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Belarus: Der Mann, der das Leid der Flüchtlinge sichtbar macht


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"Manche Flüchtlinge handeln gegen das Gesetz"


Aktualisiert am 15.11.2021Lesedauer: 6 Min.
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"Im aggressiven Tonfall angegangen": Was t-online-Reporter Tim Kummert vor Ort beobachten kann und was ihm Migranten berichten. (Quelle: t-online)

Im Streit um Flüchtlinge wollen Polen und Belarus unliebsame Bilder vermeiden. Die erhält dafür ein in Berlin lebender Kurde. Doch er veröffentlicht längst nicht alles,

Blaulichter zucken durch die Nacht, der Rauch der Lagerfeuer macht den Strahl des grünen Lasers sichtbar, der über den Waldboden und die Zelte streift und tanzt, der Motor eines Quads macht einen Höllenlärm. An Schlaf ist auf beiden Seiten der Natodraht-Rollen nicht zu denken.

Genau das sollen diese Bilder zeigen: Das unwürdige Leben der Flüchtlinge an der Grenze zwischen Polen und Belarus. Menschen, die diesem Ort entkommen wollen und dafür auch auf die Kraft der Bilder setzen.

Es ist ein 32-Jähriger im fernen Berlin, der ihnen Sichtbarkeit und Reichweite verschafft. Sein Name: Halgord Omar. Sein Job: so etwas wie die heimliche Pressestelle der Flüchtlinge. Bei ihnen hat sich herumgesprochen, dass er Anlaufstelle ist, wenn sie Bilder und Appelle haben, die die Welt erreichen sollen. Omar betreibt eine Facebook-Seite mit 215.000 Abonnenten, die Videos und Fotos der Flüchtlinge zeigt.

Von manchen Bildern wollen Polen oder Belarus oder Polen und Belarus nicht, dass die Welt sie sieht – oder aber sie wollen es unbedingt. Das macht die ganze Sache so kompliziert. Denn Bilder sind wichtig im Propagandakrieg, sie können Mitleid und Empörung wecken, sie können Angst machen und zeigen, wie die Flüchtlinge Hilfe bekommen oder auch nicht. Wer die Bilder kontrolliert, kann Emotionen steuern – und damit schließlich auch politische Entscheidungen.

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Auf polnischer Seite kommen Journalisten nicht in die Nähe der Grenze. Foto- und Videomaterial von dort stellt den Medien eine Infanterie-Division zur Verfügung. Aus Belarus liefert fast ausschließlich Lukaschenkos staatliche Nachrichtenagentur Belta Fotos. Immerhin durfte am Samstag ein CNN-Reporter per Smartphone von dort berichten.

Mit starken Powerbanks in den Wald

Halgord Omar dagegen hat im Wald ein Heer von Kameraleuten mit Smartphone, auch wenn er die wenigsten von ihnen kennt. Jeder kann ihm Bilder an seine Facebook-Seite senden, "jede Minute wird mir was geschickt". Zwei Admins habe er in der Grenzregion, damit meint er Flüchtlinge, die die Berechtigung haben, live auf der Seite zu streamen. Er wundert sich manchmal, dass sie überhaupt Netz und Akku haben im Wald, "aber die bringen aus Minsk starke Powerbanks mit, die für eine Woche reichen".

Die eingeschickten Videos sichten Omar oder ein Bekannter von ihm: "Ich teile längst nicht alles." Leichen waren auf Videos zu sehen, mit Unschärfefilter vor dem Gesicht. Offiziell ist von mindestens acht Toten die Rede, Omar spricht von zwölf.

Bilder mit viel Blut zeigt er nicht, Facebook könnte da Probleme machen. "Und manche Flüchtlinge handeln gegen das Gesetz oder fordern dazu auf." Bei ihm wird auch gefiltert: Steinewerfer wie in der Nacht zu Sonntag zeigt er eher nicht, in schlechtem Licht sollen die Menschen an der Grenze nicht erscheinen. Dafür gibt es oft Videos von Kindern, sie sollen 200 der zuletzt geschätzt 2.000 Menschen im provisorischen großen Lager ausmachen. 600 davon sollen Frauen sein.

Die Lage ist unübersichtlich, Omar teilte am Samstag auch ein Video davon, wie eine größere Gruppe neu eintrifft. Wieder sind die meisten Kurden aus dem Nordirak oder Syrien. Aber auch drei Männer aus Mali sind darunter. Einer von ihnen sagt, dass sie längere Zeit in Moskau gewesen seien und nun auf die Chance hofften, nach Frankreich zu kommen. Am Sonntag ist eine weitere Gruppe angekommen.

Litauische Grenzer gefürchteter als polnische

Omar zeigt auch Videos aus Minsk, wo sich Flüchtlinge in der Innenstadt sammeln für den Aufbruch Richtung Grenze. Und er veröffentlicht ein Video von Flüchtlingen, die von belarussischem Militär abgesondert, in Militärfahrzeuge gesetzt und zur litauischen Grenze gebracht worden sein sollen. Solche Bilder verstärken den Vorwurf, dass Lukaschenko die Menschen gezielt und strategisch als Druckmittel gegen die EU einsetzt.

Denn wer als Flüchtling von der polnischen an die litauische Grenze verschoben wird, hat offenbar ein Problem. "Die litauischen Grenzbeamten sind viel härter. Die polnischen sind meistens korrekt, die litauischen oft aggressiv und sie nehmen den Menschen Smartphone und Geld ab", sagt Omar. Überprüfen lässt sich das allerdings nicht.

Omar weiß, dass die Kinder auf seiner Facebook-Seite überrepräsentiert sind. Aber sie seien auch die, für die es am schwersten sei. Es sei auch "nicht gut", wenn Eltern mit Kindern nach vorne drängten, um dafür vielleicht besonders mitleiderregende Bilder zu erzeugen. Omar zeigt Gruppen zusammenstehender Kinder, denen auf Englisch "Frost", "Kalt" oder "Hilfe" auf die Stirn geschrieben steht. Oder Kinder, die nebeneinander stehen und mit ihren hellen Stimmen "Almanya" rufen.

"Fast alle wollen nach Deutschland, nicht nach Polen", sagt Omar. Das soll wohl auch immer wieder die Botschaft an Polen sein: Die Menschen wollen ja gar nichts von dem Land, es könne sie rein- und dann wieder rauslassen. Wenn das so stimmt, sichert Polen die Grenze derzeit faktisch für Deutschland. Auf anderen Videos skandieren Kinder "German", es gibt solche Sprechchöre auch von Männern in Richtung der polnischen Grenzer.

Halgord Omar, der 2015 aus dem Nordirak über die Türkei ("sieben schwere Tage"), das Mittelmeer und Italien nach Deutschland kam, ist auch klar, dass die Lage kompliziert ist. Er selbst stand in der vergangenen Woche in Frankfurt/Oder an der deutsch-polnischen Grenze und zeigte, dass dort verstärkt kontrolliert wird. "Intensivierte Fahndungsmaßnahmen" nennt sich das.

Es gibt keine echten "Grenzkontrollen", deren Wiedereinführung müsste gegenüber der EU-Kommission notifiziert werden und wäre ein riesiges Politikum. Wer erwischt wird und Asyl beantragen möchte, kann bei der derzeitigen Lage nicht einfach zurück nach Polen geschickt werden. Omar hat die offiziellen Zahlen der Bundespolizei gemeldet: Zwischen Anfang November und dem 11. des Monats wurden 1.488 Menschen festgestellt, die aus Belarus über Polen nach Deutschland kamen, seit Jahresbeginn waren es 9.329.

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Gerücht: Am Montag Busse nach Deutschland

Und bei Omar ist sehr früh das Gerücht aufgelaufen, Polen würde an diesem Montag die Grenze öffnen, damit die Flüchtlinge nach Deutschland weiterreisen könnten. Es verbreitete sich offenbar wie ein Lauffeuer. Wer es gestreut hat, ist unklar. Von Bussen war die Rede, die die Menschen direkt nach Deutschland brächten.

Genau das wünscht sich der in Berlin lebende Kurde Omar: Dass die Menschen, die sich um Holz fürs Feuer beinahe prügeln, aus dem Elend an der Grenze nach Deutschland geholt werden. Er hat gepostet, dass einzelne Städte bereit seien, die Menschen aufzunehmen, Und er war auch am Sonntag bei einer Demonstration am Brandenburger Tor in Berlin, bei der genau das gefordert wurde.

Er weiß jedoch, dass dann wohl eine Sogwirkung entstünde. Darauf hat auch er keine Antwort. Aber er warnt auf seiner Seite, dass die Busse mit dem Ziel Deutschland am Montag nicht kommen werden. Am Samstagmorgen postete er schon, dass das Gerücht nicht stimme. Mit seinem Beitrag in Kurmandschi, dem Nordkurdischen, war er zwölf Stunden früher dran als der polnische Innenminister Mariusz Kamiński, der erst am Samstagabend twitterte: "Es ist eine Lüge. Die polnische Grenze ist und wird gut bewacht." Das deutsche Außenministerium twitterte es am Sonntagabend, vom deutschen Innenministerium war die Nachricht des polnischen Ministers weitergeleitet worden.

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In Grenznähe Warn-SMS von Polen

Polens Regierung schickt auch Warnungen auf die Handys: Wer in die Nähe der Grenze kommt, bekommt eine entsprechende Nachricht: "Weißrussische Behörden haben Euch belogen, die Grenze ist geschlossen." Wer auf den Link klickt, bekommt in diversen Sprachen den Hinweis, dass der Grenzübertritt kaum möglich und verboten ist: "Geh das Risiko nicht ein! Geh zurück nach Minsk! Geh zurück nach Hause! Setz Leben und Gesundheit nicht aufs Spiel!" Inzwischen gibt es auch entsprechende Lautsprecherdurchsagen.

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Es gibt aber auch Bilder, die eine Gruppe von vielleicht 20, 30 Flüchtlingen am Fuß einer Böschung zeigen, auf der bewaffnete weißrussische Soldaten stehen – und den Rückweg versperren? Direkt vor der Gruppe ist der Grenzzaun, drüben stehen polnische Soldaten, ebenfalls mit Waffe. Ein schmaler Streifen Ausweglosigkeit.

40, 50 Videos kämen an manchen Tagen, erzählt Omar am Telefon. Das Gespräch mit dem Reporter hatte er zunächst verschieben müssen, und er reagiert gar nicht mehr auf alle Anfragen. "Schaffe ich nicht", sagt er. Da sind ja auch noch die Hunderten WhatsApp-Nachrichten. "Ich bekomme Nachrichten von kurdischen Familien, die seit Wochen kein Lebenszeichen mehr haben von Angehörigen, die nach Europa wollten."

Es gibt inzwischen gezielt Angebote zur Rückkehr, Flüge dafür. Die Regierung in der Autonomen Region Kurdistan will Rückkehrern Hilfsangebote machen. Doch die wenigsten wollten zurückgehen, glaubt Omar. "Viele sagen, sie wollen eher sterben als zurück." Es müsse niemand Hunger leiden in der Heimat, aber es gebe viele Probleme.

In Kurdistan auch Verwunderung

Enno Lenze, deutscher Journalist und Kurdistan-Kenner, versteht das nur eingeschränkt. Er ist gerade im Nordirak, "und hier wundern sich die Menschen vor allem, wieso sich jemand auf den Weg macht". Die Verwunderung schildert er auch in einem Blogbeitrag. Selbst wenn es jemand nach Deutschland schaffe: "Es ist hier in allen Nachrichten, dass es praktisch keine Chance gibt, in Deutschland Asyl zu bekommen, weil es keine Verfolgung in der Region gibt."

Facebook-Seitenbetreiber Omar hat da noch eine andere Rolle: Er arbeitet auch unbezahlt für einen Sender, der der zweitgrößten kurdischen Partei PUK nahesteht und der Barzani-Familie Korruption vorwirft, die seit Jahrzehnten an der Regionalregierung beteiligt ist. Omar gibt der Politik der Barzanis eine Schuld daran, wenn nun Menschen aus der Eiseskälte der belarussischen Wälder Videos schicken, wie sie wegen des Lichterspektakels und des Motorengeheuls nicht schlafen können.

Verwendete Quellen
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