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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Physiker und Moderator Ranga Yogeshwar "Die Parteien haben die Ängste vieler Wähler verschlafen"
Der Verbrennungsmotor ist ein Auslaufmodell, bereits heute nutzen wir Maschinen, die wir nicht mehr ganz verstehen: Die Politiker hinken allerdings hinterher. Im Interview plädiert Moderator Ranga Yogeshwar deswegen für eine neue Art der Politik. Ein Gespräch über technischen und gesellschaftlichen Fortschritt, Rassismus und warum der Mensch die Computer kontrollieren sollte – und nicht umgekehrt.
Ein Interview von Marc von Lüpke
t-online.de: Herr Yogeshwar, welche technische Entwicklung der letzten Jahre hat Sie besonders beeindruckt?
Ranga Yogeshwar: Wissenschaftler können mittlerweile Gehirnstrukturen mit Hilfe von neuronalen Netzwerken simulieren. Faszinierend daran ist, dass die Forscher diese Gebilde teils nicht im Detail verstehen. Ein konkretes Beispiel ist die digitale Gesichtserkennung. Die Systeme können Menschen relativ gut auf Fotografien erkennen. Wie sie das schaffen, verstehen die Wissenschaftler aber nicht vollständig. Die Technologie überholt uns also in gewisser Weise.
Der rasante technische Fortschritt geht mit gesellschaftlichen Veränderungen einher. Welche Auswirkungen hat dieser Wandel auf die Politik?
Wir müssen verstehen, dass wir uns mitten in einer Phase radikalen Umbruchs befinden. Medien, Banken und Wirtschaftssysteme gehen beispielsweise durch ein disruptives Fegefeuer. Deshalb müssen wir begreifen, dass sich auch die Art und Weise verändert, wie Politik funktioniert.
Ranga Yogeshwar ist Physiker, Journalist und Moderator. Bekannt wurde er vor allem durch seine Wissenssendung "Quarks" im WDR. Sein aktuelles Buch "Nächste Ausfahrt Zukunft. Geschichten aus einer Welt im Wandel" ist ein Bestseller.
Können Sie das näher erklären?
Die Digitalisierung hat unsere Medienlandschaft auf den Kopf gestellt. Aus Massenmedien sind plötzlich Medien der Massen geworden. Unter anderem durch die sozialen Netzwerke. Im Bereich der Presse ereignet sich eine Art Abschmelzen der Leitmedien. Ein ähnlicher Prozess findet auch in der Politik statt, denn unsere Parteienlandschaft fragmentiert. Es fehlen die großen klassischen Volksparteien, die in Frankreich bereits in kürzester Zeit verschwunden sind. Die letzten Bundestagswahlen zeigten ähnliche Symptome in Deutschland. CDU, CSU und SPD haben im Vergleich zu früher dramatische Verluste hinnehmen müssen. Selbst eine Große Koalition ist inzwischen bedenklich knapp von einer Mehrheit entfernt. In Deutschland versuchen wir aber immer noch, Koalitionen zu schmieden wie vor 20 Jahren.
Wie lässt sich aber eine neue Art der Politik etablieren?
Die Politik muss zunächst wirklich begreifen, dass wir in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren enorme Herausforderungen gestalten müssen. Zum Beispiel die deutsche Autoindustrie. Es ist völlig klar, dass sich die klassischen Mobilitätsmuster dramatisch verändern. Die individuellen Verkäufe von Fahrzeugen werden in den nächsten Jahren dramatisch zurückgehen. Bei momentan etwa 750.000 Direktbeschäftigten in der Autoindustrie wird dies enorme Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt bewirken. Die Wahl von Donald Trump, der Brexit und auch der erstarkende Nationalismus in vielen europäischen Staaten haben stark damit zu tun, dass es viele Menschen gibt, die sich als Verlierer des Fortschritts sehen.
Was muss sich konkret verändern?
Die Politik muss über einen neuen Gesellschaftsvertrag nachdenken: Was tut eine Gesellschaft, wenn es nicht mehr Arbeit für alle gibt? Wie priorisieren wir Werte? Was ist das Ziel unserer Gesellschaft? Diese Debatte geht viel tiefer als das, was ich jetzt beobachte. Nämlich dieses Hin und Her innerhalb der klassischen Kategorien der Machtverteilung zwischen einer Partei A und einer Partei B. Was ich meine, findet gewissermaßen eine Etage tiefer statt. Ich wünsche mir, dass die Politik die Notwendigkeit zu einer Neuausrichtung unserer Gesellschaft auch offen ausspricht. Das geschieht aber nicht: Stattdessen versuchen manche Politiker mit einer gewissen Selbstgefälligkeit, die vergangenen Erfolge als Legitimation der Zukunft abzuleiten. Und das ist ein gefährliches Spiel.
Trauen Sie den tonangebenden Politikern zu, Antworten auf die drängenden Fragen der Menschen zu geben?
Ich bin grundsätzlich ein Optimist. Ich glaube, dass die Politik nicht autistisch ist. Wobei autistisch vielleicht die falsche Vokabel ist. Eine Zeit lang können Politiker bestimmte Probleme ignorieren, aber irgendwann müssen sie darauf reagieren. Es ist doch absurd, dass mein neues Buch, das sich intensiv mit dem technologischen Wandel auseinandersetzt, weit oben auf der Bestsellerliste rangiert. Das zeigt, dass die Menschen großes Interesse an dem Thema haben – während die Parteien diesen ganzen Komplex im Wahlkampf größtenteils ignoriert haben. Ich glaube, unter den Menschen herrscht eine Art Hunger, die wichtigen Zukunftsfragen endlich anzugehen.
In verunsicherten Gesellschaften kommen die klassischen Angstmuster zum Ausdruck. Verunsicherte Menschen gewichten das Nationale stärker und wollen sich abgrenzen. Zusätzlich wollen sie Sündenböcke finden: Und das sind in der Regel meist Menschen, die anders aussehen. Meines Erachtens haben die Parteien die Ängste vieler Wähler verschlafen. Stattdessen müsste man sie ernst nehmen und auf ihre Probleme eingehen. Meiner Meinung nach wird es immer einen minimalen Prozentsatz von Unbelehrbaren und Rassisten geben. Aber ich bin der Überzeugung, dass nicht jeder AfD-Wähler von Natur aus rassistisch und nationalistisch ist. Viele sind aber in einem bestimmten Maß verunsichert und finden bei den etablierten Parteien keine Antworten.
In welcher Weise kann und muss man die Sorgen der AfD-Wähler ernst nehmen?
Ich betrachte das weniger parteipolitisch, sondern eher wie ein Physiker. Die politische Zielsetzung muss es immer sein, die Gesellschaft in Zeiten des Wandels stabil zu halten. Alles andere mündet schnell in Katastrophen. Man darf allerdings nicht in Diagnosen verharren. Der alte Kapitalismus stößt an seine Grenzen. Schauen Sie sich an, was mit Air Berlin und anderen Unternehmen passiert ist. Die herrschende Total-Ökonomisierung ist keineswegs ein Segen für alle Bevölkerungsgruppen. Und wir können uns keine Gesellschaft leisten, die auf Dauer zu viele Menschen zu Verlierern macht. Die Politik muss viel stärker in die Pflicht genommen werden.
Als Physiker und Moderator erklären Sie Ihren Lesern seit langer Zeit Technik und Naturwissenschaft. Was ist Ihr Ziel?
Ein Punkt ist mir unter anderem wichtig: Wir müssen uns in unserem Handeln genau überlegen, was wir da eigentlich tun. Wo liegen die Bereiche, in denen wir an Grenzen stoßen? Wo bestehen große Chancen, die wir vielleicht übersehen? Jeglicher Fortschritt muss reflektiert werden. Fortschritt entsteht nicht nur im Labor, sondern auch in der Gesellschaft. Beim Schreiben meines aktuellen Buches war es mir wichtig, am Ende kein Patentrezept anzugeben. Das mag sehr unbefriedigend sein - aber wir brauchen eine breite gesellschaftliche Debatte über den Wandel unserer Welt.
Wo sehen Sie dringenden Diskussionsbedarf?
Es gibt heute technische Möglichkeiten, nicht nur Kriminelle oder Terroristen ausfindig zu machen, sondern auch Tumore im menschlichen Körper aufzuspüren. Nun ist es aber so, dass wir nicht verstehen, wie die neuronalen Systeme das bewerkstelligen. Es stellt sich natürlich die Frage, ob das legitim ist? Oder eine andere Situation: Aufgrund eines Algorithmus wird einem Menschen ein Kredit verweigert. Ist das rechtens? Wir legen Entscheidungen in die Hand von Maschinen, die wir selber nicht mehr verstehen.
Sind wir zu naiv im Umgang mit der Technik?
Nehmen Sie den digitalen Assistenten "Alexa" des US-Konzerns Amazon. Das System wird gerade im Weihnachtsgeschäft unheimlich gepusht. Im Sommer haben Forscher des MIT Media Labs in den USA einen Test mit Kindern gemacht, die "Alexa" nutzen. Dabei kam heraus, dass die Mehrzahl der Kinder der Maschine glaubt und vertraut. Diese Systeme sind natürlich nicht nur Butler, sondern verfolgen kommerzielle Interessen. Unsere Kinder vertrauen also Apparaten, deren Algorithmen sich nicht an der Wahrheit orientieren, sondern unser Konsumverhalten anheizen sollen. Wie vermitteln wir aber Kindern, die zum Teil noch nicht mal ihre eigenen Schuhe zu machen können, das Hinterfragen von Marketing-Robotern?
Haben Sie in diesem Fall eine Patentlösung?
Ich plädiere für einen "reflektierten Fortschritt".
Herr Yogeshwar, wir danken für das Gespräch.
Zum Weiterlesen:
Ranga Yogeshwar: Nächste Ausfahrt Zukunft. Geschichten aus einer Welt im Wandel, Köln 2017