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Medienskandal um Relotius: So ging der Spiegel dem Betrüger auf den Leim


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Neue Doku zum Fall Relotius
Ein eiskalter Machtmensch


Aktualisiert am 27.03.2023Lesedauer: 4 Min.
Claas Relotius: Nach dem von ihm ausgelösten Betrugsskandal hat er sein erstes Interview gegeben.Vergrößern des Bildes
Claas Relotius: Mit seinen erfundenen Reportagen richtete der Journalist massiven Schaden an. (Quelle: Julius Hirtzberger/dpa)
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Auf Sky zeigt eine neue Dokumentation noch einmal, wie ein einziger Journalist ein ganzes System täuschen konnte. Sie wendet dabei ein ungewöhnliches Stilmittel an.

Es sind bizarre Bilder, mit der die Sky-Dokumentation "Erfundene Wahrheit – die Relotius-Affäre" beginnt. Zu sehen ist die Weite der Wüste im amerikanischen Arizona, in der eine Bürgermiliz auf eigene Faust nach illegalen mexikanischen Flüchtlingen sucht. Eine Stimme aus dem Off liest dazu einen Text vor. Nicht irgendeinen Text, sondern den Artikel, den der damalige "Spiegel"-Redakteur und mehrfach preisgekrönte Journalist Claas Relotius im November 2018 unter dem Titel "Jaegers Grenze" im "Spiegel" publizierte.

Längst wissen wir: Der Artikel war eine Fälschung, wie viele andere von Relotius. In ihm stimmt nur jener Part, den Relotius' Kollege Juan Moreno schrieb und der diesen fast seine Existenz gekostet hätte. Der Teil von Relotius war teils abgeschrieben, teils frei erfunden. In der Wüste war Relotius nie gewesen. So wie auch an anderen Orten nicht, über die er geschrieben hat. Mit Methoden, über die der Chefredakteur der "Süddeutschen Zeitung", Wolfgang Krach, in der Dokumentation sagt: "Der Typ hat wahrscheinlich in irgendeinem Hotel gesessen und LSD genommen."

Regisseur Daniel Sager zeigt reale Bilder für eine Geschichte, die es nie gab. Das wirkt erst einmal etwas verstörend: fast so, als ob er nachträglich eine visuelle Legitimation schaffen würde.

Erst dann entblättert er den ganzen Skandal. Dabei lässt er zum einen jene zu Wort kommen, die die Lügen aufdeckten oder schon früh den Verdacht hatten, dass Relotius lieber erfand als recherchierte. Zum Beispiel die Hessin Gabi Uhl. Die hatte sich über viele Details in jenem Artikel gewundert, in dem Relotius eine Amerikanerin porträtierte, die angeblich zu Hinrichtungen im ganzen Land reiste ("Die letzte Zeugin"). Uhl pflegt seit über 20 Jahren Brieffreundschaften mit Menschen, die in den USA zum Tode verurteilt wurden. Mehrere hat sie auch besucht; bei drei Hinrichtungen ist sie selbst dabei gewesen. Deshalb kam ihr einiges an der Beschreibung von Relotius nicht stimmig vor.

Also schrieb Uhl ihm und bekam eine sehr nette Antwort. Man könne sich ja einmal austauschen, stand darin. Es kam zu zwei längeren Telefonaten, er hat für all ihre Einwände eine Erklärung.

Oder die Einwohner des US-Städtchens Fergus Falls. Hier war Claas Relotius tatsächlich sogar vor Ort gewesen. Um dann eine Fantasiegeschichte zu schreiben. Zwei Bewohnern von Fergus Fall fiel dies auf, sie protestierten beim "Spiegel", wurden aber zunächst nicht ernst genommen. Zu ihnen ist Regisseur Sager ebenfalls gefahren. Doch anders als in der Eingangssequenz nutzt er die Bilder hier, um die Wahrheit und nicht eine Täuschung zu illustrieren.

Hauptzeuge der Anklage damals gegen Relotius und auch in dieser Doku aber ist Juan Moreno. Er hatte für "Jaegers Grenze" einen echten Flüchtlingstreck begleitet. Seine Passage wurde jedoch zusammengestrichen: Der Teil von Relotius war so viel brillanter. Zu brillant, um wahrhaft recherchiert zu sein. Weil Moreno das vermutete, schlug er Alarm. Die Chefs taten ihn als Neider ab. Selbst als er auf eigene Rechnung zu jenem Mann fuhr, der der Protagonist von "Jaegers Grenze" ist und Relotius nie in seinem Leben getroffen hat, glaubte ihm niemand.

Die entscheidende Frage

Es ist die entscheidende Frage des Skandals: Wie konnte das passieren? Wie konnte ein Journalist ein ganzes System hinters Licht führen – seine Chefs, die Dokumentation des "Spiegel", die sonst alle Angaben so akkurat prüft? Aber auch die vielen Journalismus-Jurys, die Relotius einen Preis nach dem anderen verliehen?

Eine Erklärung liegt in der Persönlichkeit von Relotius. Hinter der Hauptfassade des freundlichen, bescheidenen Kollegen verbargen sich viele Facetten, die er nach Belieben ausspielen konnte: Der eiskalte, intrigante Machtmensch, der Moreno ausbootete, ebenso wie eine freie Journalistin, die für einen anderen Text mit ihm gemeinsam recherchiert hatte. Der gewiefte Täuscher, der – einmal in die Enge geraten –, E-Mails fälschte, Rufmord betrieb und seine Unschuld inszenierte. Aber auch der zugewandte Leserbriefbeantworter, der sich verständnisvoll zeigte, um so Skeptiker in Sicherheit zu wiegen.

Eine andere Erklärung ist die Blindheit derjenigen, die das System trugen. "Se non è vero, è ben trovato", lautet ein italienisches Sprichwort. Wenn es nicht wahr ist, so ist es gut erfunden. Oder mit den Worten von Relotius selbst: "Ich versuche meine Geschichten so zu schreiben, wie ich sie gerne lesen würde." In seinem Fall funktionierte es, weil so viele glauben wollten, dass das gut Erfundene auch einfach wahr sein muss.

Von einem "Riesen-Systemversagen" spricht Steffen Klusmann, Chefredakteur des "Spiegel". Er selbst kam erst nach der Relotius-Affäre ins Amt. Aber er hat verstanden, dass man über das Trauma bis heute ausführlich sprechen muss. Im Gegensatz zu vielen anderen Journalisten, die im Abspann genannt werden. Sie alle waren für Interviews angefragt, die sie jedoch verweigerten. Dass ausgerechnet jene Menschen, für die Aufklärung und Transparenz Kernziele der eigenen Arbeit sind, sich dieser verwehren, wenn sie selbst betroffen sind, ist eine der irritierendsten Botschaften von Daniel Sagers Dokumentation.

Wirklich neue Erkenntnisse enthält diese nicht. Aber weil der Schaden, den der Fall Relotius angerichtet hat, so immens ist – nicht nur für den "Spiegel" –, kann es nicht genug Aufarbeitung geben. Sei es filmisch, als Buch oder fiktional, wie mit dem Film "Tausend Zeilen" von Bully Herbig geschehen.

Die Dokumentation "Erfundene Wahrheit – die Relotius Affäre" von Daniel Sager ist seit dem 24. März auf dem Bezahlsender Sky und auf dem Streamingdienst WOW abrufbar.

In einer früheren Version hieß es, Gabi Uhl sei bei zwei Hinrichtungen dabei gewesen. Tatsächlich waren es drei. Wir haben dies korrigiert.

Verwendete Quellen
  • Dokumentation "Erfundene Wahrheit – die Relotius Affäre" von Daniel Sager
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