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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Unruhen in Kasachstan Aus Angst geht Putin ins Risiko
Lange hat sich ihre Wut aufgestaut: Nun demonstrieren viele Menschen in Kasachstan gegen das korrupte System, bei den Krawallen sterben Menschen. Das autoritäre Regime ruft um Hilfe – und bekommt sie aus Russland.
Panzer rollen durch die Millionenmetropole Almaty. Zuvor waren die Proteste in Kasachstan in rasanter Geschwindigkeit eskaliert, das autoritäre Regime des zentralasiatischen Landes setzt die Armee ein, um nach eigenen Angaben die Ordnung wiederherzustellen. Wenig später fallen Schüsse: Laut Polizeiangaben wurden "Dutzende Angreifer eliminiert", aber mindestens 13 Sicherheitskräfte sollen ums Leben gekommen sein. Das Staatsfernsehen berichtet von gefundenen Leichen ohne Kopf. Die Bilder sind grausam.
Die Lage ist unübersichtlich. Es ist momentan völlig unklar, was auf den Straßen Kasachstans passiert, nur wenige Informationen dringen nach außen. Das Regime kämpft ums Überleben und sperrt den Zugang seiner Bürger zum Internet. Kasachstans Staatschef Kassym-Schomart Tokajew ruft im Ausland um Hilfe und schnell landen russische Soldaten und militärisches Gerät in Kasachstan.
Doch das Eingreifen Moskaus ist für den russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht ohne Risiko. Russland möchte offiziell den Frieden wahren, inoffiziell möchte man aber eine weitere erfolgreiche Demokratiebewegung in einem Nachbarland verhindern – vor allem aus Angst, das revolutionäre Feuer könnte sich auf die Bevölkerung im eigenen Land ausbreiten.
Dabei riskiert Putin einen Bürgerkrieg in Kasachstan, denn die ohnehin in Teilen sehr wütende Bevölkerung wird den Eingriff ausländischer Truppen nicht einfach hinnehmen. Im Gegenteil: Es ist wahrscheinlich, dass der Konflikt länger andauern wird.
Große Wut auf eine korrupte Elite
Der Anstoß für die Proteste war eine deutliche Erhöhung des Preises für Autogas. Die Bedeutung des Treibstoffes ist vergleichbar mit der Relevanz von Diesel für die deutsche Bevölkerung – doch die Preiserhöhung war in Kasachstan lediglich der Tropfen, der für viele Menschen das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Spricht man mit Menschen in der Ex-Sowjetrepublik, sind diese oft überrascht, dass es erst jetzt zu den schweren Krawallen kam.
Überblick: Das ist bislang bei den Krawallen in Kasachstan passiert
- Kasachstan wird seit Tagen von beispiellosen Unruhen erschüttert. Proteste, die sich zunächst gegen steigende Gaspreise gerichtet hatten, weiteten sich zu regierungskritischen Massenprotesten im ganzen Land aus.
- Mehr als tausend Menschen wurden seit Beginn der Proteste verletzt.
- Fast 400 Verletzte werden in Krankenhäusern behandelt, 62 befänden sich auf der Intensivstation.
- Die Polizei berichtet von mindestens 2.000 Verhaftungen.
- Dutzende zivile Todesopfer, mindestens 13 Sicherheitskräfte wurden getötet.
Die Unzufriedenheit der kasachischen Bevölkerung hat sich schon längere Zeit abgezeichnet, Wut hat sich aufgestaut. Das Land hat eigentlich große Erdöl- und Erdgasvorkommen, doch an den Erträgen daraus bereichert sich nur eine korrupte Elite. Es gibt eine reiche Minderheit und große Armut in der Masse. Viele Kasachinnen und Kasachen kämpfen um ihre wirtschaftliche Existenz, die Corona-Pandemie hat diese Zustände noch weiter verschlimmert.
Außerdem fordern immer mehr Menschen im Land demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten, vonseiten des Regimes blieb es in den vergangenen Jahren dabei allerdings oft nur bei Lippenbekenntnissen und Symbolpolitik.
Machtkampf der Autokraten
Regiert wird Kasachstan von Präsident Kassym-Schomart Tokajew, zumindest offiziell. Tokajew war lange ein treuer Wegbegleiter seines Vorgängers Nursultan Nasarbajew, der von 1990 bis 2019 das Land regierte. Nach zwei Jahren an der Macht scheint Tokajew nun aus dem Schatten von Nasarbajew treten zu wollen, die Folge: ein Machtkampf.
Im Jahr 2019 trat Nasarbajew für viele überraschend zurück. Damals wurde das als Zugeständnis gegenüber der Bevölkerung gewertet, die sich in weiten Teilen Veränderung wünschte. Das Regime wollte mit diesem Schritt Krawalle verhindern, doch der Verzicht auf die Macht war nur zum Schein.
Nasarbajew hat bis heute die Zügel in der Hand, ist im Alter von 81 Jahren noch der Vorsitzende der Regierungspartei Nur Oton, Chef des Sicherheitsrates und als "Führer der Nation" weiterhin die mächtigste Person in Kasachstan. Dieser Titel bringt ihm lebenslange Immunität vor Strafverfolgungen. Auch nach seinem Rücktritt durften Oppositionelle nur sporadisch zu Wahlen antreten, viele wurden verhaftet, Presse- und Informationsfreiheit sind nicht existent. Wahlen sind auch weiterhin fingiert, Demokratie gibt es nur auf dem Papier.
Ein korrupter Machtapparat
Unklar ist, wohin Tokajew das Land steuern möchte. Auch er wurde durch die Sowjetunion politisch geprägt und er strebt nicht die Demokratisierung Kasachstans an. Tokajew und Nasarbajew schützen dabei ein System aus politischen und wirtschaftlichen Eliten, die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten vor allem am Rohstoffreichtum des Landes bereichert haben – darunter vor allem auch Familienmitglieder von Nasarbajew.
Immerhin: In der Regierung von Machthaber Tokajew, die im Zuge der Krawalle am gestrigen Mittwoch zurückgetreten ist, waren auch Politiker wie Erlan Karin, Vorsitzender des Rats für internationale Beziehungen, der sich offen für Reformen zeigte. Tokajew kündigte außerdem an, dass Nasarbajew die Leitung des nationalen Sicherheitsrates nun aufgeben werde.
Dieser Schritt kommt spät und es ist unwahrscheinlich, dass sich die Regimekritiker in Kasachstan mit diesem Schritt zufriedengeben. In den vergangenen zehn Jahren gab es in Kasachstan öfters Proteste, die von den Sicherheitskräften teilweise blutig niedergeschlagen wurden – viele Menschen haben noch das Schangaösen-Massaker 2011 in Erinnerung, bei dem mindestens 14 Demonstranten erschossen wurden. Die Erfahrung der vergangenen Jahre hat große Teile der Bevölkerung misstrauisch gemacht.
Denn das autoritäre Regime handelt immer nach der gleichen Blaupause: Protesten wird mit äußerster Gewalt begegnet, um im Anschluss Zugeständnisse zu machen, die zwar nach Reformen klingen, aber stets immer zu einem "Weiter so" führten.
Gewalt erzeugt Gegengewalt
Logisch ist diese Strategie nicht unbedingt, da Gewalt gegenüber Protestbewegungen oft zu Gegengewalt führt, wie zahlreiche Krisen der jüngeren Vergangenheit zeigen. Manchmal wird die Lage dann unkontrollierbar, wie im syrischen Bürgerkrieg, in dem Machthaber Bassar al-Assad 2011 auf Demonstranten schießen ließ und diese sich in der Folge selbst bewaffneten. Die Folge war ein langer Bürgerkrieg, der in der Region um Idlib bis heute andauert.
Die große Enttäuschung der Bevölkerung gegenüber dem Regime spiegelt sich in der aktuellen Eskalation der Gewalt in Kasachstan wider. Das Land hat eine hohe Waffendichte in der Zivilbevölkerung, die Gefahr von Schusswechseln gibt es momentan auf vielen Straßen im Land. Ein Pulverfass.
Angesichts der Gewalt hat das kasachische Regime bei der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) um Hilfe gebeten. Das OVKS ist ein Militärbündnis von Ex-Sowjetstaaten, das unter russischer Führung gegründet wurde, um in außenpolitischen und militärischen Fragen besser zusammenzuarbeiten. Die Mitglieder sind Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan, Russland und Tadschikistan.
Verursacht Russland einen Bürgerkrieg?
Nun schicken Länder Soldaten nach Kasachstan, die weitestgehend autoritär regiert werden – die demokratische Ausnahme in dem Bündnis ist lediglich Armenien. Das könnte die Stimmung bei den Protesten weiter anheizen und noch unversöhnlicher machen. Vor allem russische Soldaten sind schnell vor Ort, mit Soldaten und militärischem Gerät.
Der Kreml verfolgt vor allem eigene Interessen in Kasachstan:
- Putin sieht die Ex-Sowjetrepubliken noch immer als russische Einflusssphären, die er unter der Kontrolle Moskaus halten will.
- Ähnlich wie Russland ist Kasachstan ein Land mit großer Fläche, wenigen Einwohnern (knapp 19 Millionen) und großen Rohstoffvorkommen. Hätte eine Demokratiebewegung hier Erfolg, würde das auch die Opposition in Russland stärken. Das will Putin verhindern.
- Russland möchte verhindern, dass sich islamistischer Terror aus Kasachstan organisieren kann.
- Letztlich begründet Putin den Eingriff russischer Soldaten mit dem Kampf gegen "Terroristen". Hätte die Opposition in Kasachstan Erfolg, könnte der Kreml das nicht – wie in der Ukraine – mit dem Einfluss westlicher Kräfte begründen. Das brächte Russland in Erklärungsnot gegenüber der eigenen Bevölkerung.
Doch der Einsatz russischer Soldaten in Kasachstan ist mit einem hohen Risiko verbunden, auch für Putin. "Das ist beunruhigend. Beobachter in Kasachstan fürchten, dass es zu einem Bürgerkrieg kommen könnte, weil sich die Kasachen dagegen wehren werden", erklärt die Auslandsreporterin Edda Schlager im "Deutschlandfunk". "Wenn jetzt noch russische Unterstützung kommt, wird es sicher nicht weniger martialisch werden."
Resultat könnte demnach zumindest ein langer innenpolitischer Konflikt in Kasachstan sein, der sich noch weiter verschärft, wenn andere Länder Truppen zur Unterstützung des Regimes schicken. Für das autoritäre Regime scheint es der letzte Ausweg zu sein, was aber vor allem eines zeigt: Der Weg Kasachstans zu einem demokratischeren politischen System ist noch lang und steinig. Zum jetzigen Zeitpunkt ist leider zu befürchten, dass er weiterhin auch blutig sein wird.
- Tagesschau: Undurchsichtiges Machtgefüge
- Deutschlandfunk: "Die Wut kommt nicht überraschend"
- Stiftung Wissenschaft und Politik: Kasachstans autoritäre Partizipationspolitik
- Tagesschau: "Es wird eine Weile chaotisch bleiben"
- Le Monde Diplomatique: Willkür, Öl und Korruption
- taz: Autokrat geht – ein wenig
- Der Standard: Dutzende Protestierende in Kasachstan laut Polizei "eliminiert"
- Nachrichtenagenturen dpa und afp