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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Nahostexperte Daniel Gerlach "Die Politik in Deutschland scheint mit der Lage überfordert"
Luftangriffe und Raketenbeschuss: Der Nahostkonflikt ist gewaltsam eskaliert. Nahostexperte Daniel Gerlach spricht über die aktuelle Lage, die Gefahr eines Flächenbrandes in der Region und über die Reaktion der deutschen Politik.
Kampfflugzeuge fliegen über den Gazastreifen, ihre Bomben legen ganze Gebäude in Trümmer. Auf der anderen Seite vergeht in Israel kaum eine Stunde ohne Raketenalarm. Viele Raketen werden abgefangen, aber einige kommen durch und schlagen zufällig irgendwo im Land ein – mitunter mit tödlichen Folgen.
Seit knapp einer Woche herrscht nun wieder Krieg. Aber die Eskalation des Nahostkonflikts hat viele unterschiedliche Dimensionen: Die Siedlungspolitik in Israel, der Raketenterror der Hamas und die israelischen Luftangriffe, das Leid der Bevölkerung. Aber auch international drohen Staaten in den Sog der Gewalt gezogen zu werden. Es droht ein Flächenbrand im Nahen Osten, und die Konfliktlinien durchziehen und spalten auch die Gesellschaft in Deutschland.
Wie ist die aktuelle Lage in Israel, im Gazastreifen und in der Region? Wie ist die Reaktion der deutschen Politik auf die Eskalation zu bewerten und berichten deutsche Medien objektiv über die Krise? Darüber spricht Nahostexperte Daniel Gerlach im Interview mit t-online.
t-online: Herr Gerlach, seit nun einer Woche erleben wir einen erneuten Gazakrieg. Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage im Nahen Osten?
Daniel Gerlach: Der bisherige Verlauf des Krieges ähnelt dem früherer Kriege. Es läuft alles nach einem mehr oder weniger erwartbaren Schema ab. Etwas neu ist die Waffentechnologie, die zum Einsatz kommt. Das gilt natürlich für das israelische Luftverteidigungssystem Iron Dome, das ständig dazulernt. Solange nicht andere Akteure, wie etwa die libanesische Hisbollah mit ihren Raketen, in den Konflikt eingreifen, kann es standhalten.
Wie hat sich die Bewaffnung der Hamas verändert?
Es gilt auch für das Arsenal an Raketen und Drohnen der Hamas, das zeigt: Auch hier hat, mit vergleichsweise kostengünstigem Einsatz, ein technologischer Fortschritt stattgefunden. Die Waffensysteme verändern sich, die politischen Probleme bleiben dieselben. Und der Krieg überschattet diejenigen Themen, die man nicht militärisch, sondern politisch angehen könnte.
Daniel Gerlach, geboren 1977, ist Orientalist, Experte für den Nahen Osten und Chefredakteur des deutschen Fachmagazins "Zenith".
Die Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern hatten sich auch im vergangenen Jahr weiter verschärft. War die Bedrohung durch die Corona-Pandemie der Grund, warum der Konflikt nicht schon früher explodierte?
Diesen Zusammenhang kann ich nicht direkt erkennen. Israel hat in den vergangenen Monaten gezeigt, dass die politische Situation – auch im Inland – desolat sein mag, aber die staatlichen Institutionen funktionieren. Die Israelis, und das schließt auch arabische Staatsbürger ein, hatten durch die Impferfolge Grund, froh zu sein, dass sie in Israel leben. Dieses Gefühl hat der Krieg ein Stück weit zunichtegemacht.
Der Konflikt hat mehrere Dimensionen, zunächst zur Lage im Gazastreifen: Die Vereinten Nationen berichten von über 50.000 Flüchtlingen und zahlreichen zerstörten Gebäuden. Wie ist die Lage? Wie ist momentan die Situation für die Menschen dort?
Wenn von rund zwei Millionen Menschen – mehr als Hamburg Einwohner hat – in einem dicht besiedelten Landstreifen 50.000 ihre Behausung verloren haben, kann man die Lage wohl als katastrophal bezeichnen. Schlimmer ist wahrscheinlich noch die psychologische Dimension: Die Menschen können den Gazastreifen ja nicht einmal dann verlassen, wenn sie es wollten. Wenn es Flüchtlingsboote aus Gaza in Richtung Europa gäbe, hätten wir hier wahrscheinlich eine andere Diskussion.
Die Luftangriffe fordern auch immer wieder zivile Opfer. Stärkt Israel nicht gerade damit die Hamas und künftigen Terror?
Ich denke, die israelische Kriegs- und Verteidigungslogik macht sich unabhängig von solchen Erwägungen. Es geht darum, kurzfristig das israelische Territorium vor Angriffen zu schützen, das Arsenal der Hamas und verbündeter Gruppen zu zerstören, der Hamas maximalen Schaden zuzufügen und – wie wir inzwischen sehen – auch ihr politisches Führungspersonal zu treffen. Wollte Israel gezielt die Zivilbevölkerung angreifen, würden wir sicher andere Opferzahlen sehen. Aber ich denke, dass man schon sagen kann, dass hier eine gewisse Vergeltungslogik am Werk ist, nach dem Prinzip: Die Hamas greift die israelische Bevölkerung an, und dafür ist die palästinensische Bevölkerung auch mit in Haftung zu nehmen.
Geht die israelische Strategie auf?
Benjamin Netanjahus Logik ist: Je härter wir sind, desto länger werden die Abstände zwischen den Versuchen des Gegners, Israel zu bekämpfen. Damit hatte er bisher politisch Erfolg. Israels gewaltige militärische Überlegenheit verpflichtet das Land aus seiner Sicht nicht zu Zurückhaltung. Man muss sich immer vor Augen führen, dass auch westliche, demokratische Staaten in kriegerischen Auseinandersetzungen den Begriff "Vergeltung" als Motiv anführen. Über alle militärischen und pragmatischen Erwägungen hinaus ist diese Kategorie auch in der israelischen Politik anwendbar. Und konsensfähig.
- Newsblog zur Eskalation in Nahost: Alle aktuellen Nachrichten zum Gaza-Krieg
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Der israelische Angriff begann am letzten Tag des Eid al-Fitr. War das im Hinblick auf die Aussöhnung beider religiöser Gruppen im Land ein Fehler?
Die israelische Führung hat den Zeitpunkt dieser Auseinandersetzung nicht bestimmt. Er war die Folge eines Ultimatums seitens der Hamas und des darauffolgenden Raketenangriffs. Wir müssen hier den Krieg mit der Hamas und die Eskalation in Jerusalem auseinanderhalten: Dort haben Israels Regierung, die Stadtverwaltung von Jerusalem und die Sicherheitskräfte nicht gerade konfliktsensibel gehandelt.
Warum?
Vor allem weil sie Provokationen rechtsextremistischer jüdischer Gruppen gegen Palästinenser dort keinen Einhalt geboten haben. Ihnen muss klar gewesen sein, dass die Zwangsräumung der von arabischen Familien bewohnten Wohnhäuser in einem zentralen Viertel von Jerusalem auf Grundlage einer eher fragwürdigen Rechtsprechung und unter recht aktiver Beteiligung randalierender jüdischer Siedlergruppen, ausgerechnet vor einem der symbolträchtigsten Feiertage im muslimischen Teil Jerusalems, zu Aufruhr führen wird.
Die Hamas scheint zumindest einer Waffenruhe nicht abgeneigt zu sein. Warum ist die israelische Seite daran momentan noch nicht interessiert?
Weil Israel seine taktischen Ziele im Gazastreifen noch nicht erreicht hat. Und weil Netanjahu und sein geschäftsführendes Kabinett zeigen wollen: Dieses Mal kommt die Hamas nicht so billig davon wie früher. Einen Krieg zu beginnen ist immer mit hohen politischen Risiken verbunden, einen Krieg zu verlängern eher nicht. Also überlegt man sich: Wenn man in diesem Krieg noch dies und das erreichen kann, verlängert man die Periode der Ruhe bis zum nächsten Krieg.
Nun haben wir in den letzten Jahren ein politisches Chaos in Israel erlebt. Einerseits Affären von Benjamin Netanjahu, andererseits erhebliche Schwierigkeiten, mit den politischen Mehrheiten eine Regierung bilden zu können. Wie wirkt sich der momentane Konflikt auf die innenpolitische Situation in Israel aus?
Insgesamt stärkt er wohl das rechte und rechtsgerichtete Lager. Die Koalitionspläne von Netanjahus größtem Rivalen könnten dadurch vereitelt werden. Es gibt zwar eine linke, außerparlamentarische Friedensbewegung, die allerdings noch nicht genügend Momentum hat. Was wir gerade in der Politik erleben, hätte auch ohne den Krieg passieren können. Ein Grundübel liegt darin, dass die ohnehin rechtsgerichtete und nationalistische Politik Netanjahus diejenigen als Verbündete sieht beziehungsweise braucht, die weder von einer Zweistaatenlösung noch vom Siedlungsstopp noch von irgendeinem Ausgleich mit den Palästinensern etwas wissen wollen.
Eine besondere Rolle spielt auch Netanjahu persönlich. Profitiert der Premier von der Eskalation?
Wie die meisten Staatschefs, die Krieg führen, beziehungsweise das Land verteidigen. Die Israelis wissen, dass Netanjahu unter Verdacht der Vorteilsnahme im Amt steht und alles tun würde, um politisch zu überleben. Andererseits hat er viel Erfahrung und ist zumindest, was seine kompromisslose Haltung zu Israels Sicherheit betrifft, für viele Menschen noch glaubwürdig. Man erwartet dort gerade nicht sehr viel von Politikern. Die Ansprüche sinken. Netanjahu möchte indes wohl gerne das System der Direktwahl des Ministerpräsidenten einführen, was die Verfassung grundsätzlich zulässt. Er rechnet sich Chancen aus, dann mit einem neuen Mandat weiter zu regieren, auch wenn die israelische Parteienlandschaft so zersplittert ist.
Würde er vielleicht nicht sogar im Gefängnis landen, wenn er sich nicht an der Macht halten kann?
Er wäre damit nicht der erste israelische Ministerpräsident, dem dies widerfährt.
Die letzte Dimension ist eine internationale: Wie groß sehen Sie momentan die Gefahr eines Flächenbrandes im Nahen Osten durch den Gazakrieg?
Theoretisch bestünde die Möglichkeit, dass die Hisbollah beschließt, in den Konflikt einzugreifen und ihr Raketenarsenal, das ein Vielfaches dessen der Hamas ist, gegen Israel zu richten. Man kann davon ausgehen, dass die Hisbollah-Führung Buch führt über die Bilanz des Iron Dome und genau schaut, wo es Schwachstellen gibt. Die Hisbollah könnte davon zwar profitieren, aber auch großen Schaden nehmen. Und sie hat im Syrienkrieg sowie angesichts der Krisen im Libanon bereits viel Kapital verbraucht – politisch wie finanziell.
Interessanterweise erleben wir Präsident Erdoğan, der sich sehr lautstark auf die Seite der Palästinenser stellt, und eher leisere Töne aus dem Iran. Woran liegt das?
Natürlich versucht Erdoğan, sich als Anführer der muslimischen Welt zu inszenieren. Aber: Seine Sympathie für die Palästinenser ist nach meinem Eindruck nicht gespielt. Das Empfinden, dass deren Rechte von allen Seiten mit Füßen getreten werden, ist in der muslimischen Welt weitverbreitet. Und nicht nur dort. Iran kritisiert das israelische Verhalten gegenüber den Palästinensern fortwährend und übermäßig. Für das offizielle iranische Narrativ ist der Gazakrieg und dessen Vorgeschichte in Jerusalem nur ein abermaliger Beweis für die Doppelmoral des Westens und die moralische Verkommenheit dessen, was man als "zionistisches Regime" bezeichnet.
Dennoch hat der Iran im Moment auch andere Interessen in der Region.
Die Zeichen stehen für Iran gerade auf Deeskalation mit den Nachbarn. Man führt z.B. Gespräche mit Saudi-Arabien und sieht andererseits, dass gerade wieder eine Welle der Solidarität für die Palästinenser durch die arabische Welt geht. Warum sollte man hier rhetorisch für Irritation sorgen und diese arabische Verbrüderung stören? Strukturell und militärisch unterstützt Iran die Hamas ohnehin als Juniorpartner in der Widerstandsachse. Das ist kein Geheimnis und wird auch von allen Seiten mehr oder weniger offen kommuniziert.
Der Konflikt scheint nicht nur international zu polarisieren, sondern die Konfliktlinie zieht sich erneut auch durch Deutschland. Wie erleben Sie die mediale Berichterstattung zum Nahostkonflikt?
Wer gut informiert werden will, kann sich gut und ausgewogen informieren. Ein Problem sehe ich weniger in der Berichterstattung, sondern in dem politischen Diskurs. Man sollte Menschen, die solidarisch mit Israel sein wollen, nicht per se vorwerfen, dass sie die Rechte der Palästinenser missachten. Andererseits haben diejenigen, die sich in Deutschland für die Sache der Palästinenser einsetzen, keine oder eine sehr kleine Lobby. Sie geraten deshalb oft in eine Art Vormundschaft derjenigen, die aus ideologischen, linken, rechten, antizionistischen oder gar antisemitischen Motiven agitieren. Ich habe fast das Gefühl, dass es Politiker und Journalisten gibt, die darüber froh sind, weil sie sich dann mit den tieferliegenden Problemen und Argumenten gar nicht auseinandersetzen müssen.
Wie agiert die deutsche Politik?
Die Politik in Deutschland scheint mir mit der Lage überfordert und neigt dazu, eine außenpolitische Diskussion zur deutschen Befindlichkeitsdebatte zu machen. Ich verstehe deutsche Politiker, die sagen: Ich halte mich da raus, weil wir eine historische Verantwortung für Israel tragen. Wofür ich kein Verständnis habe, ist das Muster, das ich ebenso oft antreffe. Nach dem Motto: "Wir sind für Menschenrechte und Zweistaatenlösung und haben auch viel Geld in Entwicklungshilfe investiert. Aber die Palästinenser – und die Araber insgesamt – sind irgendwie ja selbst daran schuld, dass es so ist, wie es ist."
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gerlach.
- Gespräch mit Daniel Gerlach