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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bundestagswahl 2025 Es fließen Tränen
Die Linke zieht nach der Wahl sicher in den Deutschen Bundestag ein. Bei der Wahlparty in Berlin sind alle in Feierstimmung. Aber die Partei steht nun vor einem Umbruch, der mit Blick auf ihre Zukunft entscheidend sein wird.
Vom Wahlabend der Linkspartei berichtet Patrick Diekmann.
Damit hat kaum jemand gerechnet, nicht einmal die Linke selbst, so scheint es. Zur Wahlparty sind an diesem Sonntag Hunderte Gäste auf das Gelände der Arena Berlin gekommen. Nicht alle Menschen passen hinein, mit der Halle hat die Partei einen vergleichsweise kleinen Veranstaltungsort angemietet. Ein Türsteher kontrolliert den Eingang, nur Gäste mit roten Bändchen und Presse werden hereingelassen. Für den Rest hat die Linke vor der Halle Heizpilze aufstellen lassen, auch draußen gibt es Getränke und Verpflegung.
Schon um 17.15 Uhr ist die Halle gut gefüllt. Auffällig viele junge Menschen sind zum Wahlabend der Linkspartei gekommen. Viele lachen, umarmen sich zur Begrüßung. Auch der 52-jährige Heinz wundert sich: "Die Stimmung ist so ausgelassen wie seit Jahren nicht mehr." Kein Wunder: Die Umfragen der vergangenen Tage sahen für die Partei äußerst vielversprechend aus. Deswegen betreten viele Gäste die Veranstaltungshalle mit der Erwartung: Jubel um 18 Uhr, wenn die ersten Prognosen zum Ausgang der Bundestagswahl 2025 kommen.
Die Linke hat sich in diesem Wahlkampf in Rekordzeit neu erfunden. Plötzlich ist sie die Partei geworden, die vor allem jungen Menschen eine politische Heimat gibt. Die etwas angegraute Protestpartei, die vor allem in Ostdeutschland verankert ist, ist plötzlich jung; sie ist hip – und das spiegelt sich am frühen Wahlabend in Berlin wider.
Wahlabend wird zur Party
Die ganze Halle der Arena Berlin ist in rotes oder violettfarbenes Licht getaucht. Es ist mehr Party als Parteiveranstaltung. Vor der Bühne beschallt ein DJ das Publikum mit Musik – eine Mischung aus klassischem Rock und modernem Elektro. An der Bar bilden sich lange Schlangen. Viele Gäste bestellen Bier oder Wein – auch das trägt zur Feierstimmung bei.
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Dabei hatte die Linkspartei im Januar noch eher defensiv zu einem Wahlabend eingeladen. Zur Party wurde es erst in den vergangenen Wochen. Ausgerechnet CDU-Chef Friedrich Merz wurde dabei zum Wahlhelfer für die Linke. Er hatte einen Antrag zur Verschärfung der Migrationspolitik mit Stimmen der rechtspopulistischen AfD im Bundestag durchbekommen, mit einem Gesetzesentwurf war er dagegen gescheitert. Die Folge: Proteste in ganz Deutschland. Und die Linke konnte gegen rechts und die Union mobilisieren. Tausende Mitglieder traten in den vergangenen Wochen der Partei bei.
Die vielen jüngeren Menschen geben der Linken ein anderes Gesicht. Die 25-jährige Leonie sagt: "Wir sind gegen Faschismus und gegen eine Regierungsbeteiligung auf die Straße gegangen." Die Linke sei zudem die Partei, die sich für junge Frauen einsetze. "Und das brauchen wir, vor allem unter einem Kanzler Merz." Das scheinen auch andere so zu sehen. Viele junge Frauen sind zum Wahlabend in Berlin gekommen. Etliche erzählen, vorher die Grünen oder auch die SPD gewählt zu haben – und von der Ampelregierung enttäuscht worden zu sein.
Kurz vor 18 Uhr drängen die Gäste der Wahlparty vor die Bühne. Dort läuft nun das Programm der ARD und die ersten Wahlprognosen werden in Kürze verkündet. Ein Ordner mahnt Journalisten und Fotografen: "Achtung! Die Konfettikanone knallt gleich." Um 18 Uhr soll sie gezündet werden.
Jubel, Applaus, Luftsprünge
Konfetti und die Linke – das passte in den vergangenen Jahren eigentlich nicht zusammen. Nach dem Austritt von Sahra Wagenknecht und der Neugründung des BSW erklärten nicht wenige politische Beobachter die Linkspartei bereits für tot. Die Direktmandatskampagne von Gregor Gysi, Bodo Ramelow und Dietmar Bartsch ("Mission Silberlocke") erschien wie ein Verzweiflungsakt, um die Partei doch noch irgendwie in den Bundestag zu bekommen.
Mit der Prognose um 18 Uhr wird dann allerdings klar: Die Mission hätte es nicht gebraucht. Die Linke kommt auf über acht Prozent. Da ist er, der Jubel. Gäste springen auf, liegen sich in den Armen, kreischen, klatschen. Nur die Konfettikanone ist irgendwie defekt.
Dann betritt Linken-Chef und -Spitzenkandidat Jan van Aken die Bühne: "Die Linke lebt", ruft er vor der jubelnden Menge. Daneben steht Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek, sie klatscht und weint vor Freude. Besonders sie hatte mit einer sehr erfolgreichen Social-Media-Kampagne in den vergangenen Wochen viele junge Wählerinnen und Wähler angesprochen. Co-Parteichefin Ines Schwerdtner spricht auf der Bühne vom "Comeback des Jahres" und kündigt an, in den kommenden Jahren werde die Partei eine "Brandmauer" gegen rechts sein.
In diesem Moment liegt eines auf der Hand: Die Linke steht vor einem fundamentalen Wandel. Denn die neuen – oftmals jüngeren – Mitglieder werden maßgeblich die Programmatik der Partei mitbestimmen. Die Protestpartei, die sie vor allem in Ostdeutschland ist, bekommt nun eine Verjüngungskur abseits von Gysi, Ramelow und Bartsch – den bekanntesten Gesichtern der Linken.
"Euphorisch und unfassbar dankbar"
Jung trifft auf älter. Auch das kennzeichnet diesen Wahlabend und wird besonders deutlich, als Gregor Gysi um 20.30 Uhr seine Rede beginnt. Der 77-Jährige steht auf der Bühne, laute Techno-Musik läuft über die Lautsprecher. Gysi bedankt sich bei den Jungen, dass sie die "Silberlocken" als bekannte Gesichter toleriert haben. Auf der Wahlparty hat sich zu diesem Zeitpunkt längst herumgesprochen, dass die Linke sogar weitaus mehr als die drei Direktmandate der "Silberlocken" geholt haben soll. Immer wieder schauen die Gäste auf ihre Telefone. Von besonderem Interesse hier ist Berlin-Lichtenberg, denn dort könnte Parteichefin Schwerdtner tatsächlich die AfD-Politikerin Beatrix von Storch geschlagen haben.
Das wäre für viele Linke die Kirsche auf der Sahnetorte.
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Aber Gewissheit darüber gibt es wahrscheinlich erst am Montag. Nach Gysis Rede leert sich die Halle langsam, viele feiern aber noch weiter. Jetzt singen die Gäste sogar zusammen: "Wehrt euch. Leistet Widerstand, gegen den Faschismus hier im Land. Auf die Barrikaden." Die Erwartung an die künftige Linksfraktion im Bundestag scheint klar: gegen die AfD, für die Brandmauer. Und vielleicht gelingt es der Linken sogar, Wählerinnen und Wähler von Sahra Wagenknechts BSW zu übernehmen, sollte sie es nicht in den Bundestag schaffen – mit einem politischen Angebot für Menschen, die gegen Waffenlieferungen für die Ukraine sind.
An den Biertischen blicken viele Linke mit Genugtuung auf das Wahlergebnis des BSW. Einige schauen auf ihren Handys die Elefantenrunde in der ARD. Der 61-jährige Günther schimpft, als er die ehemalige Linken-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali auf dem Bildschirm sieht: "Was für eine Opportunistin. Das geschieht ihr recht."
Auch Linken-Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek steht um 21 Uhr an der Bar. Glücklich, aber auch müde, mit angeschlagener Stimme, "von der lauten Musik und den vielen Interviews", wie sie sagt. "Ich bin einfach euphorisch und unfassbar dankbar, dass so viele Menschen uns ihr Vertrauen ausgesprochen haben." Reichinnek kündigt an, linke Ideen im Bundestag durchsetzen zu wollen. An diesem Abend gibt es nur einen Wermutstropfen: das starke Ergebnis der AfD. "Ich hoffe, dass alle anderen Parteien sich auch darauf besinnen, dass es gegen die AfD eine starke Sozialpolitik braucht und vor allen Dingen: eine Unterstützung der demokratischen Zivilgesellschaft." Danach geht Reichinnek selbst ein wenig feiern. Schließlich sei es "ein Freudentag", wie sie sagt.
Nach und nach leert sich die Halle. Die Musik wird lauter. Die Älteren gehen, die Jüngeren bleiben und tanzen. Auch das steht für die Linke an diesem Wahlabend.
- Beobachtungen und Gespräche beim Wahlabend der Linken in Berlin