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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Annalena Baerbock in Polen Ihr stockt der Atem
Es geht um Krieg, Ressentiments und viel, viel Geld. In Polen erlebt Annalena Baerbock eine antideutsche Kampagne hautnah – und wirkt am Ende überwältigt.
Seit Monaten halten der Überfall auf die Ukraine und die dahinterstehenden imperialen Ambitionen Wladimir Putins die Welt in Atem. Da ist es kein Wunder, dass Annalena Baerbocks Gastgeber sie mit einer Warnung vor den Gefahren "imperialer Politik" empfängt.
Im Foyer des Außenministeriums in Warschau hält Hausherr Zbigniew Rau seiner deutschen Amtskollegin einen kleinen Vortrag über die Verheerungen dieser imperialen Politik und über "Gewalt in den internationalen Beziehungen".
Doch schon nach den ersten Sätzen wird klar, dass Rau damit gar nicht in erster Linie Putin und die Ukraine meint, sondern das Leid, das Nazi-Deutschland seinem eigenen Land angetan hat. Und dies sei gerade ein "Hindernis" für die gegenseitigen Beziehungen.
Hindernis – das ist allerdings nur die diplomatische Formulierung. Das Verhältnis zwischen den Nachbarn Deutschland und Polen entwickelt sich seit Monaten ohnehin in nur eine Richtung: Es geht rapide bergab.
Zwar ist die regierende nationalkonservative PiS-Partei seit langem berüchtigt für ihre antideutschen Töne, von der sie sich Wählerstimmen verspricht. Doch zuletzt eskalierte sie die Kampagne. Vorläufiger Höhepunkt war die offizielle Berechnung des Parlaments, dass Deutschland mehr als 1,3 Billionen Euro für die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg zu zahlen habe.
"Aggressiv antideutsch"
Neben dem Umgang mit der belasteten Vergangenheit kam auf weiteren Feldern gewaltiger Streit hinzu: Polens Regierung wirft Berlin seit Monaten mangelnde Hilfeleistung für die Ukraine vor. in Deutschland wiederum wittert man beim katastrophalen Fischsterben in der Oder systematische Verschleierung durch die polnische Seite.
Selbst der Polen-Beauftragte der Bundesregierung, Dietmar Nietan (SPD), beschwerte sich kürzlich über die "aggressive antideutsche Politik der PiS". Und so hängt über Baerbocks knapp 24-stündigem Aufenthalt in Warschau auch die Frage, wie weit bergab es im vergifteten Verhältnis angesichts der Krieges eigentlich noch gehen darf. Und wie die Grünen-Politikerin den Spagat schafft zwischen der nicht bestreitbaren historischen Verantwortung Deutschlands und dieser Kampagne einer Rechtsaußen-Regierung.
Kleine Gemeinheiten
Nur wenige Stunden vor ihrer Ankunft machten die Gastgeber die Forderung nach Reparationen mittels einer diplomatischen Note offiziell. Der Brief sei schon auf dem Weg nach Berlin, wird Baerbock beschieden. Es ist eine der vielen kleinen Gemeinheiten, die die polnische Regierung den deutschen Nachbarn gerade mitgibt.
Wie würde Baerbock darauf reagieren? Zunächst doch ein bisschen verstimmt. Sie habe aus dem Fernsehen erfahren, dass der Brief unterwegs sei, sagt sie beim Auftritt vor der Presse. Sie spricht viel über die Verantwortung, zu der man sich "ohne Wenn und Aber" bekenne. Und über "ewige Dankbarkeit", die man für Polens Rolle beim Ende des Kalten Kriegs empfinde.
Die deutsche Linie
Doch dann wird Baerbock deutlich und dreht sich zu ihrem Amtskollegen Rau: "Gleichzeitig ist die Frage nach Reparationen aus Sicht der Bundesregierung, und das weißt du, abgeschlossen."
Tatsächlich ist das Wort "abgeschlossen" für die Position Deutschlands am treffendsten. Gleich mehrfach ist die Frage völkerrechtlich beigelegt worden. Mit den Zwei-plus-vier-Verträgen nach dem Ende des Kalten Krieges, an denen Polen zwar nicht direkt beteiligt war, die es aber über die OSZE auch ratifiziert hat. Oder mit dem alten Vertrag aus dem Jahr 1953, unter starkem Einfluss der Sowjetunion geschlossen, aber 2004 von der polnischen Regierung noch einmal bestätigt.
Doch Baerbock weiß selbst, dass sie sich wohl nicht allein auf diese völkerrechtliche Argumentation zurückziehen kann. Zumal die Kampagne der regierenden PiS bis zur Wahl im nächsten Herbst weitergehen dürfte.
Sie muss nicht nur immer wieder die deutsche Position erklären, sondern auch emotional untermauern. Sie nutzt einen Besuch bei der Einheitsfeier am Montagabend für Gespräche mit Politikern. Am Dienstagmittag lässt sie sich spontan von einem polnischen Fernsehsender interviewen – keiner der PiS-hörigen Stationen, sondern dem oppositionsnahen tvn24.
Auf dem Weg zum Flughafen legt sie noch einen Stopp auf dem Friedhof für die Aufständischen ein, wo der Opfer des Warschauer Aufstandes im Jahr 1944 gedacht wird. Damals wurden bei der gewalttätigen Niederschlagung durch die Nazis große Teile Warschaus dem Erdboden gleichgemacht. Es starben geschätzt 150.000 bis 200.000 Zivilisten – ein unvorstellbares Leid, das eben durch keinen völkerrechtlichen Vertrag zu den Akten gelegt werden kann.
"Da stockt mir der Atem"
Dort erlebt die deutsche Ministerin die Begegnung mit einer Überlebenden des damaligen Aufstands sichtlich bewegt. Die Frau namens Wanda Traczyk-Stawska hatte sie am Vorabend in der Deutschen Botschaft getroffen. Sie hat sich für eine gerade erst eröffnete Gedenkhalle auf dem Friedhof engagiert.
Nun führt die Dame im Rollator die deutsche Außenministerin durch die Gedenkstätte – zu einer Miniatur Warschaus, wo mit roten Stecknadeln die Zahl der Getöteten erfahrbar wird, zu einer Trauerstele, zu einer Gedenkwand mit Namen von zehntausenden Opfern.
"Da stockt mir der Atem", sagt eine sichtlich bewegte Ministerin und ergreift den Arm der alten kleinen Frau. Sie verspricht ihr noch vor Ort, 200.000 Euro zur dauerhaften Finanzierung dieser neuen Gedenkstätte. Vielleicht wittert Baerbock in solchen Gesten auch einen Ausweg aus dem politischen Streit um die Reparationsforderungen.
Wie gut, dass am Morgen im Außenministerium auch Baerbocks polnischer Amtskollege Rau trotz der kleinen Nadelstiche insgesamt zurückhaltender agierte als noch beim Antrittsbesuch der Deutschen im vergangenen Dezember. Da hatte er die frisch gebackene Außenministerin noch einem zwanzigminütigen Monolog über die Reparationen und Deutschlands Schuld ausgesetzt.
Der Faktor Putin
Damals, das spielt eine gewaltige Rolle, tobte in der Ukraine eben noch kein Krieg. Seit dem russischen Überfall ist beiden Seiten eben doch um einiges klarer geworden, wie sehr sie einander brauchen.
Polen hat die meisten ukrainischen Flüchtlinge aufgenommen und ist unerlässlich für die Abwicklung der Waffentransporte, mit denen der Westen Kiew unterstützt. Derzeit wird darüber diskutiert, wie in Polen ein zentrales Reparaturzentrum für westliches Kriegsgerät, das in der Ukraine eingesetzt wird, aufgebaut werden kann.
Und in Polen, wo die Angst vor Russlands Agression besonders groß ist, weiß man auch, dass ohne Berlin keine schlagkräftige Anti-Putin-Koalition möglich ist.
Baerbock selbst sagt in Warschau dazu so viel: "Europas Geschlossenheit bleibt unser größter Trumpf. Wir könnten Putin keinen besseren Gefallen tun, als unsere Einigkeit jetzt aufzugeben."
Hinter diesen Sätzen dürfte neben der Hoffnung auf ein gutes Ende wohl auch eine kleine Mahnung stecken: Bei allem Verständnis für die Wunden des Zweiten Weltkriegs – allzu weit sollte die polnische Regierung ihre Kampagne gegen Deutschland nicht treiben.
- Begleitung der Reise von Außenministerin Baerbock nach Warschau.
- mit Material der Nachrichtenagenturen AFP und dpa