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Linke-Spitzenkandidat Bartsch: "Enteignung ist grundgesetzlich verbriefte Option"


Linke-Spitzenkandidat Bartsch
"Enteignung ist eine grundgesetzlich verbriefte Option"

  • Annika Leister
InterviewVon Annika Leister

Aktualisiert am 13.09.2021Lesedauer: 6 Min.
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Dietmar Bartsch: "Scholz und Baerbock? Da ist gar nichts klar."Vergrößern des Bildes
Dietmar Bartsch: "Scholz und Baerbock? Da ist gar nichts klar." (Quelle: Florian Gaertner/photothek.de/imago-images-bilder)

Die Linke könnte nach der Wahl vielleicht mitregieren – doch manche ihrer Positionen sind SPD und Grünen zu extrem. Spitzenkandidat Bartsch über Arroganz, Auslandseinsätze der Bundeswehr und den Verfassungsschutz.

Es ist ein hektischer Tag für Dietmar Bartsch. Gerade eilt der Spitzenkandidat der Linken zu einer namentlichen Abstimmung ins Parlament. Vor der Tür seines Büros warten in mehreren Räumen Journalisten auf ihn. Selten war die Linke so gefragt wie zurzeit – obwohl sie in Umfragen gerade einmal sechs Prozent Zustimmung schafft. Schon so wäre aber nach jetzigem Stand eine Regierungskoalition aus SPD, Grünen und Linken möglich. Doch will die Linke wirklich regieren? Und ist sie dafür bereit, jahrelang gepflegte Positionen unter den Tisch fallen zu lassen?

t-online: Herr Bartsch, eine rot-rot-grüne Koalition ist derzeit eine mögliche Machtoption nach der Wahl. Über einen Koalitionsvertrag würde aber auch die linke Basis abstimmen und die tickt oft anders als die Parteispitze. Wie schätzen Sie Ihre Basis ein: Würde sie regieren wollen?

Dietmar Bartsch: Bis wir an dem Punkt sind, müssen wir noch sehr viele Schritte gehen. Jetzt geht es darum, dass die Linke so stark wie möglich in den nächsten Bundestag einzieht. Den dringend notwendigen Politikwechsel nach 16 Jahren Stillstand gibt es nur mit einer starken Linken. Es würde allerdings nach meiner Überzeugung eine riesengroße Zustimmung geben, weil wir gute Ergebnisse vorlegen würden. Es gab Urabstimmungen zu Koalitionsverträgen auf Landesebene – die sind immer mit großer Mehrheit angenommen worden. Aber es ist nicht seriös, jetzt schon über Koalitionsverträge zu sprechen.

Bleiben wir unseriös. Für viele Wähler ist die Frage nach der Koalition schließlich essenziell. Welches Ministeramt würde Sie in einem rot-rot-grünen Bündnis interessieren?

Zwei Wochen vor der Wahl geht es nicht um Ministerposten. Diese Arroganz überlasse ich Habeck oder Lindner. Mein persönliches Interesse daran ist gering. Wir stehen für eine Mitte-Links-Regierung. Scholz und Baerbock auch? Nein. Da ist gar nichts klar. Linke oder Lindner? Darum geht es im Wahlkampfendspurt. Eine Ampel wäre Wahlbetrug mit Ansage und sicher kein Politikwechsel für die Mehrheit im Land.

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Die Union warnt vor einem Dietmar Bartsch als Verteidigungsminister.

Das finde ich wirklich witzig. Keine Partei würde zulassen, dass wir das Verteidigungsressort übernehmen. Aber natürlich wäre fast jeder ein besserer Verteidigungsminister als Annegret Kramp-Karrenbauer. Das ist nicht schwer. Steuergeldverbrennung in Milliardenhöhe für militärisches Gerät, das nicht funktioniert, würde es mit uns nicht geben. Bundeswehrsoldaten müssten nicht ihr Leben für unsinnige Auslandseinsätze riskieren. Zehn Milliarden weniger für die Rüstungsindustrie und zehn Milliarden mehr für unsere Schulen. Das würde es mit uns geben.

Welchem Thema würden Sie sich persönlich in einer Regierung am liebsten widmen?

Der Beseitigung von Kinderarmut. Die Kindergrundsicherung muss kommen, Kinderrechte müssen ins Grundgesetz. Das ist persönlich mein absolutes Wunschthema Nummer eins. Kinder in Armut in unserem reichen Land sind ein empörender Skandal. Dass ihre Zahl gestiegen ist, ist eines der dunkelsten Kapitel in Angela Merkels Kanzlerschaft. Ich weiß, dass sie selbst das nicht akzeptabel findet. Aber real dagegen getan hat sie zu wenig.

Es gibt viele große Hindernisse hin zu Rot-Rot-Grün. SPD-Spitzenkandidat Scholz hat einige öffentlich aufgezählt. Nehmen wir das jüngste Beispiel: Die Abstimmung im Bundestag zu den Evakuierungsflügen aus Afghanistan. Ihre Fraktion hat sich in Teilen enthalten, in Teilen mit Nein gestimmt. Warum war der Linken ein Ja nicht möglich zu der Frage, ob man Menschen retten will, die Deutschland zurückgelassen hat?

Eine zutiefst humanistische Frage wird gerade instrumentalisiert. Zu unterstellen, wir wollten keine Menschen retten, ist eine Form von denunziatorischer Kommunikation. Wir haben schon im Juni beantragt, dass möglichst alle rausgeholt werden. Jetzt haben wir uns enthalten, weil das Mandat zum Beispiel die Ortskräfte gar nicht umfasste. Hier wurden diese Menschen ein weiteres Mal im Stich gelassen. Und das sollen wir abnicken? Die Schmutzkampagne gegen uns soll ablenken von der Verantwortung, die andere für 20 Jahre Afghanistan-Desaster haben. Zehntausende Tote, 59 tote Bundeswehr-Soldaten, viele Traumatisierte, 13 Milliarden Euro Steuergeld versenkt. Union, SPD, FDP und Grüne sollten die Bürger für 20 Jahre Afghanistan um Entschuldigung bitten.

Aber Ihnen war doch vorher bewusst, dass Ihr Abstimmverhalten genau diese Angriffsfläche eröffnet.

Dass es dieses Gefahrenpotenzial gibt, war klar. Wir hätten auch sagen können: Wir wollen diesen Ärger nicht. Die Entscheidung ist bei uns anders getroffen worden, weil es um die Sache ging: Wir nicken kein Mandat ab, in dem es um diejenigen, die seit 2001 für Deutschland gearbeitet haben, gar nicht geht, wo zum Zeitpunkt der Abstimmung bereits der Befehl zur Beendigung gegeben war.

Auch innen- und finanzpolitisch fordert Scholz Verlässlichkeit und Vernunft vom zukünftigen Koalitionspartner. Ihre Partei unterstützt mit der Initiative "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" die Enteignung großer Wohnungskonzerne. Zeitgleich mit der Bundestagswahl findet das Volksbegehren dazu in Berlin statt.

Zum Glück haben die Bürger in Berlin jetzt die Gelegenheit zu entscheiden. Die Initiative an sich ist Ausdruck einer tiefen Unzufriedenheit vieler Menschen mit dem Wohnungsmarkt. Wir müssen hier für Veränderung sorgen. Viele Menschen sind verzweifelt. Die Möglichkeit zu enteignen, ist im Grundgesetz festgeschrieben. Das ist nicht verfassungsfeindlich, im Gegenteil. Am häufigsten wird übrigens in Bayern enteignet. Enteignung ist eine grundgesetzlich verbriefte Option. Und schädliche Monopole gibt es nicht nur im Wohn-, sondern auch im Finanz- und Energiebereich.

Sie würden also nicht nur Wohnkonzerne enteignen wollen?

Die These, dass der Staat immer der schlechteste Unternehmer ist, teile ich nicht. Und den Satz "too big to fail" – den darf es nicht geben. Das Festhalten daran muss enden. Eine Bundesregierung muss bestimmte Großbanken und -unternehmen – natürlich gegen Entschädigung – in Gemeineigentum überführen können. In der Pandemie hatten sehr viele Menschen Interesse an staatlicher Beteiligung und Unterstützung. Wichtig ist: Wir wollen Omas nicht den Garten und Familien nicht das Eigenheim nehmen und auch nicht höher besteuern. Es geht um Großkonzerne, die unsere Gesellschaft mit ihrer wirtschaftlichen Macht aus dem Gleichgewicht bringen.

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Können Sie konkrete Beispiele nennen, die Sie enteignen beziehungsweise verstaatlichen würden?

Zum Beispiel im Gesundheits- und Pflegebereich. Sollen Krankenhäuser und Altenheime wirklich für Renditeinteressen da sein? Ich denke, das sieht eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger anders. Es muss um Würde und Gesundheit gehen. Aber vor allem wollen wir die Enteignung der Mittelschicht stoppen. Nämlich die Enteignung von Mieterinnen und Mietern, die in vielen Städten durch obszöne Mieten abgezockt werden. Ein bundesweiter Mietendeckel wäre ein Enteignungstopp von Mietern.

Ein weiterer innenpolitischer Streitpunkt: Ihre Partei will den Verfassungsschutz auflösen.

Spätestens seit Hans-Georg Maaßen weiß man, dass dieser Verfassungsschutz offensichtlich ein Problem hat. NSU, Hanau, Halle. Es ist unbestritten, dass es Reformbedarf gibt. Ich teile aber die These nicht, dass der Verfassungsschutz aufgelöst werden muss. Einige Aufgaben, die er übernimmt, müssen wahrgenommen werden. Mit dieser Meinung bin ich in meiner Partei aber in der Minderheit. Es gibt eine qualifizierte Minderheit für diese Haltung, aber sie bleibt eine Minderheit.

Werden Sie sich darum bemühen, das zu ändern?

Es ist ein Streit um des Kaisers Bart. Wir sind nicht in der Position, den Verfassungsschutz auflösen zu können. Wir tragen Regierungsverantwortung in drei Ländern und haben nirgendwo den Verfassungsschutz aufgelöst. Bodo Ramelow hat in Thüringen einen neuen Leiter eingesetzt. Das war auch dringend nötig.

Aber solche Passagen in Ihrem Programm sind doch das Problem in der Diskussion mit SPD und Grüne. Ideologische Hindernisse für eine Regierungsbeteiligung.

Nein. Wir sind nicht diejenigen, die Gründe suchen, warum etwas nicht geht. Wir sind diejenigen, die Wege suchen, wie wir einen Politik- und Regierungswechsel erreichen können, der nach 16 Jahren Merkel dringend notwendig ist. Wir brauchen eine Regierung ohne CDU, CSU und FDP. Jeder, auch in der Linken, weiß, dass man in einer Regierung sein Programm nicht eins zu eins umsetzt. Je stärker die Linke wird, desto mehr können wir durchsetzen, um dieses Land gerechter zu machen.

Kritiker verweisen auf in außen- und sicherheitspolitischen Fragen fundamentalistische Abgeordnete in der Linken, die in vielen der strittigen Fragen ihre Meinung wohl nicht ändern werden.

Einzelne Vertreter der Linken, die besonders starke Positionen vertreten, werden öffentlich gerne zu Kronzeugen gemacht. Aber sollte es nach der Bundestagswahl zu einem Mitte-Links-Bündnis kommen, entscheiden nicht einzelne, sondern unsere Mitglieder über die Annahme eines Koalitionsvertrages.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Dietmar Bartsch
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