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Wenn sie auf Schalke das Steigerlied singen


Meinung
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Letzte Zeche schließt
Das wehmütige Ende für einen Teil deutscher Geschichte

MeinungEine Kolumne von Gerhard Spörl

17.12.2018Lesedauer: 5 Min.
Bergleute stehen auf der Zeche Prosper Haniel im Förderkorb: Am Freitag ist hier Schicht im Schacht.Vergrößern des Bildes
Bergleute stehen auf der Zeche Prosper-Haniel im Förderkorb: Am Freitag ist hier Schicht im Schacht. (Quelle: Oliver Berg/dpa)
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Das Ruhrgebiet war einmal Kohle und Stahl und sonst nichts. Damit ist es am Freitag endgültig vorbei, denn dann wird die letzte Zeche feierlich geschlossen. Ein Blick zurück nach vorn in eine Region, die Deutschland reicher machte.

Am Freitag gehen 200 Jahre deutscher Industriegeschichte zu Ende und es ist ziemlich schade, dass es nur ein Teil der Deutschen bemerkt. Sie leben im Ruhrgebiet, sie zählen 5,1 Millionen Menschen und sie werden diesen Tag so begehen, wie es sich gehört: mit Musik und Reden, mit Tränen und Alkohol, mit Frank-Walter Steinmeier und Armin Laschet.

Die Feier findet in Bottrop statt, im modernsten Bergwerk der Welt, das Prosper-Haniel heißt. Ich bin da mal eingefahren, so heißt das in der Bergmannsprache. 1.229 Meter rauscht der Förderkorb nach unten, du weißt nicht, wie dir geschieht, du weißt nicht was dich erwartet. Du trägst baumwollene Unterwäsche, Schuhe über die Knöchel, ein blau-weiß gestreiftes Hemd, dicke Hose, Halstuch, einen Helm mit Grubenlampe, das Atemschutzgerät hängt hinten am Gürtel, damit kannst du einen Brand maximal 90 Minuten lang überleben. Du bist als Bergmann verkleidet und kommst dir komisch vor, was sonst.

Unter Tage kommst du aus dem Staunen nicht mehr heraus

Dann bist du unten und staunst, denn du bist wie in einem Tunnel. Gewölbt sind die hohen Wände, große Maschinen stehen hintereinander und einander gegenüber, mitten drin speziell geschützte Laptops, die alle anfallenden Daten speichern. Jede Menge Kabel sind überall gespannt: für Lampen, Rechner und Maschinen. Würde man sie nebeneinander legen, ergäben sie eine Strecke von 500 Kilometern. Platzangst bekommst du nicht, ist schon mal gut.

Du gehst nach vorne in den Streb, es wird wärmer, dort bauen sie die Kohle ab. Ein Riesending, das sie den Kohlehobel nennen, rast an einer Kette entlang und schält die Kohle ab. Sofort sichern mächtige Stahlschilde die rasierten Stellen und schwere Hydraulikzylinder verspannen eine Stahlkonstruktion zwischen Boden und Decke, damit der Berg nicht nachbrechen kann. Dafür sorgen ein paar Mechatroniker, die Knöpfe drücken, alles vollzieht sich automatisch. Einer von ihnen reicht dir schweigend die Schnupftabakdose und du ziehst eine Prise hoch. Ist seltsam, aber passt schon.

Maschinen sind hier wichtiger als Menschen. Die Technik übernimmt. Moderner geht es nicht. Weiter entfernt können die Tage gar nicht sein, als die Bergarbeiter auf den Knien nach vorne robbten, als sie mit der Hacke die Kohle herausschlugen, als Grubenpferde die vollen Loren zogen, als die Kumpel bei Methangasexplosionen starben oder unter herabstürzendem Gestein begraben lagen. Die Kohle ernährte sie und tötete sie. Die Geschichte der Industrialisierung ist die Geschichte namenloser Helden.

Ich habe ein Buch über das Ruhrgebiet geschrieben. Anfangs wusste ich nicht viel darüber. Berge mochte ich bis dahin vor allem von oben, zum Beispiel zum Heruntergleiten auf Skiern. Das Innere der Berge ist eine völlig andere Welt. Immer gewesen. Von Anfang an, als sie im Ruhrgebiet die Steinkohle entdeckten.

Ohne Ruhrgebiet keine Bahn, kein Stahl, keine Kanonen

Damals war das Gebiet an Emscher und Ruhr ländlich, wasserreich und dünn besiedelt, platt wie Holland, das um die Ecke liegt. In Dortmund und Essen lebten nicht mehr als je 8.000 Menschen. Die Region lag abseits, die Geschichte spielte sich im Osten und Südwesten ab, nicht hier.

Die Industrialisierung hat alles verändert. Um die Zechen herum entstanden Siedlungen, aus denen Kolonien erwuchsen. Aus den Kolonien entstanden Städte, die zu Großstädten wurden: Duisburg, Gelsenkirchen, Bochum, Recklinghausen etc.

Das waren Arbeiterstädte in einer Arbeiterregion. Die Bergarbeiter leisteten Schwerarbeit. Sie holten die Kohle aus der Erde, aus der sie in der Kokerei Koks brannten, mit der sie im Hochofen Stahl erzeugten. Schwerarbeit für die Schwerindustrie.

Ohne Kohle und Stahl aus dem Ruhrgebiet hätte es die Eisenbahn nicht gegeben, die die deutschen Lande schon vor der Einigung durch Bismarck und seinen Kaiser 1871 zusammenführte. Ohne das Ruhrgebiet hätte es die Kanonen von Krupp nicht gegeben, mit denen das Kaiserreich im Ersten Weltkrieg Frankreich und Russland und mit denen Hitler im Zweiten Weltkrieg die ganze Welt besiegen wollte. Und ohne das Ruhrgebiet hätte es das Wirtschaftswunder nach 1945 nicht gegeben.

Ohne das Ruhrgebiet ging nichts. Mit dem Ruhrgebiet ging der Fortschritt und die Zerstörung. Das Ruhrgebiet diente vielen Herren und wurde vielfach missbraucht. Eine heroische Geschichte, eine traurige Geschichte. Eine Geschichte aus der Männerwelt. Vorbei, verweht.

Kohle gibt es noch, aber sie ist zu teuer

Von der Steinkohle gibt es heute noch reichlich, im Ruhrgebiet und bis hinauf zur Nordsee. Sie liegt tief unter der Erde und das ist das Problem. Wer sie hoch holen will, muss viel investieren und sie teuer anbieten. Anderswo liegt die Kohle weniger tief, manchmal lässt sie sich sogar im Tagebau erschließen, und deshalb ist deutsche Steinkohle schon lange nicht mehr wettbewerbsfähig. In Südafrika oder Australien, der Türkei, Indien oder Polen produzieren sie billiger, legen sie auch weniger Wert auf Sicherheit für die Bergleute und deshalb ereignen sich immer wieder schlimme Grubenunglücke, in China, der Ostukraine oder der Türkei.

Das Ruhrgebiet gibt es heute zweimal. Einmal oben, einmal unten. In einem Film von Adolf Winkelmann steigt ein Bergmann bei Gelsenkirchen unter Tage und kommt in Dortmund wieder raus. "Jede Menge Kohle" ist ein Komödie, aber denkbar wären solche Wanderungen durchaus. Und weil es das Ruhrgebiet doppelt gibt, müssen sie darauf achten, dass das Unten auch unten bleibt, das Wasser nämlich, das durch Regen hinab sickert und dort allmählich ansteigt. Damit sich dieses Grubenwasser nicht mit dem Grundwasser vermischt und den Menschen dort oben schadet, steht ein riesiges Pumpensystem parat, das den Ernstfall verhindert. Bliebe das Grubenwasser sich selber überlassen, wäre Essen in absehbarer Zeit eine Seenplatte. Komischer Gedanke, aber wahr.

Das Ruhrgebiet bestand einmal aus Kohle und Stahl. Der Himmel war grau, wie wir es heute aus chinesischen Schwerindustriegebieten kennen. Die weiße Wäsche auf der Leine blieb nicht lange weiß. Die Kumpel starben an Staublunge. Die Kinder gingen unter Tage wie die Väter und die Großväter und die Urgroßväter.

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Heute ist das Ruhrgebiet ein anderer Ort

Heute ist das Ruhrgebiet grün und 300.000 Studierende büffeln in Duisburg, und Essen, Dortmund und Hagen. Die Zeche Zollverein gehört zum Weltkulturerbe der Unesco. Der Landschaftspark Duisburg-Nord entstand aus einem riesigen Stahlwerk und ist eine Sensation. Im Gasometer in Oberhausen gibt es ein wunderbares Museum. An die Industrialisierung erinnern ihre Ikonen.

An Kultur ist das Ruhrgebiet schwer zu schlagen: das Theater in Bochum, die Oper in Essen, das Schauspiel in Dortmund. Konzerte in der Jahrhunderthalle in Bochum, Performances mit Cate Blanchett im Landschaftspark. Viele Hunderttausende kommen jährlich hierher und staunen über die Transformation des Ruhrgebiets.

Das Alte steckt im Neuen und das ist gut so. Der Tunnel, durch den die Spieler des FC Schalke 04 ins Stadion einlaufen, ist aus Kohle geschlagen. Ehe das Spiel beginnt, geht im Stadion das Licht aus und dann singen sie das Steigerlied, das einst die Bergarbeiter in der Hoffnung sangen, dass sie am Ende der Schicht das Tageslicht wiedersehen würden: "Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt/ Und er hat sein helles Licht bei der Nacht/ Schon angezünd’t."

Das ganze Stadion singt, inbrünstig, wie sie es nur hier können. Ich bin ein Anhänger der Dortmunder Konkurrenz, aber einmal im Jahr bin ich auf Schalke, um das Steigerlied zu hören, das mich wirklich tief berührt.


Am Freitag also fahren sie die letzte Schicht in Prosper-Haniel und übergeben dem Bundespräsidenten ein Stück glänzender Kohle. Ein weher Augenblick für viele Menschen im Ruhrgebiet, natürlich, den sie auskosten dürfen. Denn in der Gegenwart haben sie die heroische Vergangenheit schon hinter sich gelassen, und das ist nur gut so.

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