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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Alice Schwarzer attackiert den Westen "Ich finde das sehr verlogen"
Alice Schwarzer nutzt die Proteste im Iran zu einer Debatte über das Kopftuch. Frauen sollten es als Solidaritätsbekundung ablegen, forderte sie bei "Maybrit Illner". Die widersprach umgehend.
Maybrit Illner wusste wohl, warum sie der Alice Schwarzer am Donnerstagabend das letzte Wort überließ. Denn kurz vor Schluss kam in der Ausgabe zu den Protesten im Iran der Eklat. "Ich fände es einen großen Akt der Solidarität, wenn die Kopftuchträgerinnen im Westen, wo sie es freiwillig tragen, ihr Kopftuch ablegen würden, aus Solidarität mit den Iranerinnen", sagte die aus Köln zugeschaltete "Emma"-Herausgeberin. Die Iranerinnen würden derzeit ihr Leben riskieren, "dass sie einfach ihr Haar zeigen können, ihr Gesicht zeigen können, ihren Stolz zeigen können".
Die Gäste
- Friedrich Merz, CDU-Parteivorsitzender
- Omid Nouripour, Grünen-Parteivorsitzender
- Alice Schwarzer, Feministin, Publizistin
- Golineh Atai, Leiterin des ZDF-Studios in Kairo
- Ghazall Abdollahi, iranische Fotografin
- Düzen Tekkal, Menschenrechtsaktivistin
Eine fast wortgleiche Forderung hatte Schwarzer in der am selben Tag veröffentlichten Folge des Podcasts "Talk mit K" des "Kölner Stadt-Anzeiger" formuliert. Dort ging die Publizistin noch weiter. Sie wolle Frauen, die in Deutschland Kopftuch tragen, zwar keine Vorschriften machen und könne verstehen, dass manche Frauen es anlegen. Sie sage ihnen jedoch: "Bedenkt, wofür das Kopftuch steht! Unter anderem für die Toten im Iran. Der politische Islam hat es zu seiner Flagge gemacht, es ist ein politisches Signal", zitierte die Zeitung aus dem Gespräch.
Illner weist Schwarzer zurecht
Der ZDF-Journalistin Golineh Atai war die Skepsis bei Schwarzers Schlussworten ins Gesicht geschrieben. Düzen Tekkal, Gründerin des Menschenrechtsvereins HÁWAR.help, stellte klar: "Aber es sind keine Kopftuchproteste."
Illner, die Schwarzer während der Sendung durchgehend mit Vornamen angesprochen hatte, wies die Feministin umgehend zurecht: "Vielleicht können es die Frauen auch selbst entscheiden. Am allerwichtigsten ist, ihnen nicht weiter zu unterstellen, dass sich unter dem Kopftuch eben eine Islamistin verbirgt."
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Schwarzer nannte Solidaritätsbekundungen etwa mit den iranischen Spielern bei der Fußball-Weltmeisterschaft "verlogen". "Das Problem ist, dass der Westen seit 43 Jahren weggeschaut hat und wir immer wirtschaftliche und andere Interessen höher bewertet haben und auf diesen extrem blauäugigen Atomdeal gesetzt haben. Jetzt haben wir die Rechnung von all dem", konstatierte Schwarzer, die am kommenden Samstag 80 Jahre alt wird.
Sie forderte: "Man sollte rigoros gegenüber dem Staat auftreten, den Botschafter ausweisen, den Menschen, die in Gefahr sind, sollte man Visa anbieten, die Konten der Verantwortlichen sperren." Sie forderte ein Aufstehen der Politik, aber auch der Zivilbevölkerung: "Die ganze Bevölkerung müsste sich mobilisieren."
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Nouripour für Einstufung von Religionspolizei als Terrororganisation
CDU-Chef Friedrich Merz attestierte dem Westen eine bislang unzureichende Reaktion auf die brutale Reaktion des iranischen Regimes gegen die Proteste. Er warf der Bundesregierung vor, sich in der jüngsten Fragestunde im Bundestag nicht dazu positioniert zu haben, ob sie die iranische Religionspolizei als Terrororganisation einstufen will. "Wenn wir an einer solchen Stelle keine klare Haltung der Bundesregierung hören, dann dürfen wir das nicht alles nach Europa schieben. Es wäre in Deutschland mehr möglich", sagte er.
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Als der Co-Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Omid Nouripour, den Vorwurf des "Herumeierns" zurückwies, fragte Merz ihn konkret: "Soll die Religionspolizei als Terrororganisation eingestuft werden?" Der in Teheran geborene Nouripour lieferte eine klare Zusage: "Wenn ich die Antwort quasi mal für die Koalition geben darf: Ja. Es ist ein Gebot der Stunde. Es ist das schärfste Schwert, was wir haben, damit wir denen das Handwerk legen." Mit diesem Schritt lasse sich Rückgrat beweisen, dass diese Unterdrückung in Europa nicht geduldet werde.
Journalistin Atai: "Brauchen Zeitenwende in der Iranpolitik"
Schwarzer hatte zuvor insbesondere den Grünen vorgeworfen, den "politischen Islam" in der Vergangenheit verharmlost zu haben. "So wie wir bei der Russlandpolitik eine Zeitenwende erlebt haben, brauchen wir eine Zeitenwende in der Iranpolitik", forderte die ebenfalls in Teheran geborene ZDF-Journalistin Atai. Der Iran habe ähnlich wie Russland auch in Deutschland mit weichen Methoden Einfluss ausgeübt. So seien aus akademischen Kreisen immer wieder iranfreundliche Gesprächsthemen gestreut worden. "Da wirkt im Hintergrund eine Organisation, die man geradezu Lobby nennen kann", urteilte die Kennerin des Nahen und Mittleren Ostens.
"Wenn man dieses Unrechtsmörderregime wirklich in die Schranken weisen will, muss man sie maximal isolieren, wie Putin", verlangte die Menschenrechtsaktivistin Tekkal. Sie klagte an, dass ohne die nicht mehr zu ignorierenden Bilder aus dem Iran das westliche "Appeasement der letzten 43 Jahre" endlos weitergegangen wäre. Nun aber springe "eine ganze TikTok-Generation über die Klinge" und junge, nichtreligiöse Menschen würden mit mutigen Bildern von den Protesten und dem brutalen Vorgehen des Regimes den Westen mit einer schmerzhaften, neuen Wirklichkeit konfrontieren.
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"Man sollte das iranische Regime isolieren"
Eine Frau, die laut Maybrit Illner demonstriert hat und flüchten musste, ist Ghazall Abdollahi. Die Fotografin, deren Mutter – eine Journalistin und Frauenrechtsaktivistin – ihren Angaben nach im Gefängnis sitzt, forderte: "Man sollte das iranische Regime isolieren, man sollte mit ihnen nicht sprechen. Unterstützen Sie die Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen. Was sonst sollen sie noch machen, um die Unterstützung anderer Länder zu bekommen?" Abdollahi wünschte sich, dass Menschen wie sie in Deutschland nicht als Flüchtlinge, sondern als Studierende oder als Arbeitskollegen willkommen geheißen werden.
Nouripour versicherte: Das "Leisetreten" der europäischen Staaten bei Menschenrechtsverbrechen im Iran zum Schutze des Atomabkommens habe definitiv ein Ende. Die Gespräche zum Atomabkommen seien derzeit ausgesetzt. Das werde seiner Einschätzung nach "auf absehbare Zeit" so bleiben. Die Iraner seien zudem durch die Lieferung von Drohnen an Russland zur Kriegspartei geworden. Dem Regime könne nicht getraut werden.
"Wir müssen den Iran so massiv wie möglich unter Druck setzen, damit es dazu nicht kommt", sagte Merz mit Blick auf die Entwicklung von Atomwaffen in dem Land. Er setzte seine Hoffnungen hier hauptsächlich auf Israel. "Das ist eine Garantiemacht auch für unsere Sicherheit im Mittleren Osten". Beim atomaren Schutzschirm wird Deutschland nach Ansicht des CDU-Chefs noch lange Zeit auf die USA als Schutzmacht angewiesen sein. Auf Nachfrage Illners wies Merz die Vorstellung einer Atommacht Deutschland zurück.
- zdf.de: "Maybrit Illner" vom 1. Dezember 2022
- ksta.de: Podcast mit Alice Schwarzer