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Ukraine-Krise | Putin im Angriffsmodus: Seine "unsichtbare Hand" sät Angst


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Kreml-Chef im Angriffsmodus
Putins "unsichtbare Hand" reicht sehr, sehr weit

MeinungVon Wladimir Kaminer

Aktualisiert am 23.01.2022Lesedauer: 5 Min.
Wladimir Putin: Der Kreml-Chef hat die Politik in seine ganz eigene TV-Serie verwandelt, meint Wladimir Kaminer.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Der Kreml-Chef hat die Politik in seine ganz eigene TV-Serie verwandelt, meint Wladimir Kaminer. (Quelle: Sergey Guneev/imago-images-bilder)
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Einst fuhr er Taxi, heute dirigiert Wladimir Putin Soldaten Richtung Ukraine. Wie aber kann der Westen den Kreml-Chef wieder beruhigen? An Telefonkosten sollte Olaf Scholz jedenfalls nicht sparen, meint Wladimir Kaminer.

Eine einzige Kolumne reicht nicht aus, um Wladimir Putin verstehen zu können, sagt t-online-Kolumnist Wladimir Kaminer. Denn das Phänomen des russischen Präsidenten gleiche einer Erfolgsserie im Fernsehen. Nach Staffel 1 folgt daher nun die Fortsetzung des russischen Dauerbrenners "Präsident Putin". Bitte nehmen Sie Platz ...

Kurze Zusammenfassung der Ereignisse in der letzten Staffel:
Nach dem Untergang der Sowjetunion wird die Führung Russlands vom ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden der staatlichen Baubehörde, Boris Jelzin, übernommen. Er kann das Land auf Dauer nicht regieren, vor allem wegen seiner fehlenden Trinkdisziplin.

(Quelle: Frank May)

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Büchern gehört "Russendisko". Kürzlich erschien sein neuestes Buch "Die Wellenreiter. Geschichten aus dem neuen Deutschland".

Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich. Im Kreml wird verzweifelt nach einem Nachfolger gesucht, verschiedene Interessengruppen, auch "Kremltürme" genannt, können sich nicht einigen. Eine kollektive Führung kommt nicht infrage, die Einheit der Russischen Föderation ist in Gefahr. Bei einem geheimen Treffen einigen sich die streitenden Parteien: Der Nachfolger Jelzins soll ein Mann des Volkes sein, jemand, den keiner kennt und der keine Partei ergreifen, sich auf keine Interessengruppe stützen kann.

Am besten ein ehemaliger Sicherheitsoffizier mit einer gehobenen Trinkdisziplin und mit Auslandserfahrung. Durch den Zerfall der Sowjetunion sind viele Offiziere der Staatssicherheit arbeitslos geworden, sie haben große Mühe, sich im neuen Russland zurechtzufinden. Major Putin, ein Geheimdienstoffizier mit Deutschkenntnissen, früher für Auslandsspionage zuständig, versucht sich als Geschäftsmann in St. Petersburg, abends fährt er mit eigenem Auto Taxi.

Eines Abends steigt ein seltsamer Gast in sein Fahrzeug, der ihm vorschlägt, der Nachfolger des kranken Präsidenten zu werden. Am Anfang glaubt Putin nicht an sein Glück, nimmt aber das Angebot an. Seine Aufgabe sieht er darin, das Land in der neuen kapitalistischen Welt zu etablieren. Doch die von den Amerikanern dominierte Welt will in Russland keinen gleichberechtigten Partner sehen. Nach mehreren gescheiterten Versuchen der Annäherung entscheidet sich der Präsident, einen eigenen Weg einzuschlagen – und sucht eine Abkürzung zu altem Ruhm. Er holt sein altes Taxi aus der Garage und nimmt das Volk auf die abenteuerliche Reise mit. "Zurück in die Zukunft" lautet die Parole.

Staffel 2: Krieg und Frieden

Der Wahrheit halber muss an dieser Stelle etwas gesagt werden: Seit der russische Präsident diese neue gefährliche Pirouette fährt, auf Konfrontation mit dem Westen setzt, ist das Interesse an Russland, an Putin selbst und seiner geheimnisvollen russischen Seele deutlich gestiegen. Auf einmal wird er von meinungsbildenden amerikanischen Zeitschriften als mächtigster Mann der Welt gekürt, als Fürst der Finsternis, als jemand, der überall die Fäden zieht.

Seien es die Präsidentenwahlen in den USA, ein politischer Umsturz in Nigeria, Unruhen in Venezuela oder die Erhöhung der Gaspreise in Europa: Überall wird die "unsichtbare Hand Moskaus" gesehen, die Angst und Verwirrung sät. So funktioniert es plötzlich mit dem Westen. Je frecher man sich zeigt, umso besser.

Putin will der Nato verbieten, neue Mitglieder anzuwerben, er betrachtet die Nachbarländer Russlands als seine Vasallen, nimmt die europäischen Grenzen nicht ernst und schießt schon mal einen oder anderen amerikanischen Satelliten aus dem Orbit ab nicht schlecht für den Anfang.

Wer ist der Mann mit der eisernen Faust? Das titelten nun die Zeitungen der freien Welt. Was will er? Ist er der neue russische Zar, der dem gefallenen Imperium wieder auf die Beine hilft oder ein aus der Zeit gefallener Autokrat, der sich mit letzter Kraft an der Macht festzuklammern versucht? Wie ernst sind seine Drohungen, und wer kann ihn beruhigen? Joe Biden, Emmanuel Macron, Boris Johnson? Oder gar Olaf Scholz?

Merkel ist leider weg

Möglicherweise könnte ihn Frau Merkel besser verstehen, sie ist aber nicht mehr im Amt, sie ist zeitig in Rente gegangen, obwohl sie zwei Jahre jünger ist als Putin. Für Putin ist Rente keine Option. Und das Jahr 2022 scheint ein heißes Jahr für ihn zu werden, ein Jahr der Erfolge. Zu Silvester hat Putin beinahe den Krieg gegen die Ukraine begonnen. Da waren schon mehr als 100.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine stationiert, die Experten waren sich einig, gleich geht es los.

Der Krieg in der Ostukraine hat seit der Annexion der Krim durch russische Armeeeinheiten 2014 eigentlich nie aufgehört, er war aber ein leiser Krieg gewesen, für den Westen beinahe geräuschlos. Man könnte ihn leicht als eine interne Auseinandersetzung der Brüdervölker abtun, ein kleiner Bürgerkrieg quasi.

Nun droht er lauter zu werden. Die Nato verspricht den Ukrainern Hilfe, doch jedem ist klar, die Nato ist ein Papiertiger, für humanitäre Missionen vielleicht tauglich, aber nicht für Kampfeinsätze. Ein oberflächlicher Vergleich zeigt mit aller Deutlichkeit, wie ungleich die Kräfte sind: Auf der russischen Seite stehen 150 taktische Bataillone, die Nato hat vier, eines in jeder der drei baltischen Republiken und eines in Polen.

Dazu hat die Nato einen ausgeklügelten 30+30+30+30-Plan, das heißt innerhalb von 30 Tagen kann sie 30 Bataillone in Richtung Osten bewegen. Die russische Armee ist dagegen imstande, in kürzester Zeit mehr als 100 Einheiten zu mobilisieren. Der Westen telefoniert mit dem russischen Präsidenten, der Plan ist wahrscheinlich, die Kampfhandlungen so weit wie möglich hinauszuzögern, denn eigentlich ist Ende Januar schon Deadline für den Beginn eines Winterfeldzugs.

"Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln"

Auch setzt sich der Klimawandel für den dauerhaften Frieden ein, die Temperaturschwankungen lassen die Felder und die Seen nicht wirklich einfrieren, die Artillerie und die Panzer können nicht zum Einsatz gebracht werden. Zwischenzeitlich waren Putins Einheiten mit einer Friedensmission in Kasachstan beschäftigt, aber bald kann es an der ukrainischen Grenze wieder heiß werden.

Pünktlich zu Beginn des neuen Jahres versprachen die fünf "offiziellen" Atommächte, der nukleare Krieg dürfe nie geführt werden, ein solcher Krieg würde das Ende für den Planeten bedeuten. Ist unsere Welt dadurch friedlicher geworden? Nein. Denn gleichzeitig rechtfertigt ein solcher Beschluss alle anderen nicht-nuklearen Kriege als legitim, als "Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln", wie der preußische Militärstratege Carl von Clausewitz einmal sagte.

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Der russische Taxifahrer Putin hatte die Schwäche des Westens erkannt: Der Preis für das menschliche Leben ist hier nicht verhandelbar, jedes Leben ist der höchste Wert unserer Gesellschaft und jede Würde ist unantastbar. Manchmal ist aber die unbedingte Fortsetzung des Lebens mit dem Verlust der Würde verbunden, ein Geheimnis, das jeder kennt. Damit macht sich der Westen leicht erpressbar.

Das Jahr 2022 ist laut chinesischem Horoskop das Jahr des Wassertigers. Selbstbewusstsein, Abenteuerlust und Risikofreude sind gefragt, nicht gerade die Eigenschaften, mit denen der Westen glänzt.

Was also tun? Wir müssen mehr mit Putin telefonieren, längere Gespräche führen, auf Englisch, Französisch, Deutsch, wir dürfen uns nicht um die Telefonkosten scheren. Das Thema ist egal, Hauptsache wir bleiben im Gespräch. Das nächste Jahr wird nämlich das Jahr des Hasen sein, dann sind wir wieder wer.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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