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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Scholz in den USA Plötzlich in der Offensive
Der wichtigste Verbündete hat Zweifel: Olaf Scholz erwartet in Washington harte Kritik am deutschen Russland-Kurs. Der Kanzler greift deshalb zu einem ungewohnten Mittel.
Olaf Scholz selbst würde die Frage empört zurückweisen. Und doch klebt sie ihm an den Fersen, wenn er jetzt in die große weite Welt aufbricht, mit erstem Stopp in den USA. Die Frage ist groß, sie ist unangenehm, und sie stellt die erste richtige Bewährungsprobe des neuen Bundeskanzlers auf der Bühne der Weltpolitik dar.
Sie lautet: Kann man seinem Deutschland noch trauen?
Scholz schleppt sie am Montag mit ins Weiße Haus in Washington. Sie wird im Raum schweben, wenn er später in dieser Woche die Präsidenten Frankreichs, Polens und später der baltischen Staaten empfängt, bevor er dann nach Kiew und Moskau reist.
Im Osten Europas droht Krieg. Mit 110.000 Mann und schwerem Geschütz hat Russland die Ukraine umstellt. Wladimir Putin will die Spielregeln in Europa, nach denen jedes Land entscheidet, wohin es sich ausrichtet, umschreiben. Amerika wiederum verlegt Tausende Soldaten in den Osten des Nato-Gebiets und droht Putin mit härtesten Sanktionen.
"Berlin, wir haben ein Problem"
Und Deutschland und sein neuer Bundeskanzler sind… ja, was eigentlich? Abgetaucht? Unsichtbar? Oder etwa noch gar nicht richtig da? Scholz hat in der schweren internationalen Krise jedenfalls landauf, landab Fragezeichen hinterlassen.
Jetzt muss er Antworten liefern, besonders dringlich ist dies in Washington, wo er knapp drei Stunden im Weißen Haus mit US-Präsident Joe Biden verbringen wird. Denn in der amerikanischen Hauptstadt gelten Scholz und seine Ampelregierung seit Wochen als unzuverlässiger Partner.
Die deutsche Botschafterin in Washington, Emily Haber, sah sich kürzlich gezwungen, ein diplomatisches SOS in die Heimat zu funken: "Berlin, wir haben ein Problem." Alarmstufe Scholz.
Ein paar Haubitzen? Lieber nicht
Konkret haben die undurchsichtigen öffentlichen Signale, die aus Berlin in die Welt gedrungen sind, die Glaubwürdigkeit angekratzt. Beim Bemühen, mit gemeinschaftlicher Abschreckung Russland von einem Einmarsch in der Ukraine abzuhalten, fiel die Bundesregierung weitestgehend aus. Waffenlieferungen an die Ukraine? Auf keinen Fall. Eine Erlaubnis zur Weitergabe von ein paar Haubitzen aus DDR-Restbeständen aus Estland an die Ukraine? Selbst das nicht.
Insbesondere die Äußerungen aus Scholz' SPD, die angesichts von Putins Gebaren lieber beschwichtigten statt zu verurteilen, wurden nicht nur in der Ukraine und Osteuropa, sondern auch in Washington mit großer Aufmerksamkeit und nicht minder großem Entsetzen zur Kenntnis genommen.
Scholz selbst trug seinen Teil zur großen Unklarheit bei, etwa indem er lange davon sprach, dass die deutsch-russische Pipeline Nord Stream 2 doch nur ein privatwirtschaftliches Projekt sei, das quasi nichts mit dem Konflikt zu tun habe.
"Dorn im Auge der transatlantischen Gemeinschaft"
Dass bei Nord Stream 2 eine klare Haltung fehlt, ist in Washington ein besonderes Ärgernis. Jim Risch, der ranghöchste Republikaner im Auswärtigen Ausschuss des US-Senats und Verhandlungsführer über das amerikanische Sanktionspaket, formulierte es bei t-online so: Präsident Biden "sollte Scholz nach einem Bekenntnis bitten, die Nord Stream 2-Pipeline permanent stillzulegen und diesen Dorn im Auge der transatlantischen Gemeinschaft zu entfernen."
Biden hatte Deutschland lange gegen solche Kritik in Schutz genommen, doch es fällt ihm in der aktuellen Krise und angesichts des deutschen Zauderns schwerer.
Und Scholz? Der sieht das alles komplett anders. Die deutsche Position sei glasklar, es bestehe komplette Einigkeit mit den Amerikanern. Die Botschaft: Die Berichte über die Konflikte mit den Verbündeten seien übertrieben. Die Kritik der Öffentlichkeit beeindrucke ihn ebenso wenig wie die scharfen Äußerungen aus dem US-Kongress.
Ein ungewöhnlicher TV-Auftritt
Die Bundesregierung fühlt sich ohnehin etwas ungerecht behandelt. Sie kann darauf verweisen, dass niemand seit 2014 so viel Geld in die Ukraine überwiesen hat wie Deutschland. Doch die Politik der vergangenen Jahre ändert nun einmal nichts an den Zweifeln an der neuen Ampelregierung.
Im Umfeld des Bundeskanzlers betont man, dass die Zusammenarbeit mit den USA und in der EU im Stillen hervorragend klappe. Man erarbeite etwa eng einen Katalog an möglichen Strafmaßnahmen gegen Russland.
Das mag alles sein. Doch die aktuelle Konfrontation mit Russland wird nicht nur im Verborgenen ausgetragen. Im Gegenteil: Die Öffentlichkeit ist ein zentraler Austragungsort. Und da ist das Stimmungsbild bei aller schönen Arbeit auf Fachebene eben wenig schmeichelhaft für Deutschland.
Auch Scholz weiß das. Und so nimmt er sich in Washington neben dem Besuch im Weißen Haus Zeit für zwei ebenfalls wichtige Termine. Abends lädt er Mitglieder aus dem US-Senat, darunter den oben erwähnten Kritiker Jim Risch, zum Essen ein. Zuvor will er sich noch an die amerikanische Öffentlichkeit richten.
Scholz fährt zum Nachrichtensender CNN. Dort im Studio wird er in der Politiksendung von Moderator Jake Tapper auftreten, live und auf Englisch. Seine wichtigste Botschaft an das amerikanische Publikum wird wohl lauten: Dear friends, ihr könnt mir vertrauen.
- Eigene Recherchen