Die Wendepunkte des Wahlkampfes Ein Stolpern, ein Absturz und ein Fall nach oben
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Was für ein Wahlkampf! Sicher geglaubte Sieger sind plötzlich abgeschlagen, angebliche Verlierer sehen sich schon im Kanzleramt. Rückblick auf ein verrücktes halbes Jahr.
Wahlkämpfe sind in der Demokratie eine Art politisches Einkochen der üblichen Auseinandersetzung: Selten ist die Abgrenzung der Parteien gegeneinander so scharf wie in den Wochen und Monaten vor der Stimmabgabe. Alles ist ein wenig lauter als sonst, ganz besonders bei einer Bundestagswahl. Es geht um das mächtigste Amt des Landes: Wer gewinnt und könnte damit in den nächsten vier Jahren den Kanzler stellen?
Wie schnell Spitzenpolitiker in der Gunst der Wähler sinken und aufsteigen können, hat dieser Sommer bewiesen: Sicher geglaubte Sieger taumeln plötzlich, ehemals aussichtslose Kanzlerkandidaten könnten schon bald triumphieren. Wie konnte das passieren? Ein Rückblick auf die wichtigsten Stationen dieses Wahlkampfes – und ein ganz besonderes halbes Jahr.
20. April 2021: Armin Laschet setzt sich gegen Markus Söder durch
Eigentlich soll alles ganz anders laufen, zumindest hat man sich das in den Spitzengremien der CDU so gedacht: Nach dem Parteitag im Januar, auf dem Armin Laschet als neuer Vorsitzender gewählt wird, will man ruhig in den Bundestagswahlkampf starten.
Doch dann kommt Markus Söder: Der meldet im Frühling ebenfalls Anspruch auf die Kanzlerkandidatur an. Und weil in der Union keinerlei Verfahren vorgesehen ist, wie ein Kanzlerkandidat gefunden wird, wenn beide Schwesterparteien einen aufzubieten haben, entbrennt eine regelrechte Schlacht. Wochenlang geht es hin und her, es kommt zu Nachtsitzungen, emotionalen Debatten in der Bundestagsfraktion, persönlichen Attacken der Kandidaten.
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Am Ende setzen die Granden der CDU ihren Parteichef durch. Ein furioser Start ist das nicht: Wo andere Parteien frenetisch ihren Wahlkampfauftakt bejubeln, stolpert der Kanzlerkandidat der Union in den Sommer. CDU und CSU wirken uneinig, in der Retrospektive lässt sich sagen: Der nur knapp gewonnene Machtkampf gegen Söder ist bereits die erste Schwächung für Laschet. Und es soll nicht die letzte bleiben.
19. Mai und 6. Juni 2021: Annalena Baerbock, ihre Nebeneinkünfte und ihr Lebenslauf
Es ist der 19. Mai, als Annalena Baerbocks fatale Fehlerkette beginnt. Die Grünen-Kanzlerkandidatin muss nach einem "Bild-"Bericht eingestehen, dass sie schon im März Nebeneinkünfte an den Bundestag nachgemeldet hatte.
Details macht die Partei dann erst häppchenweise öffentlich. Erst nennen die Grünen keine Summe, dann doch: um mehr als 25.000 Euro aus den Jahren 2018 bis 2020 geht es. Weihnachtsgeld von der Partei, Erfolgsprämie für die Europawahl, aber auch eine Art Corona-Bonus. Selbst in der Partei ist mancher verwundert, was die Parteispitze sich so gönnt. Baerbock spricht später von einem "blöden Versäumnis".
Weitere "blöde Versäumnisse" folgen Anfang Juni. Baerbock muss ihren Lebenslauf an mehreren Stellen korrigieren. Über Tage werden immer neue Ungenauigkeiten bekannt. "Das war offensichtlich sehr schlampig", sagt Baerbock selbst dazu. Doch es entsteht nicht nur ein fatales Bild, die Sache legt auch ihr Team tagelang fast lahm.
Während die Grünen noch rudern, kann mancher in der Union sein Glück kaum fassen: Endlich wirkt der übermäßige Gegner besiegt, Baerbock gerät ins Straucheln und die Union legt wieder in den Umfragen zu. Im Juni sieht es fast so aus, als sei Laschet die Kanzlerkandidatur kaum noch zu nehmen. Und das liegt vor allem am Schlingern von Baerbock.
28. Juni: Annalena Baerbock und ihr Buch
Kurz darauf leisten sich die Grünen den nächsten Patzer. "Jetzt. Wie wir unser Land erneuern" lautet der Buchtitel des Werks, das Annalena Baerbock in diesem Sommer vorlegt. Es ist das Buch, das ihre Kanzlerkandidatur ausbuchstabieren soll und dem Wähler beschreiben, wer sie ist und was sie will. Doch darum geht es schnell nicht mehr, denn bald werden Plagiatsjäger in dem Baerbock-Buch fündig: Einige Passagen wirken wortgleich oder nahezu identisch, aus diversen frei verfügbaren Texten abgeschrieben.
Die Grünen wehren sich dieses Mal mit Händen und Füßen. Sie bezeichnen die Vorwürfe als "Rufmord" und "bösartig". Ein Promianwalt wird eingeschaltet. Dabei sind die Vorwürfe in der Sache nicht zu leugnen. Nach einigen Tagen drehen die Grünen kleinlaut bei, entschuldigen sich für die Plagiate, aber auch für ihre Haudrauf-Reaktion.
Ab diesem Zeitpunkt kommen die Grünen nicht mehr aus dem Umfrageloch, die Union zieht an ihnen vorbei. Von einer Kanzlerin Annalena Baerbock ist kaum noch die Rede. Ihr öffentliches Image erholt sich nicht mehr.
17. Juli: Laschets Lacher im Flutgebiet
Eine Binsenweisheit in Berlin lautet: Politik funktioniert sehr oft über Bilder. Und am 17. Juli entsteht ein Bild, das fatal ist für Armin Laschet. Es ist das Bild, das ihn über Monate begleiten wird, das Menetekel seines Wahlkampfes.
Laschet ist an diesem Tag ins Flutgebiet gereist, wo Dörfer von den Regenmassen hingerissen wurden. Es gibt bereits Dutzende Tote, in den Fernsehsendungen sind weinende Menschen zu sehen, die alles verloren haben. Laschet ist zu Besuch bei der Feuerwehr in Erftstadt, er steht gerade hinter dem Bundespräsidenten, als dieser über die Flutopfer spricht. Und dann wird er dabei fotografiert, wie er über einen Witz lacht, den einer neben ihm reißt.
Natürlich lacht Laschet nicht über die Flutopfer, doch das Bild ist in der Welt: Da hat einer nicht genug Taktgefühl und kichert im Angesicht des Totalverlusts und sogar Todes.
Laschet stand in den Umfragen zuvor recht passabel da. Doch mit dem Lacher aus Erftstadt wirkt er fortan wenig kanzleresk. Laschet wird in den Wochen danach immer wieder versuchen, gegen dieses Foto anzurennen, doch die Versuche bleiben zumeist vergeblich. Weil die Union danach kaum in die Offensive kommt, setzt sich mit dem Bild eine Abwärtsspirale in Gang.
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1. September: Plötzlich ist nur noch einer übrig
Der Triumph des Olaf Scholz in diesem Wahlkampf ist ein später. Eigentlich ist es sogar ein Triumph mit einem ganzen Jahr Anlauf: Am 10. August 2020, über ein Jahr vor der Bundestagswahl, wird Scholz von der Parteiführung zum Kanzlerkandidaten gekürt. Die SPD liegt zu diesem Zeitpunkt bei etwa 15 Prozent in den Umfragen, der Hohn in der Öffentlichkeit ist groß: Einen Kanzlerkandidaten aufzustellen? Bei dieser Lage der Partei? Wovon träumen die Sozialdemokraten eigentlich? Es wirkt wie ein schlechter Witz.
Aber Olaf Scholz ist kein Mann für Witze. Er macht in diesem Wahlkampf einfach immer weiter, ein ganzes Jahr lang. Scholz hält zwar keine flammenden Reden oder fällt mit großartiger Empathie im persönlichen Gespräch auf. Vor allem leistet er sich keine Fehler, und wenn ihm doch welche gefährlich werden könnten, sind sie sehr kompliziert wie Wirecard oder Cum Ex.
Laschet lacht im Flutgebiet, Baerbock schlittert durch ihre Plagiatsaffäre, nur Scholz steht stoisch auf der Stelle. Im Vergleich mit seinen Mitbewerbern wirkt seine Nüchternheit auf einmal kanzlerhaft. Die SPD zieht in den Umfragen an, überflügelt sogar die Union und plötzlich scheint alles Sinn zu ergeben. Aus einem vermeintlichen Witz-Vorschlag könnte der nächste Kanzler Deutschlands werden.
- Eigene Recherche