Gauck über Biden "Der Mann ist gezeichnet vom Alter"
Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Er war der erste ostdeutsche und der erste parteilose Bundespräsident. Ein Gespräch mit Joachim Gauck über Putin, Merkels Fehler und warum der Osten in der Ukraine-Frage anders tickt als der Westen.
Fünf Jahre ist es her, dass Joachim Gauck nach einer Amtszeit wieder aus dem Schloss Bellevue auszog. Doch wer den 83-Jährigen in seinem Büro im Bundestag erlebt, hat das Gefühl, als wäre das erst gestern gewesen. Gut gelaunt, engagiert und konzentriert diskutiert der Theologe über die großen Fragen: Pazifismus in Zeiten des Krieges, die Entfremdung zwischen Ost und West und die Herausforderung der Zuwanderung. Dabei hat er nichts von seiner Lust an deutlichen Worten verloren – und ebenso wenig die Fähigkeit, auch dem Gegenüber zuzuhören.
t-online: Als König Charles in Berlin war, waren Sie beim Staatsbankett in Schloss Bellevue dabei – Ihrem früheren Amtssitz. Wie groß war die Wehmut?
Joachim Gauck: Da war keine. Im Gegenteil: Es war schön, auch wenn es mühsam ist, sich in einen Frack zu zwängen. Ich konnte viel lockerer hingehen, einfach interessiert dabei sein und beobachten, wie das Staatsoberhaupt eines Landes, das uns in der Europäischen Union leider abhandengekommen ist, nun die Verbindung zu Deutschland pflegt.
Sie haben Ihre Entscheidung, nicht für eine weitere Amtszeit als Bundespräsident anzutreten, also nicht bereut?
Nein, mir war von Anfang an klar, dass ich angesichts meines Alters nur eine Amtszeit machen werde. Niemand hat mich zum Abschied bewogen. Im Gegenteil, viele wollten, dass ich weitermache. Aber wer kann schon vorhersagen, was in fünf Jahren ist? Hätte ich noch die geistige Frische und die Spannkraft gehabt, um dieses Amt auszuüben?
Das halte ich für ziemlich mutig. Jeder Fernsehzuschauer merkt doch, dass der Mann gezeichnet ist vom Alter. Gleichzeitig vertritt er eine Politik, über die wir nur froh sein können und die er hoffentlich fortsetzen kann. Wenn der erratische Trump wieder an die Macht käme, wüssten wir nicht, ob er die Ukraine so unterstützen würde wie Biden. Auch nicht, wie er mit der aufziehenden Bedrohung durch ein imperial denkendes China umgehen würde.
Ihr neues Buch heißt "Erschütterungen", überall auf der Welt geraten Strukturen ins Wanken.
Wir erleben eine Bedrohung von außen, die wir so gar nicht mehr erwartet haben. Und es ist nicht auszuschließen, dass der Aggressor so übermütig wird, dass er sich nicht damit zufriedengibt, nur eine unabhängige Nation zu okkupieren, sondern weitermacht. Das ist keine eingebildete Bedrohung. Darauf müssen wir reagieren. Es war deshalb wichtig, dass Bundeskanzler Olaf Scholz gemerkt hat, es geht nicht mehr so weiter wie früher.
Er hat die "Zeitenwende" ausgerufen. Kann er die Deutschen überzeugen?
Wir sehen einen verantwortlichen, norddeutsch agierenden Menschen, der eine wichtige und mutige Rede gehalten hat und sich bemüht, den Leuten zu vermitteln: Ihr dürft Vertrauen haben.
Auch Merkel hat in einer großen Krise um Vertrauen geworben.
"Wir schaffen das" war eine gute Botschaft. Ich möchte keine Regierungschefin haben, die sagt: "Liebe Landsleute, leider schaffen wir das nicht."
Die Aussage ist ihr von vielen aber eher übel genommen worden.
Angela Merkel hätte besser daran getan, ihre Aussage "Wir schaffen das" mit konkreten Handlungsmöglichkeiten zu untermauern. Eine klare Kommunikation hätte geholfen, um gemeinsam zu klären, wie man die Aufgabe bewältigen kann.
Heute steht auch Merkels Russland-Kurs in der Kritik. Zum Beispiel ihr Festhalten an der Gaspipeline Nord Stream 2.
Angela Merkel wusste, wann Putin lügt, wollte aber auch die Interessen der deutschen Wirtschaft berücksichtigen. Sie war der festen Überzeugung, dass das eine privatwirtschaftliche Angelegenheit sei und dass die Amerikaner zum Beispiel nur ihr eigenes Flüssiggas verkaufen wollten. Es wäre besser gewesen, sie hätte auf die Kritik und die Einwände unserer östlichen Nachbarn, der Amerikaner oder der Kritiker im eigenen Land gehört.
Sie haben Russland stets kritisch gesehen. Haben Sie mit Merkel einmal darüber gesprochen?
Ja, es gab immer Begegnungen zwischen Kanzlerin und Präsident. Ich konnte allerdings ihre Meinung zu Nord Stream 2 nicht teilen. Aber sie war die Regierungschefin. Ein Bundespräsident kann in solchen Situationen nur Fragen stellen, er ist nicht so etwas wie eine Gegenregierung.
Ihr Nachfolger, Frank-Walter Steinmeier, hat Frau Merkel mit dem Großkreuz ausgezeichnet. Ist das richtig?
Ich kann nachvollziehen, dass sie diese hohe Auszeichnung bekommen hat. Ich verstehe und teile die Kritik an Teilen ihrer Russland-Politik. Aber Menschen machen Fehler und die Historiker sollen später entscheiden, ob sie in einer Reihe mit Konrad Adenauer und Helmut Kohl steht.
Was irritiert Sie am meisten?
Am meisten irritiert mich, dass Angela Merkel gegenüber Russland eine Sicht nicht einnehmen wollte, zu der sie eigentlich fähig war.
Die imperialistische Strategie von Putin ist ja nun offenkundig. Können Sie sich erklären, warum Teile von Ostdeutschland anders auf den Krieg schauen als der Westen?
Es gibt immer noch Unterschiede in der politischen Kultur zwischen Ost- und Westdeutschland. Das hängt damit zusammen, dass im Westen seit dem Kriegsende Demokratie und Zivilgesellschaft gestärkt wurden, während dies in der Diktatur nicht möglich war. Dadurch gibt es unterschiedliche Grundeinstellungen zur Freiheit und zum Demokratieprinzip. Bei einem Teil der Ostdeutschen vermute ich auch, dass sie das Gefühl haben: "Mit denen müssen wir uns gut stellen. Die haben uns zu lange beherrscht und wir waren zu lange in Ohnmacht. Schau lieber freundlich auf die, die dich in der Hand hatten." Zumindest im Unterbewusstsein dürfte das eine Rolle spielen.
Sie meinen: mit Putin, mit den Russen?
Ja, es ist nämlich eine Legende, dass so viele Verbindungen gewachsen wären zwischen den Besatzungstruppen und den Menschen in der DDR. Das ist totaler Quatsch. Aber es gab sehr wohl die Erfahrung von totaler Abhängigkeit.
Könnte es auch daran liegen, dass im Osten Demokratie gar nicht so hoch geschätzt wird?
Zunächst: Die Mehrheit der Ostdeutschen ist in der Demokratie, die sie sich selber gewünscht hat, angekommen. Allerdings gibt es Prägungen aus der Zeit der Diktatur, die bei einem Teil der Bevölkerung überlebt haben. Damals war zum Beispiel Anpassung wichtiger als Eigenverantwortung und Selbstbewusstsein. Daher entwickeln sich in Ost und West unterschiedliche Formen des gesellschaftlichen Miteinanders. Darüber hinaus gibt es ein Phänomen, das für alle Gesellschaften gilt: Etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung, so belegen es Studien, sind Menschen mit ausgeprägt strukturkonservativer Einstellung. Diese wünschen sich mehr Vereinheitlichung und Sicherheit, während andere Gruppen eher die Freiheit und den Wandel bevorzugen. Wir leben in einer Zeit des massiven Wandels und der Krise. Dadurch werden die Ängste derer angefacht, die sich vor dem Wandel fürchten und das Gefühl haben, dass etwas falsch läuft.
Und die suchen dann einen Ausweg in Extremen?
Ja, und bei nationalpopulistischen Bewegungen, wie wir das in Deutschland mit der AfD haben. Die Menschen fühlen sich gestresst und nicht mehr beheimatet, weil es zu viel Andersartigkeit gibt. In Gesellschaften mit mehr Vielfalt haben die Menschen gelernt, mit Fremdheit umzugehen und Fremde als wichtige Mitbürger zu akzeptieren. In Gesellschaften ohne diese Erfahrung gibt es oft eine Drift nach Rechtsaußen aus Furcht vor dem Anderen. In anderen Gesellschaften mit sozialen Konflikten gibt es eine Drift nach Linksaußen, wie wir es in einigen südamerikanischen Staaten sehen.
In Deutschland wenden sich viele Menschen enttäuscht von der Politik ab.
Deshalb müssen wir uns vor allem der Kultur der Angst widersetzen. Politiker sind oft versucht, Angst für ihre politischen Zwecke einzusetzen. Das kann zwar zeitweise erfolgreich sein: Wenn sich alle vor dem Klimawandel, vor einer Seuche oder vor einem finanziellen Ruin fürchten, dann sind das durchaus Faktoren, die Wähler zusammentreiben können.
Worin besteht da die Gefahr?
Angst minimiert unser Urteilsvermögen und unsere Handlungsfähigkeit. Statt Ängste zu schüren oder zu instrumentalisieren, sollten Politiker lieber darauf verweisen, welche Kraft in uns steckt, was wir schon geschafft und welche Krisen wir in der Vergangenheit gemeistert haben.
Zugleich stehen wir auch vor erdrückenden Problemen. Sollte man die nicht auch benennen?
In der Politik ist es wichtig, ehrlich zu sein. Wir müssen akzeptieren, dass nicht alles möglich ist.
Was heißt das konkret?
Nehmen wir die Zuwanderung. Ich habe einmal gesagt: "Unsere Herzen sind weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich." Wir müssen zum einen Einwanderung wollen und zum anderen Einwanderung regulieren, etwa unsere europäischen Außengrenzen schützen und uns mit den europäischen Partnern darüber einigen, wie wir mit denen umgehen, die kein Asylrecht haben. Wenn die Bevölkerung sieht, dass das Problem nicht gelöst wird, entsteht Unruhe. Wir sehen dann etwa, dass sogar in den superdemokratischen Staaten Skandinaviens breite Wählergruppen die demokratische Mitte verlassen und Nationalpopulisten wählen. Um diesen Trend zu stoppen, brauchen auch die liberalen Demokratien entschlossenes Handeln der Regierenden und klare Führung in den Krisen, die die Menschen belasten.
Vielen Deutschen bereitet auch der Krieg gegen die Ukraine Sorgen. Wie kann dieser enden?
Die Verweigerung von Waffenlieferungen würde den Frieden jedenfalls in weite Ferne rücken und letztlich zu einer Unterwerfung der Ukraine führen. Wir brauchen die Kraft und den Willen, die Menschen dort weiter zu unterstützen, wir brauchen die Bereitschaft zur Solidarität. Die Ukraine muss in die Lage versetzt werden, selbst zu definieren, wann sie verhandeln will und welche Ziele sie verfolgt. Solidarität mit einem erkennbaren Opfer ist politisch und moralisch geboten.
Wie sollte Deutschlands künftiger Russland-Kurs aussehen?
Wir müssen eine Macht, die das Recht bricht und einen friedlichen Nachbarn überfällt, einen Feind nennen. Nicht, weil wir feindselige Absichten gegenüber Russland hätten. Anders als Russland streben wir nicht danach, Teile seines Territoriums zu okkupieren. Putin hat der Demokratie Feindschaft geschworen. Deshalb brauchen wir eine Entschlossenheit, wie sie der Westen in früheren Zeiten hatte.
Sind wir in einem neuen Kalten Krieg?
Ich will es nicht Kalter Krieg nennen, der Begriff ist historisch besetzt. Aber wir dürfen nicht naiv sein und glauben, dass wir den Frieden sichern, indem wir freundlich auf Putin ein- oder seine Ambitionen schönreden. Wir müssen – wie einst der Sowjetunion – jetzt Russland zeigen, dass wir entschlossen sind, Frieden und Demokratie in Europa mit aller Kraft zu verteidigen.
- Interview mit Joachim Gauck im Bundestag