Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Führender US-Historiker "Vor allem möchte Trump nicht im Gefängnis landen"
Amerika wählt, danach könnte es richtig schmutzig werden. Der US-Historiker Timothy Snyder erklärt, warum Donald Trump bei einer Niederlage auf Trotz und Gewalt setzen könnte.
Joe Biden oder Donald Trump – wer wird die USA in den nächsten vier Jahre regieren? Vor allem aber: Wird es zur befürchteten Schlammschlacht kommen, wenn der Amtsinhaber verlieren sollte? Oder gar zu Gewalttaten?
Donald Trump wird niemals aufgeben und zu allerlei Mitteln greifen, um im Weißen Haus zu bleiben. Das befürchtet Timothy Snyder, einer der führenden Historiker der USA und ein langjähriger Kritiker des US-Präsidenten. Warum Trump ein grundlegendes Problem vieler Autokraten hat, was seine Anhänger an ihm lieben und wie ein gerechteres Gesundheitssystem die USA in ein wirkliches Land der Freiheit verwandeln könnte, erklärt Snyder im t-online-Interview:
t-online: Professor Snyder, die Amerikaner stimmen in dieser Woche über ihr neues Staatsoberhaupt ab. Wird Donald Trump das Weiße Haus friedlich verlassen, falls er verlieren sollte?
Timothy Snyder: Donald Trump wird bis zum bitteren Ende kämpfen. Er leidet unter dem klassischen Problem aller Autokraten: Trump möchte irgendwann friedlich im Bett sterben. Vor allem aber möchte er nicht im Gefängnis landen. Und auf keinen Fall ein armer Mann werden. Wenn er aber die Wahl verliert, ist es sehr wahrscheinlich, dass mindestens einer dieser Fälle eintritt. Denn Trump schuldet der Deutschen Bank mehr als 400.000.000 Dollar, die er aber nicht hat. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit, dass er nach dem Verlassen des Weißen Hauses juristisch belangt würde, sehr hoch.
Zu welchen Mitteln wird Trump greifen, um sich an das Präsidentenamt zu klammern?
Nach der Wahl könnte es sehr schmutzig werden. Bei einer Niederlage wird Trump das Wahlergebnis nicht anerkennen und behaupten, dass er betrogen worden sei. Er wird Aussagen machen, die manche seiner radikalsten Anhänger zu Gewalttaten motivieren könnten. Letzten Endes wird er darauf hoffen, dass ihm der Oberste Gerichtshof zu einer zweiten Amtszeit verhilft.
Ein hoher Wahlsieg des Demokraten Joe Biden könnte Schlimmeres verhindern.
Richtig. Im Idealfall gewinnt Biden haushoch. Dann werden viele Anhänger Trumps demoralisiert sein und sich nicht zu Dummheiten hinreißen lassen.
Glauben Sie wirklich, dass es zu Gewalt kommt?
Ich wäre überrascht, wenn es keine Gewalt gibt. Schon im ersten Fernsehduell gegen Joe Biden hat Trump erklärt, dass mit den Proud Boys eine rechtsextreme Truppe für ihn bereitstehe.
Timothy Snyder, geboren 1969, lehrt Geschichte an der amerikanischen Yale University und ist Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien. Snyder ist einer der führenden Intellektuellen der USA, als Historiker hat er vor allem die Geschichte Osteuropas und des Holocausts erforscht. Seine Bücher "Bloodlands" und "Black Earth" sind Standardwerke, 2017 veröffentlichte er mit "Über Tyrannei" eine Anleitung zum Widerstand gegen einen Regimewechsel hin zu einem autokratischen System. Kürzlich erschien sein neuestes Buch "Die amerikanische Krankheit. Vier Lektionen der Freiheit aus einem US-Hospital".
Ihre Erwartungen klingen erschreckend. Übertreiben Sie nicht ein wenig?
Nein, gar nicht. Die Entwicklung der Demokratie wurde immer wieder von Gewalttaten erschüttert. Aber bedeutet das, dass die Gewalttäter immer den Sieg davontragen? Nein. Große und friedliche Proteste haben immer wieder den Sieg über angedrohte oder tatsächlich ausgeübte Gewalt errungen. Vor allem sind wir heute viel besser vorbereitet als vor vier Jahren.
Inwiefern?
Im Jahr 2016 hatte etwa niemand damit gerechnet, dass sich Russland in unsere Wahlen einmischen würde. Dieses Jahr wäre niemand mehr überrascht. In vielen Bundesstaaten stehen zahlreiche junge Menschen auf Seiten der Demokraten bereit, um zu kontrollieren, dass es bei der Stimmabgabe mit rechten Dingen zugeht. Und die Rechtsanwälte der Demokraten haben ihre Schriftsätze für die erwartbaren Klagen bereits fertig geschrieben. Auch wenn es zu Gewalt oder Wahlbetrug kommen sollte: Unser politisches System wird stabil bleiben. Dank Trump und Black Lives Matter sind gerade die jüngeren Amerikaner viel politisierter als noch vor einigen Jahren.
Wir würden gern Donald Trumps Persönlichkeit noch besser verstehen. Seit fast vier Jahren schockiert er die Weltöffentlichkeit immer wieder, Politiker und Journalisten versuchen, aus seinen Handlungen schlau zu werden. Was für ein Mensch steckt Ihrer Ansicht nach hinter der Fassade des US-Präsidenten?
Donald Trump hat gar keine Fassade. Er hat einfach ein Talent als Entertainer. Das ist es, was er ist: ein Unterhaltungskünstler. Trump war niemals ein erfolgreicher Unternehmer, wie er es so gern von sich behauptet. Aber er hat lange Zeit im Fernsehen einen erfolgreichen Unternehmer gespielt – und darauf aufbauend hat er es vollbracht, ins Weiße Haus gewählt zu werden.
Im Idealfall entwickeln sich US-Präsidenten auch nach erbitterten Schlagabtäuschen im Wahlkampf schließlich zu Führern der gesamten amerikanischen Nation. Bei Trump ist das nicht der Fall.
Trump ist niemand, der sich weiterentwickeln will. Trump will einfach Trump sein. Für ihn besteht die Aufgabe seines Amtes darin, heftige Emotionen bei seinen Anhängern zu schüren und zu steuern. Darin ist er auch sehr talentiert.
Mit zahlreichen Versprechen hat Trump 2016 die Wahl gewonnen, die Erfüllung der meisten ist er allerdings schuldig geblieben. Warum ist er bei vielen Amerikanern trotzdem immer noch so populär?
Menschen vertrauen Politikern aus zwei Gründen: erstens, wenn sich jemand als zuverlässig erwiesen hat. Oder zweitens, wenn es sich einfach "richtig" anfühlt. Der erste Faktor ist rational, der zweite emotional. Ich glaube, mit dem Erfolg der sozialen Medien in den vergangenen zehn Jahren ist dieser zweite Grund sehr dominant geworden. In diesem Umfeld konnte ein Donald Trump prächtig gedeihen.
Trumps zahlreiche Tweets legen davon Zeugnis ab. Welche Rolle spielt aber sein Charisma? Bei seinen Wahlkampfauftritten bejubelt ihn das Publikum frenetisch.
Trump ist zweifellos ein charismatischer Führer. Bei uns in den USA wird in Bezug auf verschiedene Gruppen innerhalb der Gesellschaft oft von Tribalismus gesprochen. Trumps Anhänger verstehen sich in diesem Sinne tatsächlich als "Stamm" – und den US-Präsidenten als einen der ihren. Es ist paradox: Seine Anhänger erwarten gar nicht, dass er selbst wirklich etwas tut. Trump muss nur immer wieder entsprechende Auftritte abliefern. Das bedeutet vor allem, dass er zur richtigen Zeit das "Richtige" sagt.
Von Trumps markigen Sprüchen allein hat aber keiner seiner Wähler auch nur einen Dollar mehr in der Tasche.
Richtig. Aber charismatische Führung hat weniger mit Rationalität als mit Emotionen zu tun. Und Trump bedient die Gemütslage seiner Anhänger sehr gut. Natürlich funktioniert das Modell Trump nur, weil er dem Bild des traditionellen amerikanischen Führers entspricht. Sprich: Er ist ein alter weißer Mann, der eine Krawatte trägt. Bei einer Frau oder gar einem Mann schwarzer Hautfarbe wäre das nicht möglich.
In der Tat richten sich viele "Auftritte" Trumps gegen Minderheiten. Innerhalb des "Stammes" der mehrheitlich weißen Trump-Anhänger sammeln sich zahlreiche Menschen, die am rechtsextremen Rand der Gesellschaft angesiedelt sind.
Ich will es so ausdrücken: Nicht jeder, der Donald Trump wählt, ist ein Rassist. Aber jeder Rassist wählt Donald Trump. Zudem ist er ein Meister darin, die Ängste und Sorgen der Amerikaner zu instrumentalisieren.
Können Sie ein Beispiel nennen?
In den USA sind die Menschen viel häufiger Gewalt ausgesetzt als etwa bei Ihnen in Deutschland. Damit meine ich nicht einmal in erster Linie die vielen Schießereien, die Schlagzeilen machen. Sondern auch die weit verbreitete Armut und die katastrophale Gesundheitsversorgung. In dieser Situation wütet nun mit dem Coronavirus ein Erreger im Land, der bereits mehr als eine Viertelmillion Amerikaner getötet hat. Was tut Trump aber, anstatt die Epidemie wirkungsvoll zu bekämpfen? Er nimmt die Ängste und die Wut der Menschen – vor allem die seiner Anhänger – und richtet sie gegen die Demokraten und Minderheiten wie die Afroamerikaner.
Es ist für uns schwer zu fassen, dass Trump mit dieser Haltung durchkommt.
Trumps Magie hat viele Quellen. Nicht zuletzt, weil er Gewinner und Verlierer zugleich ist.
Wie denn das?
Wie gesagt: Trump war als Unternehmer nicht sonderlich erfolgreich. Irgendwie hat er es aber geschafft, die Welt davon zu überzeugen, dass er es sei. Trump hat zudem im Prinzip kein Geld, aber trotzdem nehmen ihm viele ab, dass er schwer reich sei. Das spricht bestimmte Amerikaner an, die gerade einen persönlichen Niedergang erleben. Trump verkauft sich stur als Gewinner, obwohl er ein Verlierer ist. Und genau dieses Paradox macht ihn so interessant für manche Amerikaner. Sie bewundern diese Haltung.
Vor vier Jahren hat sich Trump vor allem mit dem Argument für das Präsidentenamt beworben, dass er kein klassischer Politiker sei. Zieht diese Masche noch?
Ich habe mit einer Reihe von Leuten gesprochen, die 2016 für Trump gestimmt hatten. Sie haben das getan, weil er anders ist als die anderen Politiker in den USA. Aber sie wussten nicht genau, wie anders sich Trump verhalten würde. Trump war damals kein typischer Politiker und er ist es auch heute nicht. Aber Trump ist eben auch keine mysteriöse Figur mehr. Das ist einer der Gründe, warum er heute weniger Unterstützung hat. Trump hat heute ein festgefügtes Image, das die eine Art von Leuten mag und das die anderen hassen.
Wenn Trump verliert, was wird aus der Republikanischen Partei?
Die Republikanische Partei hat ein großes Problem: Sie kann in politischer Hinsicht nicht mit den Demokraten konkurrieren, die zudem bei der Mehrheit der Amerikaner viel beliebter sind. Würde in den USA nach dem deutschen Wahlrecht abgestimmt, könnten die Demokraten jedes Mal mit großer Mehrheit eine Regierung bilden. Die Republikaner haben sich hingegen zu einer Partei entwickelt, die demokratische Wahlen behindert, um sich weiter Wahlerfolge zu sichern.
Das müssen Sie genauer erläutern.
Es wurden allein in den vergangenen zehn Jahren in 25 Bundesstaaten auf Bestreben der Republikaner Gesetze erlassen, die es Afroamerikanern, Latinos und anderen Minderheiten erschwert, an Wahlen teilzunehmen. Damit befinden sich die Republikaner in einer Art Teufelskreis: Weil sie immer weiter an Popularität verlieren, müssen sie im Gegenzug immer mehr Wählergruppen daran hindern, abzustimmen. Am Ende könnten sie sich endgültig in eine autoritäre und antidemokratische Partei verwandeln.
Es wird am 3. November allerdings nicht nur über den Mann im Weißen Haus abgestimmt, es werden auch Teile des Kongresses neu gewählt. Besteht Hoffnung, dass der jahrelange Stillstand in der US-Politik endet?
Wenn die Republikaner das Weiße Haus verlieren, dazu im Senat die Mehrheit einbüßen und auch das Repräsentantenhaus unter demokratischer Mehrheit bleibt, dann kann tatsächlich wieder eine konstruktive Politik stattfinden. Die Mehrheit der Amerikaner will zum Beispiel eine universelle Gesundheitsversorgung.
Sie selbst hatten im Dezember 2019 eine fast tödlich endende Begegnung mit dem amerikanischen Gesundheitssystem. Basierend auf dieser Erfahrung haben Sie vor kurzem Ihr Buch "Die amerikanische Krankheit" veröffentlicht. Was haben Sie für die Zukunft gelernt?
Eine wichtige Lehre ist, dass wir Amerikaner eine sehr negative Definition von Freiheit haben. Wir begreifen Freiheit als das Recht, in keiner Weise in unseren Handlungen eingeschränkt zu werden. Freiheit ist aber viel mehr als das. Ich habe es selbst erlebt: Wenn du krank bist, bist du nicht frei. Aus dem einfachen Grund, weil du keine freien Entscheidungen treffen kannst. Das gleiche gilt für viele Amerikaner, die in ständiger Angst leben, krank zu werden, und sich die Behandlung nicht leisten zu können. Freiheit und Gesundheit gehören also weit mehr zusammen als Freiheit und Profit, der im amerikanischen Gesundheitssystem die dominierende Rolle spielt.
Geben Sie mal ein Beispiel.
Wenn ich in Deutschland krank werde und ins Krankenhaus komme, besteht die Möglichkeit, dass ich mit meiner Behandlung nicht völlig zufrieden bin. Ich muss mir aber keine Gedanken darüber machen, ob Profitmaximierung der Grund war, warum ich nicht so gut behandelt worden bin, wie ich es gern gehabt hätte. Amerikaner denken während einer Behandlung ausschließlich darüber nach. Warum? Weil das US-Gesundheitssystem ein einziges großes Geschäft ist. Und das sollte es nicht sein. Wenn wir über Fragen von Leben und Tod ausschließlich im Zusammenhang mit Geld nachdenken, dann nimmt uns das die Freiheit. Die Angst und der Zorn, die durch das Versagen unseres Gesundheitssystems erzeugt werden, können von Demagogen missbraucht werden.
Womit wir wieder bei Donald Trump angelangt sind, der die weit mehr als 200.000 Toten durch die Corona-Epidemie für seine Zwecke nutzt.
Genau. Das Versagen der US-Gesundheitsversorgung erzeugt eine derart große Verunsicherung, die für ganz andere politische Zwecke missbraucht werden kann. Die USA wären ein wesentlich freieres Land, hätten alle Bürger das Recht auf Gesundheitsversorgung. Und wenn unser Gesundheitssystem gerechter und leistungsfähiger wäre.
Mit diesen Vorstellungen müssen Sie sich von Republikanern allerdings vorwerfen lassen, Sie verlangten die Einführung des Sozialismus.
Republikaner können mir gerne sozialistische Umtriebe vorwerfen. Aber wen interessiert das? Es ist ein schrecklicher Kampfbegriff ohne Bedeutung. Für die Republikaner ist jeder Schritt weg vom sogenannten freien Markt schon eine Bewegung hin zu Planwirtschaft und Totalitarismus. Aber das ist einfach nicht wahr. Aus der historischen Erfahrung wissen wir, dass ein Wohlfahrtsstaat die Demokratie stabilisiert. Und dass radikale Ungleichheit eine demokratische Gesellschaft destabilisiert. Aus diesem Grund habe ich mein neues Buch geschrieben: um zu zeigen, dass wir Amerikaner uns überhaupt nicht zwischen Freiheit und Gesundheit entscheiden müssen. Sondern dass sich Freiheit und Gesundheit im Gegenteil gegenseitig verstärken können.
Letzte Frage: Falls Joe Biden die Wahl gewinnt, was sollte er nach seinem Amtsantritt im Januar als Erstes tun?
Als Erstes muss Joe Biden genau das tun, was er angekündigt hat: Menschenleben retten. Seit fast einem Jahr wütet die Corona-Epidemie im Land, aber wir haben keinerlei nationale Strategie, um die Ausbreitung zu stoppen. Das zu ändern wird die erste Aufgabe des neuen Präsidenten sein.
Professor Snyder, wir danken für das Gespräch.
- Telefonisches Interview mit Timothy Snyder