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Presse zur Lage in der Türkei: "Erdogan hat Europäern ihr Problem vor Augen geführt"


Presseschau
"Erdogan hat den Europäern ihr Problem vor Augen geführt"

Von dpa, afp, ds

Aktualisiert am 02.03.2020Lesedauer: 4 Min.
Migranten stehen am bereits geschlossenen türkisch-griechischen Grenzübergang: Nicht nur Erdogan ist schuld an der Situation der Migranten.Vergrößern des Bildes
Migranten stehen am bereits geschlossenen türkisch-griechischen Grenzübergang: Nicht nur Erdogan ist schuld an der Situation der Migranten. (Quelle: dpa)

Während an der türkisch-griechischen Grenze Tausende Flüchtlinge in der Kälte ausharren, überbieten sich EU und Türkei mit Schuldzuweisungen. Doch so einfach ist die Sache nicht, findet die internationale Presse.

An der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei spitzt sich die Lage weiter zu. Nach der Ankündigung der Türkei, die Grenzen zur EU zu öffnen, versuchen Tausende Migranten, nach Westeuropa zu gelangen. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex ist alarmiert, Griechenland verstärkt seine Truppen an der Grenze – und kritisiert die Türkei. Doch ganz so einfach ist es nicht, bilanziert die internationale Presse.

Neue Zürcher Zeitung: "Die Bilder von der Grenze rufen Erinnerungen an die Flüchtlingskrise wach und sollen das aus Ankaras Sicht sicherlich auch tun. Eine Rückkehr zu den Verhältnissen von 2015 wäre aber kaum im Interesse der Türkei. Vielmehr soll der Preis für die Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage in die Höhe getrieben werden. Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei, in der sich Ankara zu einem stärkeren Grenzschutz verpflichtet hat, sorgte ab 2016 für einen drastischen Rückgang des Migrationsstroms nach Europa. Konkrete Forderungen hat Ankara bisher nicht gestellt, doch ist man sowohl auf militärische als auch auf diplomatische und finanzielle Unterstützung angewiesen. (...) Erdogan hat mit seinem Manöver auf dem Rücken der Flüchtlinge den Europäern vor Augen geführt, dass Idlib und Syrien auch ihr Problem ist. Das Spiel ist zynisch, wirkungslos ist es aber nicht."

La Repubblica (Rom): "Europa ist von Natur aus ein Bündnis von Mitgliedsstaaten mit oft widersprüchlichen Interessen. Aus diesem Grund mag es keine unsicheren Lagen. Wenn nicht klar ist, welche Interessen die einen verfolgen und welche die anderen, dann weiß man auch nicht, wie man die Suche nach Kompromisslösungen zwischen den Regierungen gestalten soll. Heute besteht dabei die Gefahr, dass die EU durch zwei globale Notsituationen in die Knie geht. Dabei zeigt sich die Unsicherheit und die Schwierigkeit Prioritäten und Interessen jedes Einzelnen festzulegen, als dominierendes Merkmal. Zum einen ist da die Coronavirus-Epidemie. Und zum zweiten die von der Türkei verschärfte Migrationskrise, die syrische Flüchtlinge als Mittel der Erpressung einsetzt, um Unterstützung von den Europäern in ihrem Krieg in Syrien zu bekommen. Beide Krisen sind das Ergebnis des Versagens der Nationalstaaten, auf Notlagen zu reagieren, die in ihre Zuständigkeit fallen würden."

El Periódico: (Madrid): "Die Stimmen, die 2016 das Abkommen EU-Türkei kritisiert und in Zweifel gestellt hatten, das die Türkei ein sicheres Land für Flüchtlinge sei, hatten recht. Die jüngsten Ereignisse bestätigen, dass sich vor den Toren Europas ein großes Problem zusammenbraut, dessen Lösung in der schlimmstmöglichen Form hinausgeschoben wurde. Damals hatten einige bezweifelt, dass die türkische Regierung in der Lage sei, sich um die Flüchtlinge zu kümmern. Jetzt stellt es sich heraus, dass das türkische Regime sogar ein Teil des Problems ist. (...) Man kann behaupten, dass Europa vor fünf Jahren sich nicht wirklich um die dramatische Migrationskrise hat kümmern wollen. Heute steht man kurz vor einem größeren Konflikt. Es besteht die Gefahr, dass der Syrien-Krieg, der längst zur Regionalkrise geworden ist, nun auch Europa in seinen Strudel zieht."

t-online.de (Berlin): "Die Lösung? Ohne Russland wird es die nicht geben. Wladimir Putin zieht die Strippen, nur er kann Assad dazu bringen, das Land endlich zu befrieden. Der Schlüssel: Idlib. Dort stehen sich syrische Armee (mit Unterstützung Russlands), Dschihadisten und türkische Armee gegenüber. Also muss "der Westen" (sofern es den noch gibt) schnellstens ausloten, wie Putin dazu gebracht werden kann, seine Politik zu ändern. Durch Härte, mit Hilfe von Sanktionen? Durch Verhandlungen und die Zusicherung von Einfluss in der Region? Eine Mischung aus beidem? Erdogan hat jedenfalls erreicht, dass Brüssel aufwacht. Die EU-Diplomatie lief am Wochenende an. Erdogan weiß, wann ihm Europa zuhört."

Stuttgarter Nachrichten: "Erdogan fordert die Unterstützung der Nato für seine Truppen in Syrien – also für jene, die sich dort "nicht im Einklang mit dem Völkerrecht" befinden, wie selbst Heiko Maas feststellte. Schlimm, dass die Wertegemeinschaft Nato das überhaupt diskutiert. Schlimmer ist, dass einem deutschen Außenminister seit 3.273 Tagen nichts Besseres einfällt, als "Anstrengungen zur Erreichung einer politischen Lösung" zu verstärken. Dem türkischen Despoten müssen endlich Grenzen aufgezeigt werden, statt ihm wieder den roten Teppich auszurollen. Es muss in EU und Nato darüber diskutiert werden, wie Erdogan zu sanktionieren ist."

Tagesspiegel (Berlin): "Es ist nicht ausgeschlossen, dass der jüngste Showdown zwischen Erdogan und den Europäern auf bewährte Weise gelöst wird: mit ein paar zusätzlichen finanziellen Zusagen aus Brüssel, die für beide Seiten gesichtswahrend wären. Im Kern wäre das Problem damit aber nicht gelöst. Denn während es einerseits vernünftig ist, dass sich die EU von Erdogan nicht in den Konflikt mit Syrien und Russland hineinziehen lässt, so muss man andererseits auch feststellen: Der Gemeinschaft fehlt bis heute eine gemeinsame Flüchtlingspolitik, und diese Schwäche kommt Machtpolitikern wie Erdogan zugute."

Reutlinger General-Anzeiger: "Europa steht vor der Aufgabe, sich wieder einmal für eine gemeinsame politische Lösung der Flüchtlingsfrage einzusetzen. Als Voraussetzung dafür muss die Staatengemeinschaft zunächst aber eine Verhandlungslösung zur Beendigung des Syrienkriegs vorantreiben. Dann geht es darum, Flüchtlinge gerecht zu verteilen. Die Lasten hat Griechenland die letzten Jahre weitgehend alleine getragen, wie die skandalösen Zustände in den Flüchtlingslagern auf den ostägäischen Inseln zeigen. Der Türkei muss man bei aller Kritik an Erdogans Vorgehen zugutehalten, dass das Land 3,6 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat. Dessen ungeachtet darf Erdogans Erpressungsstrategie nicht aufgehen. Eine weitere Destabilisierung der EU wäre die Folge."

Welt (Berlin): "Die EU-Finanzhilfen für die Türkei müssten massiv erhöht werden. Dort kommen immer mehr Flüchtlinge aus dem syrischen Kriegsgebiet an, fast eine Million Menschen sind auf der Flucht. Sie werden zur Belastung für den Bosporus-Staat. Andererseits kann die Europäische Union nicht zulassen, dass Erdogan sie nach Belieben mit der Öffnung von Grenzen und dem Zuzug von Migranten erpresst. Der Grenzschutz in Griechenland und Bulgarien, aber auch weiter nördlich auf der Westbalkanroute muss jetzt sofort mit Tausenden Polizisten und Soldaten aus EU-Ländern verstärkt werden. Sie müssen illegale Migration mit Härte unterbinden. Das entspricht weder dem Gebot der Humanität noch den internationalen Vereinbarungen. Aber es ist notwendige Realpolitik - inmitten eines Dilemmas"

Verwendete Quellen
  • Nachrichtenagenturen dpa, AFP
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