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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bundestagsvizepräsidentin "Die Zahl der Betroffenen ist riesig"
Jeder Zehnte ist nach einer Corona-Infektion von Spätfolgen betroffen. Viele fühlen sich von der Politik im Stich gelassen. Ähnlich geht es Impfgeschädigten. Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt hat Betroffene besucht – und verspricht Hilfe.
Erschöpfung, Kurzatmigkeit, Konzentrationsschwäche oder Angstzustände sind einige der Symptome, unter denen manche Menschen nach einer Corona-Infektion oder nach einer Impfung leiden. Häufig sind sie auch von ME/CFS, einer chronischen Ermüdung, betroffen. Bislang gibt es für sie kaum Anlaufstellen. Es fehlt an Geldern für die Forschung und an Therapie-Angeboten. Die Bundestagsvizepräsidentin und Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt möchte das ändern.
t-online: Frau Göring-Eckardt, erleben wir gerade eine "Pandemie nach der Pandemie"? Mit Tausenden von Menschen, die an Post Covid erkrankt sind, unter ME/CFS, also chronischer Erschöpfung, leiden oder Impfschäden erlitten haben?
Katrin Göring-Eckardt: So würde ich es nicht nennen, aber die Zahl der Betroffenen, vor allem von Post Covid und ME/CFS ist riesig. Eine kanadische Regierungsexpertin hat es gerade "ein Massenbehinderungsereignis" genannt. Nach Schätzungen der WHO entwickeln rund zehn Prozent der Corona-Infizierten Long Covid. Fachleute vermuten, dass zehn bis 20 Prozent davon ME/CFS bekommen. Nicht zu vergessen, dass schon vor der Pandemie von 250.000 ME/CFS-Patientinnen und Patienten ausgegangen werden musste. Zum Vergleich: Das sind so viele wie Multiple-Sklerose-Erkrankte. Gut möglich, dass wir also allein in Deutschland von mindestens einer Million Betroffener sprechen. Ihnen muss dringend geholfen werden.
Long Covid, Post-Vac und ME/CFS
Long Covid umfasst Symptome, die mehr als vier Wochen nach einer Covid-Infektion anhalten. Der Begriff Post-Vac-Syndrom wird im Zusammenhang mit bestimmten gesundheitlichen Beeinträchtigungen nach einer Corona-Schutzimpfung verwendet. ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome) ist ein eigenständiges, komplexes Krankheitsbild, das aber häufig auch im Zusammenhang mit Long Covid oder dem Post-Vac-Syndrom auftritt. Betroffene leiden unter einer beeinträchtigten Leistungsfähigkeit, die von schwerer körperlicher und geistiger Ermüdung begleitet wird.
Sie haben eine Woche lang mit Menschen gesprochen, die nach einer Covid-Erkrankung oder Corona-Impfung an Spätfolgen leiden. Was hat Sie am meisten überrascht?
Die Versorgung der Betroffenen ist nach wie vor hochproblematisch. Manche finden nicht einmal einen Hausarzt, der sie betreut. ME/CFS ist auch eine riesige Belastung für das Familienleben. Ich habe großen Respekt, wie die das schaffen. Und ich habe gelernt, wie schwierig es gerade für betroffene Kinder und Jugendliche ist.
Inwiefern?
Die Krankheit nimmt ihnen ihre Kindheit und Jugend: Statt sich mit Freundinnen und Freunden zu treffen, müssen sie zu Hause isoliert sein. Sie können oft nicht am regulären Unterricht teilnehmen oder ihre Ausbildung fortsetzen. Ich habe eine Schülerin in Bayern kennengelernt, die zwar nicht zur Schule kann, aber in der Lage wäre, von zu Hause aus stundenweise dem Unterricht zu folgen. Durch Spenden wurde ein Avatar finanziert, eine Art Miniroboter, der im Klassenzimmer aufgestellt wird, den Unterricht per Video zu ihr überträgt und über den sie sich sogar zu Wort melden kann. Nur: Zu diesem Avatar müssen die Eltern aller anderen Schülerinnen und Schüler ihre Zustimmung geben. Und das wollten einige nicht, weil sie sich um den Datenschutz sorgen. Das ist sicher keine Bösartigkeit. Aber hier brauchen wir noch viel Aufklärung.
Was muss passieren?
Es braucht auf allen Ebenen mehr Information. Die Schülerin ist nur ein Beispiel von vielen. Mir wurde von Jugendämtern berichtet, die erkrankte Kinder aus den Familien herausnehmen, weil sie glauben, dass die Eltern den Schulbesuch verhindern. Es gibt in den Schulen und Ämtern noch kaum Bewusstsein, dass betroffene Jugendliche individuelle Rahmenbedingungen brauchen, um die Abschlussprüfung ablegen zu können. Auch die meisten Ärztinnen und Ärzte wissen zu wenig. Es gibt ja noch nicht einmal eine allgemeine medizinische Definition von Long Covid, ME/CFS und Post-Vac und den zugehörigen Symptomen. Die ist dringend nötig, damit jede Hausärztin und jeder Hausarzt das diagnostizieren kann. Momentan finden die Betroffenen so gut wie keine Hilfe. Aber es ist nicht nur eine medizinische Frage.
Wie meinen Sie das?
Alle Betroffenen, mit denen ich gesprochen habe, hatten einen höheren Bildungsabschluss oder waren Kinder von Akademikereltern. Sie hatten es unglaublich schwer, sich Hilfe zu erkämpfen. Wie schaffen es Menschen aus anderen sozialen Milieus oder mit nicht so guten Sprachkenntnissen? Was, wenn sie zum Arzt gehen und dort gesagt bekommen, dass sie nichts hätten. Und das war’s dann. Das wenige Wissen über ME/CFS darf nicht auch noch sozial ungerecht verteilt sein. Wir müssen diese Krankheiten sichtbarer machen.
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Wie könnte so eine Kampagne aussehen?
Das Wichtigste ist das Wissen, dass es das gibt. Immer noch tun einige Ärzte das als psychosomatisch ab. Das war schon in den 50er-Jahren so, als nach einer Polio-Epidemie vermehrt Fälle von ME/CFS auftauchten. Das bekamen vor allem Krankenschwestern, die sich um Polio-Patienten gekümmert hatten. Da wurde dann gesagt, das sind Frauen, die sind "hysterisch". Solche haarsträubenden Fehler sollten wir nicht wiederholen.
Auch heute berichten viele Betroffene, dass sie nicht ernst genommen werden.
Ja, es heißt dann, sie müssten sich nur mal etwas zusammenreißen. Das lässt diese Menschen verzweifeln. Expertinnen sind sich inzwischen sicher, dass die Symptome auch körperlich bedingt sind. Nur die genauen Zusammenhänge kennen wir noch nicht ausreichend. Deshalb ist es so enorm wichtig, in Forschung zu investieren, und zwar langfristig. Kurzfristig muss jeder Hausarzt und jede Hausärztin wissen, dass es diese Krankheitsbilder gibt und wie sie aussehen.
Wo sehen Sie sonst noch Handlungsbedarf?
Bei der Schule und der Ausbildung. Hier muss dringend geregelt werden, wie Erkrankte weiter teilnehmen und zum Beispiel Abschlussprüfungen ablegen können. Es muss Aufklärung für Schulleiterinnen und Schulamtsleiter geben. Zweitens muss die Versorgung geklärt werden. Wir brauchen pro Bundesland mindestens eine Spezialambulanz, die sich mit diesen Krankheitsbildern auskennt und sich um die Betroffenen kümmert. Aber auch mehr Forschung zu Medikamenten und Therapien. Auch für die Wirtschaft ist ein Ausfall von so vielen Menschen ein Problem. Ich habe eine Ärztin, eine Lehrerin, einen Bauleiter getroffen, die alle seit Monaten nicht mehr arbeiten können. Darauf müssen wir Antworten finden. Das wird uns als Gesellschaft Geld kosten. Aber kein Vergleich dazu, was es bedeuten würde, all diese Menschen als aktive Teile des Gesellschafts- und Arbeitslebens zu verlieren.
Wie soll das finanziert werden?
Hier sind wir als politisch Verantwortliche gefragt. Aber auch die Pharmaindustrie kann einen Beitrag leisten. Bei schweren Impfnebenwirkungen bin ich zum Beispiel offen dafür, auf die Impfstoffhersteller zuzugehen. Juristisch wird man sie nicht darauf verpflichten können, aber angesichts der enormen Gewinne sollten sie sich auch an den Folgekosten beteiligen.
Es gibt viel Kritik an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Dieser behauptete lange, es gäbe beim Impfen praktisch keine Nebenwirkungen. Erst jetzt folgte die 180-Grad-Wende, und er kündigte Millionensummen für die Förderung von Projekten an, die die Versorgung von Long-Covid- und Post-Vac-Betroffenen verbessern sollen. Wie glaubwürdig ist das?
Sein Engagement ist glaubwürdig. Dass Karl Lauterbach die wichtigen Fragen von Versorgung, Forschung und auch Entschädigung angehen will, ist richtig und wichtig.
Die Impfkampagne war ein großes politisches Projekt. Gibt es jetzt in der Politik auch deshalb einen Abwehrreflex, Folgeschäden von Impfungen anzuerkennen?
Nein. Ich bleibe dabei: Die Impfung war der zentrale Weg aus dem Dauerlockdown heraus, deshalb war es richtig, das politisch zu pushen. Um es nochmal ganz klar zu sagen: Ich halte die Impfungen gegen Covid nach wie vor für absolut richtig. Sonst würden wir noch über viel mehr Folgeschäden sprechen. Genauso richtig ist es aber jetzt, diejenigen nicht im Stich zu lassen, die unter Long Covid leiden oder mit Impfschäden kämpfen. Aber nicht so, wie die AfD es tut.
Was tut die AfD?
Erst hat sie lange bestritten, dass es Corona überhaupt gibt. Nun versucht sie, das Leid für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, indem so getan wird, als ob Impfen schlimmer sei als die Pandemie selbst. Das finde ich auch den Betroffenen gegenüber beschämend und es hilft niemandem, der oder die wirklich Hilfe braucht.
Die Digitalisierung im Gesundheitswesen ist schon länger Thema. Wie könnte die Telemedizin bei der Versorgung der Betroffenen helfen?
Eine gut ausgebaute Telemedizin wäre sehr hilfreich. Schon jetzt wird sie ja erfolgreich eingesetzt, beispielsweise wenn im ländlichen Raum Gemeindeschwestern mit App oder Handykameras zu den Patienten gehen und sich dann virtuell mit Ärzten oder Ärztinnen über die Behandlung austauschen. Das wäre auch bei Long-Covid-Betroffenen sinnvoll, zumal die manchmal im weiten Umkreis keine Anlaufstelle haben. Und selbst wenn: Schwer Betroffene sind zum Teil gar nicht in der Lage, solche Entfernungen auf sich zu nehmen. Ein anderer Baustein könnte eine mobile Spezialambulanz sein, die mit dem Bus zu den Leuten kommt. So etwas wird gerade in Jena in meiner thüringischen Heimat für den Modellbetrieb vorbereitet. Ich finde das Konzept so einleuchtend, nicht nur für Long Covid, dass ich hoffe, dass dieses Modell schnell Schule macht. Ich habe mit einem Mann gesprochen, der hat für seinen erkrankten Bruder 120 Ärzte abtelefoniert, um Hilfe zu bekommen. Ohne Erfolg.
Was hat Sie persönlich zu diesem Thema gebracht?
Für mich ist ME/CFS der Anfang, und zwar schon vor der Pandemie. Auch bei mir, wie bei vielen anderen, fing es mit einer persönlichen Bekanntschaft an. Eine Kollegin, eine Freundin, bei der ich mich wunderte, warum sie immer wieder Verabredungen nicht einhalten konnte. Das hat mich zum Nachdenken gebracht, auch politisch. Durch die Pandemie und die vielen zusätzlichen Fälle ist es noch unabweisbarer geworden, dass wir endlich auf die hören müssen, die es am besten wissen: die Betroffenen und Anverwandten, die Selbsthilfeorganisationen, aber auch die Medizinerinnen und Forschenden, die sich auskennen.
- Interview mit Katrin Göring-Eckardt im Bundestag