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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Merkels Ex-Berater über Putin "Das war ein Warnschuss"
Die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) fiel dieses Jahr in eine Zeit der Krisen und Kriege, wie vielleicht noch nie seit ihrem Bestehen. Ihr Chef Christoph Heusgen zieht kritisch Bilanz und attackiert den Kanzler für dessen Nein zu Taurus an die Ukraine.
Der Hausherr kommt unmittelbar nach dem Gast zur Tür herein in der Berliner Dependance der Münchner Sicherheitskonferenz. Ob er helfen könne? "Ach so, ja, wir sind ja verabredet!", sagt er, als sich erweist, wer der Mann mit dem suchenden Blick ist, und bittet ins Treppenhaus. Christoph Heusgen, drahtig und schlank, nimmt nie den Aufzug, sondern immer die Treppe bis in sein Büro unterm Dach in der Friedrichstraße. Eine halbe Stunde nimmt er sich dort Zeit, um über eine Welt aus den Fugen zu sprechen.
t-online: Herr Heusgen, die Münchner Sicherheitskonferenz ist vier Wochen her. Ihre persönliche Bilanz mit etwas Abstand?
Christoph Heusgen: Die Bilanz fällt gemischt aus. Positiv ist sie insofern, als es gelungen ist, die transatlantischen Themen sowie europäische Sicherheit und Verteidigung auf die Tagesordnung zu bringen. Wir sind auch dem Anspruch gerecht geworden, finde ich, die wichtigste globale Konferenz zu sein, denn wir hatten den UN-Generalsekretär da und viele Präsidenten, Premierminister, Außenminister aus Lateinamerika, Afrika, Asien. Auch inhaltlich war es ein Erfolg, weil wir einen umfassenden Sicherheitsbegriff behandelt haben: von Klimafinanzierung über Gesundheit bis hin zu Fragen der Künstlichen Intelligenz.
Und die Schattenseiten?
Der Mord an Alexej Nawalny hat die Konferenz überschattet, ebenso die Situation in der Ukraine und die Frage: Wie steht es mittel- und langfristig um die transatlantische Gemeinschaft? Wir hatten Republikaner dabei, die klipp und klar gesagt haben, wo Trump steht. Das hat die Stimmung gedrückt. Und schließlich der Konflikt im Nahen Osten. Wir hatten sowohl Israelis als auch Vertreter der Palästinenser und der arabischen Welt vor Ort. Aber wie wir sehen, müssen auf die Gespräche noch viele weitere folgen, damit wir nachhaltig zu einer Verbesserung der Situation kommen.
Der Charme der Veranstaltung besteht seit jeher darin, dass es eben informelle Gespräche sind, aber von formal sehr wichtigen Persönlichkeiten. Das setzt aber voraus, dass auch die Richtigen da sind. Einer konnte logischerweise nicht da sein, Wladimir Putin. Und auch bei China hatte man den Eindruck, dass nicht diejenigen da waren, die Prokura haben.
Das stimmt so nicht. Wir hatten einige chinesische Akademiker zu Gast, aber vor allem Wang Yi, den Außenminister und wichtigsten Außenpolitiker Chinas, der sich im Übrigen auch mit US-Außenminister Tony Blinken getroffen hat. Genau solche Gespräche sind in München sehr wichtig.
Zugleich fand die MSC zu einem Zeitpunkt statt, an dem die Fronten verhärtet sind wie lange nicht. Wie kann man Brücken schlagen, wenn im Moment nicht mal Brückenköpfe stehen?
Wir müssen realisieren und akzeptieren, dass wir bei verschiedenen Konflikten jetzt nicht direkt weiterkommen, sondern daran arbeiten müssen, Voraussetzungen für politische Lösungen zu schaffen. Zum Beispiel ist es wichtig, dass wir die Ukraine weiter unterstützen, bis Putin einsieht, dass er den Krieg nicht gewinnen kann, und die Ukraine aus einer Position der Stärke heraus dann irgendwann eine Verhandlungslösung mit Russland hinbekommt. Dafür hat die Konferenz, trotz aller amerikanischen Zögerlichkeiten, das Signal des Zusammenhalts gegeben. Der tschechische Präsident Pavel hat in München erfolgreich die Initiative lanciert, 800.000 Schuss Artilleriemunition zusammenzubekommen. Das war beeindruckend. Leider wird uns all das nicht grundsätzlich weiterbringen, wenn jetzt nicht noch weitere Schritte folgen.
Die Konferenz konnte trotz amerikanischer Zögerlichkeit ein Signal des Zusammenhalts geben.
MSC-Chef Heusgen
2007, da waren Sie außenpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel, hat Wladimir Putin eine Rede in München gehalten, in der er unverblümt warnte: Keinen Schritt weiter mit der Nato Richtung Osten, und: Schluss mit eurem Modell einer monopolaren Welt. Hat der Westen da etwas ignoriert, was er hätte sehen müssen?
Diese Rede 2007 war sehr wichtig. Man muss trotzdem den größeren Zusammenhang sehen. Drei Jahre vorher war derselbe Putin in Berlin bei Bundeskanzler Gerhard Schröder und hat gesagt: Alles gar kein Problem, unsere Sicherheit ist durch den Nato-Beitritt auch der baltischen Staaten nicht in Gefahr. Jeder Staat kann entscheiden, was er möchte. Da war die Welt noch in Ordnung. Das war eine Welt, in der es noch eine Partnerschaft mit Russland gab.
Was ist dann passiert?
Irgendwann hat Putin für sich entschieden: Jetzt gehe ich vom Weg der Kooperation zur Konfrontation. Das war um die Zeit seiner Rede 2007. Die war ein Warnschuss, da haben Sie recht. Aber anders, als es oft dargestellt wird, hat die Nato darauf sehr wohl reagiert. Im Jahr darauf, 2008, war es Angela Merkel, zusammen mit dem französischen Präsidenten Sarkozy, die ein Veto eingelegt hat gegen die Osterweiterung der Nato, was Ukraine und Georgien anbelangt. Danach war Putin vier Jahre lang im Hintergrund, Medwedew war Präsident. Russland wurde zu Hause liberaler, hat sich in den Vereinten Nationen konstruktiv verhalten. Die Russen haben sich zum Beispiel bei der Libyen-Intervention dann enthalten.
Dann kam Putin zurück ...
… und alles war anders. Erinnern wir uns: Als er wiederkam, gab es große Demonstrationen von enttäuschten Liberalen in Russland. Und in dieser Zeit ist aus meiner Sicht der Schwenk tatsächlich erfolgt. 2012 erlebte er mit, wie es in der arabischen Welt Umstürze gab. Er hat die großen Demonstrationen bei sich registriert. Die russischen Umfrageinstitute bescheinigten ihm niedrige Beliebtheitswerte. Nach den Olympischen Spielen in Sotschi hat er dann den Schalter umgelegt, auf Nationalismus gesetzt und mit diesem Nationalismus gepunktet.
Vom weltoffenen Liberalen zum Stalinisten?
Na ja, ein Liberaler war er nie, aber durchaus kooperativ. Das hat sich dann geändert. Heute knüpft er unmittelbar an die Stalinzeit an. Er stellt die Aggression gegen die Ukraine dar als die Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges, in dem man sich verteidigen muss gegen die Faschisten, die Russland bedrohen. Er nutzt dieses Narrativ, um an der Macht zu bleiben. Und er muss der Erzählung natürlich Nahrung geben. Das macht er mit seiner aggressiven Politik in der Ukraine. Nachdem er die Krim annektiert und den Donbass auch zum Teil erobert hatte, hofften wir, die Aggression mit dem Minsk-Vertrag aufhalten zu können. Wir glaubten, ihn damit auf einen diplomatischen Weg zu bringen.
Ein Irrtum.
2022 wurde endgültig klar, dass er sich nicht an Minsk und viele andere Abmachungen hält, dass er diese nationalistische, ja imperialistische Politik weitertreiben und seine Lüge vom Kampf gegen den Faschismus beibehalten wird. Und das wird er weiter tun, bis er sieht, dass die Kosten höher sind als der Nutzen. Der Zeitpunkt ist aber bisher nicht in Sicht.
Reden wir über den Westen und insbesondere Europa. Scholz und Macron streiten über etwaige Bodentruppen, über Waffenlieferungen. Warum ist es so schwer, eine einheitliche Linie in Europa herzustellen und beizubehalten?
Das ist die Gretchenfrage. Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir uns in Teilen Europas immer noch nicht wirklich im Klaren sind über die Dimension der russischen Aggression. Wir glauben immer noch, das ist lokal begrenzt und nicht grundsätzlicher Natur.
Was meinen Sie mit grundsätzlich? Expansionistisch? Über die Ukraine hinausgehend?
Ja, das hat Putin ja auch angekündigt. Die größte Katastrophe des letzten Jahrhunderts war für ihn der Zerfall der Sowjetunion. Und er will Russland zu alter Größe führen, auch räumlich. Ich fürchte, dass wir uns dieses Ausmaßes noch nicht bewusst sind. Das ist anders bei Balten, bei Polen, Tschechen, Rumänen. Die sind sich im Klaren darüber. Bei uns ist der Groschen noch nicht gefallen. Wir haben zwar die Zeitenwende verkündet, aber noch nicht wirklich verinnerlicht. Die Ambition ist da, aber der Streit zwischen Macron und Scholz zum Beispiel zeigt, dass die Dimension der Zeitenwende noch nicht verstanden ist.
Die Taurus-Frage und den Kanzler können wir nicht aussparen. Wie interpretieren Sie sein Nein, das manche als Begriffsstutzigkeit, Sturheit oder sonst was bei Olaf Scholz wahrnehmen?
Der Kanzler hat für sich rote Linien gezogen, und davon geht er nicht weg, auch wenn die inhaltliche Erklärung dieser roten Linie nicht wirklich stichhaltig ist. Denn wir wissen ja, dass Taurus in Südkorea ohne deutsche Bundeswehrsoldaten funktioniert und dass das mit Vorlauf auch in der Ukraine gehen würde. Offenbar gibt es beim Kanzler ein Misstrauen gegenüber den Ukrainern, dass sie sich nicht an die Vorgaben halten. Deswegen würde Scholz Taurus nur mit deutschen Bundeswehrkontrolleuren an die Ukraine liefern. Aber dafür bräuchte er ein Bundestagsmandat, was nicht zu bekommen ist. Dieses Misstrauen gegenüber der Ukraine ist nicht gerechtfertigt. Denn erstens haben sich die Ukrainer bisher beim Einsatz der deutschen Gepards und Leopard-Panzer an alle Vorgaben gehalten. Und zweitens wären sie mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn sie das nicht mehr täten, weil sie wissen, dass damit die deutsche Unterstützung auf dem Spiel stünde, die ja die wichtigste in Europa ist.
Als Junge hatte ich ein Mofa. Das habe ich natürlich frisiert. Und dann hat mich der Dorfpolizist alle acht Wochen erwischt, und ich musste bei der Polizeistation vorfahren und das gedrosselte Mofa zeigen. Danach bin ich nach Hause gefahren und habe wieder den anderen Auspuff drangebaut. Genau das scheint der Kanzler doch bei einem reichweitengedrosselten Taurus-Marschflugkörper in den Händen der Ukraine zu befürchten.
Anders als Schwennicke Junior weiß der ukrainische Präsident ganz genau, dass er mit dem Feuer spielte, wenn er sich nicht an die Vorgaben hält. Jegliche Unterstützung, Glaubwürdigkeit wäre sofort verloren. Es ist ein aus meiner Sicht völlig ungerechtfertigtes Misstrauen gegenüber dem ukrainischen Präsidenten, der jetzt um das Überleben seines Staates kämpft und auch unsere Freiheit verteidigt.
Wir reden von einer insgesamt äußerst instabilen Welt. Was würde eine zweite Präsidentschaft von Donald Trump bedeuten?
Ich gehöre nicht zu denen, die fest davon ausgehen, dass Trump Präsident wird. Ich glaube, dass Joe Biden nach wie vor eine gute Chance hat, Präsident zu bleiben. Was wir von Trump wissen, ist, dass er sehr erratisch ist. Wir haben da keinen festen Parameter, an dem wir uns orientieren können. Was wir machen müssen, ist etwas, was wir innerhalb der Allianz schon 2014 versprochen haben: Dass wir für unsere eigene europäische Verteidigung aufkommen, dass wir mindestens 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgeben für Verteidigung. Nach der Annexion der Krim haben wir das 2014 beim Nato-Gipfel in Wales versprochen. Und da haben wir in den letzten Jahren leider zu sehr gezögert, das umzusetzen. Wir sind jetzt weiter in der Erkenntnis. Wir sind aber immer noch nicht so weit, dass wir mit Blick auf die europäische Verteidigung genug tun. Egal, wer in den USA Präsident bleibt oder wird: Wir müssen für die europäische Verteidigung einfach mehr machen.
Egal, wer US-Präsident ist: Wir müssen einfach mehr für die europäische Verteidigung machen.
Christoph Heusgen
Worauf gründet sich Ihre Hoffnung oder Annahme, dass Joe Biden im Amt bleiben kann?
Es ist zu früh für eine klare Prognose, aber die wirtschaftliche Entwicklung ist gut in Amerika. Und dann gibt es sehr viele traditionelle Republikaner, die am Ende lieber nicht zur Urne gehen, als Trump zu unterstützen. Und vielleicht, darauf hoffe ich, ist der aktuelle Krieg im Nahen Osten bis zu den Wahlen beendet, so dass viele arabischstämmige Wähler in Amerika, die die Biden’sche Nahostpolitik kritisieren, ihm dann doch wieder ihre Stimme geben.
Wir haben den Krieg in der Ukraine, wir haben Gaza, wir haben Krieg in der Meerenge beim Jemen, wo auch kriegerische Auseinandersetzungen stattfinden. Sind das Indizien genug, dass man sagen kann: Die Schlafwandler, die der Historiker Christopher Clarke auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg sah, sind wieder unterwegs?
Das kann man nicht vergleichen. Vor dem Ersten Weltkrieg stand vieles aufgereiht wie Dominosteine, die dann in einer Kettenreaktion fielen, was in die Katastrophe führte. Hier und heute haben wir es mit unterschiedlichen Schauplätzen zu tun. Man muss sich über deren massive Dimension bewusst sein, das sagte ich schon. Aber ich sehe nicht die Zusammenhänge, wie es sie 1914 gab.
Aber sind die Konflikte und Kriege von heute nicht doch verwobener, als es auf den ersten Blick aussieht? Also dass Russland natürlich engen Kontakt zum Iran pflegt und dass der Iran eine Rolle bei diesen beiden Konflikten spielt, über die wir gerade auch gesprochen haben?
Natürlich gibt es Zusammenhänge. Und erkennbar geht es China und Russland um eine Veränderung der globalen Machtordnung zu ihren Gunsten. Aber ein 1914-Szenario ist das trotzdem nicht.
Wo sehen Sie denn Licht in diesem allgemeinen Dunkel?
Europa hat es in seiner Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg in kritischen Situationen immer wieder geschafft, gestärkt und geeint aus einer Krise hervorzugehen. Ich setze meine Hoffnung darauf, dass, wenn wir nach den Wahlen in Europa ein neues Parlament, eine neue Kommission haben, noch mal ein Ruck durch Europa geht und das Verständnis fürs Gemeinsame wieder da ist. Wir müssen auch im Bereich Sicherheit und Verteidigung einfach europäisch mehr machen, weil wir endlich erkennen müssen, dass wir mit Einzelstaatlichkeit da nicht weiterkommen.
Klingt nach Hölderlin. Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.
Daran glaube ich fest. Wir sind in einer depressiven Phase. Aber ich weigere mich, in diesen Blues einzustimmen. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass man als Rheinländer, der ich bin, immer auch das Positive sieht.
- Interview mit Christoph Heusgen am 12. März 2024