. Das hat mich am meisten schockiert. Da habe ich bis heute ein schlechtes Gewissen gegenüber meinen Eltern. Sie mussten die Folgen meines Verhaltens mittragen. Dabei ist es absurd, dass ich so denke. Ich war nicht schuld, sondern der Staat.

Was hat Ihnen die Kraft gegeben, die Repressionen zu überstehen?

Ich habe Menschen gefunden, mit denen ich trotz dieses Systems ein erfülltes Leben führen konnte. Obwohl wir das System kritisch gesehen haben, haben wir ein normales Leben geführt. Wir haben gefeiert, sind zu Fußballspielen gegangen und haben Zeit mit Kollegen verbracht. Das geschafft zu haben, sich unter widrigen Verhältnissen ein schönes Leben zu machen, das ist mir bis heute eine positive Erinnerung. Auch im Gefängnis haben mir Menschen Kraft und Hoffnung gegeben. Die Mithäftlinge waren ja meistens für ihren Einsatz für Menschenrechte im Gefängnis gelandet und sie haben mir geholfen, die Zeit dort zu überstehen. Jeder Tag im Gefängnis ist einer zu viel, aber die Erfahrung, die ich mit den Menschen dort gemacht habe, möchte ich nicht missen.

Was war Ihr persönlicher Wende-Moment?

Der Tag des Mauerfalls war ein Tag des Triumphes. Als Journalist habe ich im Sender Freies Berlin den Mauerfall und die ersten Bilder live kommentiert. Das war auch ein Hauch persönliche Genugtuung.

Gab es Bilder, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?

Menschen haben begeistert den Grenzübergang überquert. Das ist ein Bild, das ich nie vergessen werde und das mich heute noch zu Tränen rührt.

Sie sprachen gerade über die Verbrechen der DDR-Diktatur, die leider Bestandteil der Biografien von vielen Deutschen sind. Seit der Wende versuchen Sie, Tätigkeiten der Stasi offen zu legen. Auf welchem Stand ist diese Arbeit?

Aufklärung hat kein Verfallsdatum. Die nächste Generation stellt spannende Fragen und will wissen, wie ihre Eltern und Großeltern im geteilten Deutschland gelebt haben. Sie suchen Erklärungen für ihr Verhalten. Sie fragen sich, wie diese Diktatur funktioniert hat und wie es möglich war, dass die Menschen sich 40 Jahre lang untergeordnet oder mitgemacht haben. Die Stasi-Akten könnten helfen, um über Ursachen und Folgen von Unrecht aufzuklären. Das Thema Menschenrechte ist eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Mit dem Blick in die Vergangenheit können wir die Sinne schärfen und das hilft uns im gegenwärtigen Leben.

1990 gingen viele dieser Stasi-Akten verloren und Mikrofilme wurden vernichtet. Wer war dafür verantwortlich?

Vieles ist damals aus Unkenntnis passiert. Der Spionage-Abteilung der Stasi wurde zugestanden, dass sie sich selbst auflösen konnte. Somit hat sie selbst einen Großteil ihrer Akten vernichtet. Die Bürgerkomitees hatten dies nicht unter Kontrolle. Es waren außergewöhnliche Zeiten. Wir können froh sein, dass dennoch so viel erhalten ist, dass wir diese Stasi-Unterlagen zur Aufklärung nutzen können.

Was für Akten sind verloren gegangen?

Es sind eine größere Anzahl an elektronischen Datenträgern der Stasi vernichtet worden, die Akten der Spionage-Abteilung und vor allem die sogenannten "zentralen Materialablagen". Das waren Registraturen, die dazu dienten, systematisch Informationen über die Bürger zu speichern. Davon wurde viel vernichtet und dadurch sind an einigen Stellen größere Lücken entstanden.

Das muss Sie persönlich geärgert haben.

Ja, vor allem, dass in jener Phase, in den ersten Monaten des Jahres 1990, DDR-Funktionäre noch das Sagen hatten. Anders verhielt es sich, als es dann im Sommer um die Nutzung der Stasi-Akten ging, in Vorbereitung auf die deutsche Einheit. Hier musste man sorgsam die Grundrechte in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland gegen das Interesse nach Aufklärung mithilfe von menschenrechtswidrig gesammelten Informationen abwägen. Deswegen war die Diskussion um die Aufbewahrung oder Vernichtung der Akten sehr hilfreich. Ich war ein vehementer Vertreter davon, dass die Akten verwahrt und geöffnet werden müssen. Das Gift der Stasi darf nicht weiter wirken. Die Herausforderung bestand darin, den Datenschutz der Bürger zu bewahren und zugleich die Arbeit des Geheimdienstes transparent zu machen.

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Gibt es heute noch intakte Stasi-Strukturen?

Es gibt durchaus Gruppierungen, in denen sich manche Ehemalige zusammengefunden haben. Das ist aber legitim. Es ist nun ihr Recht. Entscheidend ist, dass sie sich auch an die Grundregeln der Gesellschaft halten, ansonsten können auch sie die Vorteile unseres Rechtsstaates nutzen.

Haben sich die Stasi-Funktionäre nach der Wende gegenseitig gedeckt?

Es haben sich Stasi-Offiziere gegenseitig gedeckt. Viel zu wenig haben sie dazu beigetragen, über das System aufzuklären. Ich finde, Funktionäre der SED und der staatlichen Institutionen sollten sich ihrer Verantwortung stellen und über ihre Tätigkeiten aufklären. Das gibt es zu wenig und das würde uns helfen, über die Mechanismen der Diktatur aufzuklären. Dabei wäre es gut, die Fixierung auf das Thema Stasi als alleinige Erklärung für die SED-Diktatur aufzugeben. Es geht um eine Gesamtbetrachtung der DDR-Gesellschaft. Wir sollten das Alltagsleben in der DDR mehr analysieren und nicht immer nur den Schwarzen Peter auf die Stasi schieben.

Aber die Stasi gilt als Schreckgespenst der SED-Diktatur.

Genau. Aber das ist zu simpel. Es soll ja auch nicht heißen, dass wir die Stasi-Akten nicht mehr nutzen. Die Akten zeigen uns das Wirken der Stasi, sie zeigen uns aber auch eine gesamte Betrachtung der Gesellschaft, weil die Stasi alles registriert hat. Unlängst wurde eine Studie über sexuellen Missbrauch in der DDR durchgeführt, auch da haben Stasi-Akten geholfen, Vorgänge zu belegen. Diese Themen machen deutlich, dass das Wirken der Stasi und die Dokumente, die die Stasi geschaffen hat, uns bei der Aufklärung helfen. Aber Ursachen und Folgen liegen nicht nur bei der Stasi. Es gilt das System und die Herrschaftsmechanismen im Gesamten zu betrachten.

Warum gibt es diese Fixierung auf die Stasi?

Das hat verschiedene Ursachen. Erstens war die Besetzung der Stasi-Zentrale ein Symbol für die Revolution. Die Macht war gebrochen und die geheimen Dokumente gehörten jetzt der Gesellschaft. Zweitens war es weltweit das erste Mal, dass die Akten einer Geheimpolizei geöffnet wurden. Sie waren dann die Hauptquelle für die Erkundung der Diktatur. Dazu kam, dass die PDS mit ihrer Vergangenheit nicht offensiv genug umgegangen ist und es ihr auch gelegen kam, den Schwarzen Peter immer wieder selbst der Stasi zuzuschieben – anstatt als Nachfolger der SED intensiver eine Auseinandersetzung mit der Rolle der SED durchzuführen, die ja der Auftraggeber der Stasi war.

Die PDS ist heute teilweise in Die Linke übergegangen. Ist es dieser Partei gelungen, ihre SED-Vergangenheit aufzuarbeiten?

Ich sehe viele positive Entwicklungen bei den Linken, das muss man anerkennen. Aber insgesamt wünschte ich mir eine radikalere Herangehensweise im Umgang mit den Altgenossen, die noch in dieser Partei sind. Aber einige Politiker fallen hier positiv auf.

Von wem sprechen Sie?

Wir haben eine junge Generation von Mitgliedern der Links-Partei, die sich klar von der kommunistischen Diktatur distanziert. Es fehlt trotzdem eine intensive öffentliche Auseinandersetzung und es findet zu wenig Dialog mit den Opfern statt, die bis heute unter dem geschehenem Unrecht leiden.

Hat Gregor Gysi genug getan?

Gregor Gysi hätte eindeutiger Stellung beziehen können, aber da muss jeder mit sich selbst ins Reine komme.

Betrachten wir Deutschland nach der Wiedervereinigung. Ist Ihrer Meinung nach die Teilung überwunden?

Junge Menschen sagen heute nicht mehr, dass sie aus dem Osten oder dem Westen kommen. Sondern sie kommen aus Bayern oder Brandenburg. Die junge Generation lebt die deutsche Einheit. Aber es gibt Einflüsse aus der DDR in der individuellen Biografie, die sich auf aktuelle Entwicklungen auswirken. Das Beste an der DDR war ihr Ende. Die Menschen konnten zeigen, dass sie eine Mauer und eine Diktatur überwinden können. Alleine diese Botschaft sollte die Kraft geben, die Konflikte und Probleme in der Gegenwart zu meistern.

Eine Auffälligkeit ist die Stärke der AfD in den neuen Bundesländern. Wie erklären Sie sich das?

Hier ist die Gelegenheit genutzt worden, sich politisch zu artikulieren. Aber es ist positiv zu sehen, dass Menschen sich an einer demokratischen Wahl beteiligen, sich artikulieren und überhaupt an gesellschaftlichen Debatten teilhaben. Deshalb ist es wichtig, keine Panik zu verbreiten, sondern sich politisch mit den Ansichten der AfD auseinanderzusetzen.

Aber in Sachsen bekommt die AfD, eine rechtspopulistische und teilweise fremdenfeindliche Partei, 20 Prozent der Stimmen. Reden Sie sich das nicht schön?

Im Osten Deutschlands gibt es regional spezielle Situationen, in denen sich Problemfelder addieren; das kann es aber auch in westlichen Regionen geben. Hinzu kommen Ängste, die teilweise herbeigeredet werden oder aber auch real empfunden sind. Da gelingt es an manchen Stellen, diese ernst zu nehmen und an anderen Stellen nicht. Dann gibt es in Summe die Konstellation, dass manche Personen meinen, ein Zeichen setzen zu müssen.

Ein Zeichen in Richtung Fremdenfeindlichkeit geht jedoch in die falsche Richtung. Diese ist statistisch in den Neuen Bundesländern stärker ausgeprägt. Hat das auch etwas mit dem Erbe der deutschen Teilung zu tun?

Ich hüte mich vor absoluten Urteilen. Es ist eine Summe verschiedener Gründe. Die fehlende Weltoffenheit in der DDR ist sicherlich ein Faktor, der heute bis in die nächste Generation wirkt. Zweitens ist die Etablierung und Entwicklung einer Zivilgesellschaft in den östlichen Ländern nicht so vorangeschritten wie in den westlichen Bundesländern. Das System der DDR hat Nachwirkungen.

Warum manifestieren sich diese Nachwirkungen in einer Skepsis beim Thema Migration?

Viele DDR-Bürger fühlten sich als Menschen zweiter Klasse. Wenn sie nach Prag oder Budapest mit ihrem Ost-Geld kamen, mussten sie oft erleben, dass sie mit ihrem Geld nichts wert waren. Mit der Einheit fühlten sich viele Ostdeutsche nun zugehörig. Durch die Zuwanderung haben viele Menschen Angst, dass sie wieder hintendran sein könnten.

Was bedeutet das konkret?

Sie haben Angst, dass anderen Mittel zufließen, auf die man selbst jahrelang gewartet hat. Die Menschen sind der Meinung, dass sie lange genug gewartet und genug Jahre als Deutsche zweiter Klasse gesehen wurden. Das ist noch im Bewusstsein vieler Ostdeutschen.

Sie haben in unserem Gespräch herausgearbeitet, dass die Wiedervereinigung eine deutsche Erfolgsgeschichte ist. Es gibt allerdings an manchen Stellen noch Gräben zwischen Ost und West. Was kann die Politik tun, um diese zu beseitigen?

Es sollte der offene Diskurs unterstützt werden. Man sollte den Streit im positiven Sinne fördern und dafür sorgen, dass die Menschen respektvoll miteinander umgehen. Es muss möglich sein, Biografien differenziert zu betrachten und dass Menschen Anerkennung für ihren Lebensweg finden – selbst wenn sie früher einen Weg gegangen sind, der das Unrechtssystem stabilisiert hat. Deutschland kann stolz darauf sein, was in den letzten 27 Jahren deutscher Einheit geleistet wurde. Auch das sollte mehr Beachtung finden. Jedes Mal wenn ich im Ausland den thüringischen Dialekt höre, macht es mich glücklich. Es bedeutet, dass diese Mauer gefallen ist und alle Deutschen die Offenheit der Welt erleben können.

Herr Jahn. Vielen Dank für das Gespräch.

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