Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg im Kaukasus Erdogan legt Feuer in Putins Vorgarten
Die Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan werden heftiger, es gibt immer mehr Tote. Die Türkei unterstützt den Krieg – zum Ärger Russlands. Was wollen Putin und Erdogan in der Region?
Panzer brennen, Raketenwerfer und Kampfflugzeuge feuern massenhaft Geschosse auf den militärischen Feind, tote Soldaten liegen regungslos in den Schützengräben der Grenzregion. Diese Bilder aus dem eskalierenden Konflikt in Berg-Karabach werden von Armenien und Aserbaidschan schonungslos über Fernsehen und Internet verbreitet. Es ist einerseits Kriegspropaganda der verfeindeten Länder, doch andererseits und vor allem dokumentieren die Videos eines: das Grauen des Krieges.
Der Konflikt um Berg-Karabach, der Anfang der 90er-Jahre in einen blutigen Krieg mündete, flammt nun so heftig auf wie lange nicht mehr. Seit Sonntag gab es mehr als 60 Tote und Hunderte Verletzte. In beiden Staaten wurde der Kriegszustand verhängt. Eine Lösung scheint nicht in Sicht, das Vertrauen zwischen den Konfliktparteien ist komplett zerstört. Doch kommt es erneut zum Krieg, drohen sich auch Konflikte zwischen den Regionalmächten zu verschärfen.
Da ist zum einen die Türkei, die sich als Schutzmacht Aserbaidschans sieht. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan unterstützt die Offensive gegen Armenien. Und da ist zum anderen Wladimir Putins Russland, das Armenien protegiert und aus eigenen sicherheitspolitischen Interessen einen Krieg verhindern muss. Ohne Rückendeckung ihrer Schutzmächte würden weder Aserbaidschan noch Armenien eine militärische Offensive starten. Mit seiner Unterstützung für Aserbaidschan hat Erdogan deshalb ein Feuer in Putins Vorgarten gelegt. Er riskiert damit eine dramatische Verschlechterung der Beziehungen mit Moskau.
Die Region sah viele Herrscher
Um die komplexen Zusammenhänge des Konflikts zu verstehen, lohnt zunächst ein Blick in die Geschichte. Berg-Karabach sah seit der Spätantike viele Herrscher. Einst kontrollierten die Mongolen das Gebiet, später die Perser, dann zu Anfang des 19. Jahrhunderts die Russen. Stets war die Region dabei ethnisch durchmischt. Muslimische Turkvölker, Araber, Kurden, aber auch christliche Armenier lebten hier. Doch mehrere große Einwanderungswellen verschoben das gesellschaftliche Gefüge. Nach dem Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich und ihrer damit einhergehenden Flucht wuchs ihr Anteil an der Bevölkerung von Berg-Karabach auf über 80 Prozent an.
Die Spannungen nahmen zu, auch weil die in dem Gebiet lebenden Aserbaidschaner sich der Türkei verbunden fühlten. Es kam zu blutigen Pogromen mit Tausenden Toten. Mit dem Zerfall des Zarenreiches am Ende des Ersten Weltkrieges erhoben Armenier wie Aserbaidschaner Anspruch auf das Gebiet: Armenien verwies auf den großen Anteil der Armenier an der Bevölkerung, Aserbaidschan auf die Unverrückbarkeit der Grenzen und die traditionellen Weidegründe muslimischer Nomaden. Nach der Ausrufung von Sowjetrepubliken in Armenien und Aserbaidschan erklärte Berg-Karabach sich freiwillig zugehörig zu Aserbaidschan – ein Zugeständnis an die Türkei, mit der Moskau zuvor einen Friedensvertrag geschlossen hatte. Zugleich erhielt das Gebiet Autonomiestatus. Bis 1989 blieb dieser Zustand unangetastet.
Den Pogromen folgte der Krieg
Als Mitte der 1980er-Jahre die Macht der Sowjetunion zu zerbröseln begann, brachen alte Gräben wieder auf und nationalistische Bewegungen erwuchsen. Die über Jahrzehnte von der Zentralmacht in Moskau benachteiligten Aserbaidschaner verübten Pogrome an den in der Teilrepublik lebenden Armeniern. Aus Berg-Karabach wiederum wurden Tausende Aserbaidschaner von Armeniern vertrieben. Nachdem Nationalisten in Aserbaidschan versuchten, die Macht an sich zu reißen, rollten am 20. Januar 1990 russische Panzer ein, begleitet von 160.000 Soldaten, und besetzten die Hauptstadt Baku.
Weder der Einmarsch der Roten Armee noch die Unabhängigkeit Armeniens und Aserbaidschans ein Jahr später befriedeten den Konflikt – im Gegenteil. Weitere Pogrome mit Dutzenden Toten ließen den Konflikt 1992 vollends eskalieren. Zwei Jahre Krieg forderten mehr als 25.000 Tote, zwangen über eine Million zur Flucht. 1994 wurde ein Waffenstillstand geschlossen, der bis heute gilt, doch immer wieder verletzt wurde.
Im Fokus vieler Regionalmächte
Völkerrechtlich ist die Sache klar: Berg-Karabach gehört zu Aserbaidschan, weder die Vereinten Nationen noch die Europäische Union erkennen das seit 2017 Republik Arzach genannte Territorium als unabhängig an. De facto allerdings wird es seit 1994 selbstständig regiert. Neben dem ungelösten Grenzkonflikt sorgten nun weitere Faktoren dafür, dass der alte Streit die Region in einen neuen Krieg stürzen könnte. Da ist die strategische Lage mit dem nach geopolitischer Macht strebenden Russland im Norden, der ambitionierten Türkei im Westen, dem Iran im Süden. Da sind aber auch die Erdöl- und Erdgasvorkommen in der Region, die die Aufmerksamkeit der Regionalmächte wecken, deren Ausbeutung ein neuerlicher Krieg allerdings in Gefahr bringen könnte.
Das Interesse an einer weiteren Eskalation dürfte sich somit in Grenzen halten, das russische allemal. Ein neuer Krisenherd so nah an der Grenze bedroht direkt russische Sicherheitsinteressen. Der Nordkaukasus gilt als Achillesferse Russlands. Für den Kreml war es immer schwer, diesen Teil des russischen Staatsgebietes unter Kontrolle zu bringen. Das muslimisch geprägte Tschetschenien wurde zur Keimzelle für den islamistischen Terrorismus und es gibt ernsthafte Armuts- und Strukturprobleme. Auch die Terrormiliz IS konnte zu ihrer Hochzeit in der Region Fuß fassen.
Putin will Frieden
Es fordert Russland viel Kraft und Geld ab, den Nordkaukasus zu befrieden. Die Einsätze in Syrien und Libyen dienen auch dem Zweck, islamistische Gruppierungen im eigenen Land zu schwächen. Ein weiterer Punkt ist die geopolitische Einflussnahme in der Region – auch in Armenien. Der Kreml kann den aktuellen Konflikt im Kaukasus nicht eskalieren lassen, damit sich der Brand nicht auf das eigene Staatsgebiet ausbreitet. Spannungen zwischen ethnisch-religösen Gruppen gibt es etwa in den russischen Teilrepubliken Dagestan und Nordossetien-Alanien.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Für den Notfall unterhält Russland in Armenien einen Luftwaffenstützpunkt und Moskau wird seinen Sicherheitsversprechen für das Land nachkommen, auch um sein Gesicht nicht zu verlieren. Erste Berichte über russische Kampfjets in der Region gibt es schon. Letztlich aber dürfte ein militärischer Sieg über Aserbaidschan kaum das Ziel Moskaus sein, sondern eher ein Frieden.
Türkei treibt sich selbst in die Enge
Dass Berg-Karabach in diesen Tagen die schwersten Gefechte seit Jahren erlebt, dürfte Putin deshalb umso mehr verärgern. Und dass noch dazu die Türkei sofort Partei ergriff für Aserbaidschan und schwere Vorwürfe in Richtung Armenien erhob. Wer letztlich den ersten Schuss abgab, lässt sich aktuell nur schwierig nachzeichnen. Beide Seiten geben sich die Schuld. Mit der eiligen Positionierung verliert die Türkei gleichwohl immer mehr Verbündete und stellt das eigentlich gute Verhältnis zu Russland nach den Spannungen in Libyen nun ein weiteres Mal auf die Probe.
Dabei hätte die Türkei nach dem Völkermord an den Armeniern eigentlich eine gewisse Sorgfaltspflicht gegenüber dem kleinen Nachbarland. Trotz unterschiedlicher Religionen sind Türken und Armenier kulturell eng verbunden, lange lebten sie in einem Land. In türkischen Großstädten wie Istanbul ist die armenische Architektur noch gut sichtbar. Aber dass die Armenier in eine Wüste vertrieben und zu Zehntausenden ermordet wurden, lernen Kinder nicht in der Schule. Sie wurden umgesiedelt, heißt es. Rückfragen sind nicht erlaubt.
Meist verhinderte die Politik der Türkei eine Aussöhnung mit dem schrecklichen geschichtlichen Erbe. Erdogan träumt von einem neoosmanischen Reich, die momentane türkische Regierung sieht den Mittelmeerraum als ihr Einflussgebiert. Der Nationalismus ist im Land stark ausgeprägt und viele nationalistische Bewegungen in der Türkei sehen Aserbaidschan als muslimischen Bruder und Armenien als türkisches Staatsgebiet, das besetzt wurde. Erdogan sieht das ähnlich: "Wenn Armenien sofort das Gebiet verlässt, das es besetzt, dann wird die Region zu Frieden und Harmonie zurückkehren", sagte er am Montag.
Die offiziellen Gründe der Türkei für die Unterstützung des Krieges sind klar: Einerseits sieht Erdogan das Gebiet als Rückzugsort der kurdischen Miliz PKK, andererseits besteht er darauf, dass das Völkerrecht eingehalten wird. Doch wie auch andere Mächte zieht der türkische Präsident das Völkerrecht heran, wenn es seinen Interessen dient. Auf Zypern und im Mittelmeer-Konflikt wird es von der Türkei ignoriert.
Es gab zwar eine Annäherung beider Länder, aber die gegenwärtige türkische Politik hat kein Interesse daran, dass Armenien wirtschaftlich erfolgreich wird. Die Grenzen sind dicht, ausgenommen davon sind Armenier, die für geringe Löhne in der Türkei als Gastarbeiter arbeiten.
Religion als vorgeschobenes Argument
Im Kaukasus-Konflikt stand Ankara stets hinter Aserbaidschan, so auch jetzt. "Das türkische Volk wird unsere aserbaidschanischen Brüder wie immer mit allen Mitteln unterstützen”, erklärte Erdogan im aktuellen Konflikt. Der türkische Präsident hat wenig Probleme, dieses Vorgehen innenpolitisch zu verkaufen. Neben der nationalistischen Komponente befeuert seine islamisch-konservative AKP auch einen religiösen Konflikt zwischen Islam und Christentum. Dabei ist die Religion allenfalls vorgeschoben – als Legitimation und Motivation für einen Krieg.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Erdogan geht es dabei vor allem um Macht und Einfluss. Wie in Syrien, in Libyen und im Streit um Erdgasvorkommen im Mittelmeer möchte er mit am Verhandlungstisch sitzen. Sein Problem: Die Türkei kämpft gerade an vielen Fronten. Wahrscheinlich an zu vielen. Wirtschaftlich kann sie sich das längst nicht mehr leisten. Am Montag stürzte die Lira auf ein neues Allzeittief.
Erdogans gefährliches Spiel
Militärisch wird der Konflikt um Berg-Karabach kaum zu lösen sein. Das muss auch Erdogan begreifen, ehe er Russland zu einer militärischen Intervention zwingt. Die Türkei hat Einfluss auf Aserbaidschan und die Unterstützung des Angriffs auf Armenien führt zu keiner Lösung.
Im Gegenteil: Die Türkei verprellt damit weiter andere Verbündete und schadet sich wirtschaftlich enorm. Ankara und Moskau haben die Möglichkeit, die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zu zwingen. Bis sie das tun, werden Dörfer zerstört und Menschen getötet. Das ist tragisch, denn durch das Kräftegleichgewicht in der Region ist jedes verlorene Menschenleben letztlich sinnlos.
- Entwicklungen im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan (SWP)
- Berichte des Deutschlandfunk
- Russland und Armenien bauen Zusammenarbeit aus (Russia Beyond)
- Berg-Karabach: Erdogans neuer Krieg (Welt)
- Nachrichtenagentur dpa
- Eigene Recherchen