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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Grauen des Nahostkonflikts Um 16.45 Uhr schlugen die Raketen im Zimmer der Töchter ein
Ist Frieden im Nahen Osten noch möglich? Der palästinensische Arzt Izzeldin Abuelaish glaubt fest daran – obwohl er Schreckliches erlebt hat.
Diese Reportage erschien zuerst auf chrismon.de.
Dafür, dass der Mann für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde, ist Izzeldin Abuelaish ganz schön frech. Bis eben ist er in einem Kölner Hotel geduldig den Anweisungen der Fotografin gefolgt, jetzt aber, wo sie für einen Moment wegschaut, schnappt er sich ihre Kamera und versteckt sie unter dem Tisch. Er freut sich wie ein Kind, als die junge Frau suchend um sich schaut. Es ist für den 66-Jährigen eine kleine Flucht aus dem großen und schweren Thema, über das er mit Journalistinnen, Politikern, Menschenrechtsaktivisten spricht: dass Frieden möglich ist zwischen Palästinensern und Israelis. Trotz des Furchtbaren, das er erlebt hat.
Der Tag, an dem alles hohl zu werden schien, die Rede von der Versöhnung, dass man nicht aufeinander schießt, wenn man sich kennt, dass Hass und Gewalt nicht weiterführen – das war der 16. Januar 2009. Da saß er, der Palästinenser, im Gazastreifen fest. Die Hamas hatte jahrelang Raketen auf Israel geschossen, die israelische Armee bombardierte nun den Gazastreifen, in dem die Islamisten regierten.
Eine Woche lang folgte Bombe auf Rakete; dann rückten die Panzer ein. Izzeldin Abuelaish und seine acht Kinder hatten Lebensmittel gehortet und blieben in ihrem Haus in Jabaliya. Die israelische Armee wird schon wissen, wer er ist, dachte er sich. Er, der gefragte Gynäkologe. Der erste palästinensische Arzt, der in einem israelischen Krankenhaus arbeiten durfte, er, der viele Freunde hat in Israel, darunter Journalisten und Politiker.
Aus der Armut nach Harvard
Izzeldin Abuelaish hat sich hochgearbeitet vom Flüchtlingscamp in Jabaliya an die Universitäten in Kairo, London und Harvard. Aufgewachsen ist er mit Eltern und neun Geschwistern in einer neun Quadratmeter großen Hütte. Sie schliefen dicht gedrängt auf dem Boden, das Baby kam in die große Schüssel, in der tagsüber Geschirr gespült wurde. Einmal wollte die Mutter einem der Söhne eine Ohrfeige geben. Der duckte sich weg und rannte davon. Dabei trat er aus Versehen in die Schüssel – und auf das Baby. Das Mädchen starb.
Izzeldin wusste früh, dass Bildung aus der Armut herausführen kann. Er drückte die Schulbücher eng an sich wie andere den Teddy. Den Radiergummi trug er an einem Faden um den Hals, er war so stolz darauf und wollte ihn nicht verlieren. Ein Lehrer bemerkte seinen Ehrgeiz und vermittelte ihm, dass er alles werden kann, was er will. Dass jemand so an ihn glaubte, war ein großes Glück für Izzeldin, doch der Weg war hart. Izzeldin stand um drei Uhr auf und verkaufte vor Schulbeginn Milch, um Geld für die Familie beizusteuern. Nach der Schule pflückte er Orangen und schleppte Ziegel. Hausaufgaben machte er abends inmitten der lärmenden Geschwister.
Erschöpfende Prozeduren an den Checkpoints
Sie würden ihn doch verschonen, dachte er, die Armee kannte doch sein Haus. Und hatten ihm nicht immer wieder Menschen in Israel geholfen? Mit 15 hatte er die Chance, den Sommer über auf einem Bauernhof in Israel zu arbeiten. Er verdiente dort gut und wunderte sich, warum diese Familie ihn überhaupt genommen hatte. Einen palästinensischen Jungen! Waren Palästinenser und Israelis nicht Feinde? Offenbar gab es also auch unter den Israelis solche und solche. Später, als er Arzt war, halfen ihm israelische Kollegen, dass er bei ihnen in einer israelischen Klinik seinen Facharzt machen konnte.
Doch die erschöpfenden Prozeduren an den Checkpoints blieben, er wusste nie, wie viel Zeit er brauchen würde, um ins Krankenhaus auf israelischer Seite zu kommen, oder ob er ein Visum für eine Konferenz in London erhalten würde. Um pünktlich im Dienst zu sein, wohnte er unter der Woche in Israel – getrennt von Frau und Kindern. Manchmal wollten sich israelische Patientinnen nicht von ihm behandeln lassen. Am Wochenende musste er sich im Gazastreifen Vorwürfe anhören: "Wie kannst du jüdischen Frauen helfen, Babys zu bekommen? Du verhilfst einer neuen Generation von Besatzern auf die Welt."
Gewalt erzeugt Gegengewalt
Wenn es schwierig wurde, bemühte er sich noch intensiver, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen. "Wir müssen einander zuhören und die anderen Sichtweisen gelten lassen. Gewalt erzeugt Gegengewalt und bringt noch mehr Hass in die Welt", sagt Abuelaish in der Kölner Hotellobby. Wenn er über Frieden und Verständigung spricht, kommt er schnell ins Predigen und ist dann kaum zu stoppen. Hunderte Male hat er seine Botschaften schon vorgetragen, Politikern, Wissenschaftlern, Schulklassen, auf Podien und Kongressen in Israel, in den USA, in Kanada, in Brüssel ...
Er freundete sich mit seinen israelischen Kollegen an, lernte Hebräisch, an den Wochenenden lud er regelmäßig Israelis in den Gazastreifen ein. Mit Hilfe von israelischen Kollegen eröffnete er dort sogar Kliniken.
Damals, im Gaza-Krieg im Januar 2009 beobachtete Izzeldin Abuelaish eines Tages, wie ein Panzer sich seinem Haus nähert und die Wohnung seiner Brüder ins Visier nimmt. Wusste die Armee doch nicht, wer da wohnte? Dass er keine Militanten verstecken würde? Panisch rief er Shlomi Eldar an, einen befreundeten israelischen Fernsehjournalisten, dem er alle paar Tage Live-Interviews über die Lage im Gazastreifen gab. Eldar erreichte, dass ein anderer Kollege sofort im Radio über Abuelaish und den Panzer berichtete. Kurz danach drehte der Panzer ab.
Zwei Tage später blieb keine Zeit, Freunde um Hilfe zu bitten. Am Nachmittag um 16.45 Uhr schlugen zwei Raketen im Schlafzimmer der Töchter ein, eine gigantische Explosion, Donnern, Krachen erschütterten das Haus. Abuelaishs Töchter Bessan, Mayar, Aya und seine Nichte Noor waren sofort tot. Eine weitere Tochter, sein Bruder und ein Neffe wurden schwer verletzt. Auf YouTube kann man sehen, wie Shlomi Eldar in einem Fernsehstudio sitzt und einen Anruf entgegennimmt. Man hört einen Mann auf Arabisch völlig aufgelöst schreien: "Allah, Allah, meine Kinder sind tot, was haben wir getan ...?" Es ist Izzeldin Abuelaish. Der Journalist versucht, mit ihm zu reden, ist sichtlich betroffen und verlässt mit dem Handy das Studio. Die Szene verbreitete sich sofort in Israel und weltweit.
"Die Sendung hatte einen enormen Effekt auf die Israelis, die bis dahin nichts vom Gazastreifen hatten hören wollen, weil sie so wütend über die acht Jahre Raketenbeschuss durch die Hamas waren. Die Mehrheit der Israelis befürwortete den Einmarsch. Jetzt verstanden sie zum ersten Mal, was in Gaza geschah", sagte Shlomi Eldar später.
Er fühlte sich wie Hiob
Izzeldin Abuelaish hat ein Buch über sein Leben veröffentlicht. Darin beschreibt er die Tage und Wochen nach dem Angriff: "Sosehr ich mich um Ruhe und eine klare Sicht auf die Dinge bemühte, kehrten meine Gedanken doch immer zu meinen wunderschönen unschuldigen Töchtern zurück. Ich stellte mir ihre mögliche Zukunft vor, ihre Hochzeiten, das, was sie der Welt hätten geben können. Ich wünschte mir sehnlichst, ich könnte die Zeit zurückdrehen: dass sie nicht im Schlafzimmer gewesen wären, dass die Waffenruhe, von der man sprach, schon Wirklichkeit gewesen wäre ... Der Wahnsinn des Ganzen ließ mich nicht ruhig werden; die blinde Verbohrtheit der Behauptung, man hatte alle Bewohner des Gazastreifens angreifen müssen, um das Raketenfeuer auf Israel zu stoppen."
Er fühlte sich wie Hiob, fragte sich, wieso ihm das passiert war, wo er doch immer nur Gutes getan hatte? Die Armee gestand schließlich ein, dass die Raketen auf sein Haus ein Versehen waren. Eine Entschuldigung hat er nie erhalten.
Izzeldin Abuelaish lebt heute mit seinen fünf Kindern in Kanada, hat einen kanadischen Pass und unterrichtet an der Universität in Toronto. Wie schafft er es, sich trotz allem weiter für Versöhnung einzusetzen? Hat ihn nicht grenzenlose Wut gepackt? Hass? Im Hotel in Köln plätschert leise Jazzmusik. Der Mann im dunklen Jackett richtet sich auf im tiefen Sessel und fragt zurück: "Welche Israelis sollte ich hassen? Die Ärzte und Schwestern, mit denen ich arbeitete? Die Babys, die ich zur Welt gebracht habe? Die Familie, bei der ich arbeiten durfte, als ich jung war?"
Izzeldin Abuelaishs Lebensgeschichte "Du sollst nicht hassen" erschien 2011 (Lübbe). Claudia Johanna Leist hat daraus das Hörspiel "Ich werde nicht hassen" gemacht (WDR 2019). Dafür wurden Leist und Abuelaish mit dem Robert Geisendörfer Preis 2021 geehrt. Abuelaish hat im Namen seiner Töchter die Stiftung "Daughters For Life" gegründet. Sie gibt Mädchen und Frauen in Nahost Stipendien, damit sie Schule und Uni besuchen können.
Der Soldat, der den Schuss abgefeuert hat, sei wahrscheinlich genug gestraft durch sein Gewissen. Natürlich sei er in den Wochen nach der Tragödie auch wütend gewesen, es sei wichtig, dieses Gefühl zuzulassen, sagt Abuelaish. Wut zeige ja auch, dass man nicht akzeptiert, was passiert ist, und bringe einen dazu, etwas zu verändern. Er will sich aber nicht überrollen lassen von negativen Gefühlen. Und dabei helfe ihm seine Erfahrung an den Checkpoints. "Dort habe ich trainiert, meine Wut zu kontrollieren. Sie herauszulassen hätte alles schlimmer gemacht."
Das größte Gefängnis der Welt
Manchmal sei er frustriert, aber der Optimismus verlasse ihn nie völlig. Wenn es ihm nicht so gut gehe, versuche er, noch mehr zu tun, noch mehr Menschen auf die Lage im Gazastreifen aufmerksam zu machen. "Ich sehe nie etwas als hoffnungslos an", sagt Izzeldin Abuelaish, "weder wenn ich ein Baby zur Welt bringe, das krank ist, noch wenn ich die Blutungen einer Frau stille oder ein Paar behandle, das kein Kind bekommen kann. Warum sollten sich die Konflikte zwischen zwei Völkern nicht lösen lassen?"
Was bliebe ihm auch übrig, wenn er nicht weiter hoffen würde? Resignation? Die Abuelaishs waren vor der Staatsgründung Israels 1948 wohlhabende Bauern. Danach waren sie mittellose Flüchtlinge. Vater und Großvater kamen nie über den Verlust hinweg. Izzeldin stemmte sich schon als Kind gegen die bleierne Trauer und Hoffnungslosigkeit.
Er will nicht vergessen
Klar ist für ihn aber auch: Versöhnung und Wahrheit gehören zusammen, er ist kein neutraler Friedensvermittler, sondern nimmt Partei für die Palästinenser. Den Gazastreifen nennt er "das größte Gefängnis der Welt". Viele Menschen seien arbeitslos, wüssten nicht, wie sie ihre Kinder ernähren sollten. "Natürlich sind sie verführbar für alles Schlechte. Deshalb müssen wir die Armut beenden."
Diese Geschichte erscheint in Kooperation mit dem Magazin "chrismon". Die Zeitschrift der evangelischen Kirche liegt jeden Monat mit 1,6 Millionen Exemplaren in großen Tages- und Wochenzeitungen bei – unter anderem "Süddeutsche Zeitung", "Die Zeit", "Die Welt", "Welt kompakt", "Welt am Sonntag" (Norddeutschland), "FAZ" (Frankfurt, Rhein-Main), "Leipziger Volkszeitung" und "Dresdner Neueste Nachrichten". Die erweiterte Ausgabe "chrismon plus" ist im Abonnement sowie im Bahnhofs- und Flughafenbuchhandel erhältlich. Mehr auf: www.chrismon.de
Er kommt gerade zurück aus dem Gazastreifen und Israel, hat unter anderem Israels Staatspräsidenten Isaac Herzog und Knesset-Abgeordnete getroffen. Er zeigt Handyfotos von seinem Haus in Jabaliya. Vom gefliesten Küchenboden, auf dem man immer noch Löcher von den Splittern der Raketen sieht. Auf anderen Fotos stehen er und seine Kinder an den Gräbern und beten.
Er will nicht vergessen, den Schmerz nicht wegdrücken. Im Gegenteil. Alle paar Monate lässt er sein komfortables Leben in Kanada hinter sich und kommt zurück. Taucht ein in Elend und Armut, "um zornig zu werden", wie er sagt. Ganz ohne Wut geht es eben auch nicht. Dann weiß er wieder, wofür er kämpft. "Wenn ich an den Gräbern stehe, gibt mir das Kraft", sagt Izzeldin Abuelaish. Er wird nicht aufgeben. "Das bin ich meinen Töchtern schuldig."
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