Aufruhr im Irak Bagdad unnachgiebig – mehr als 300 Tote, fast 15.000 Verletzte
Die Proteste im Irak haben nun mehr als 300 Tote gefordert. Doch Premier al-Mahdi sitzt nach einer Eingung der politischen Kräfte fest im Sattel. Nun soll er den Aufruhr mit harter Hand beenden.
Die wochenlangen, blutigen Protesten im Irak haben nun bereits mehr als 300 Todesopfer gefordert. Die Unabhängige Irakische Menschenrechtskommission (IHCHR) legte am Samstag einen Bericht vor, nach dem seit dem Beginn der Proteste am 1. Oktober inzwischen 301 Menschen ums Leben gekommen sind. Die Zahl der Verletzten erreicht demnach fast die Marke von 15.000. Bei neuerlichen Zusammenstößen von Demonstranten und Sicherheitskräften wurden am Samstag landesweit mindestens sieben Menschen getötet.
Ministerpräsident Adil Abd al-Mahdi versprach als Reaktion auf die Proteste tiefgreifende Veränderungen bei der Machtverteilung innerhalb der Regierung. Zugleich zeichnete sich ab, dass die Sicherheitskräfte bei ihrer harten Linie bleiben werden. Die wichtigsten politischen Akteure des Landes sicherten al-Mahdi Rückendeckung zu und erteilten grünes Licht für ein weiteres gewaltsames Vorgehen gegen die Demonstranten.
Bislang herrscht im Irak ein so genanntes Proporzsystem, bei dem die Macht auf unterschiedliche religiöse und ethtnische Gruppen verteilt wird. Seit dem Sturz von Langzeitherrscher Saddam Hussein im Jahr 2003 regelt das System die Vergabe von Ministerposten zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden. Viele Politiker sehen in dem Proporzsystem die Ursache für ausufernde Korruption im Land, weil es Vetternwirtschaft und Machtmissbrauch fördere.
Al-Mahdi sagte, es gebe Forderungen, öffentliche Einrichtungen "jünger und effizienter" zu machen. Zudem solle es Reformen geben, um mehr Jobs und soziale Gerechtigkeit zu schaffen und Korruption zu bekämpfen. Das irakische Parlament begann laut der staatlichen Nachrichtenagentur INA am Samstag mit der Arbeit an einem neuen Gesetzentwurf als Teil des Reformpakets.
Politische Lager stärken Premier den Rücken
Der Ankündigung al-Mahdis war eine Einigung der lange zerstrittenen politischen Kräfte des Irak vorausgegangen. Laut Angaben hochrangiger Politiker einigten sich die Parteien auf die Notwendigkeit von Reformen und auf die Beendigung der Protestbewegung. Zugleich sagten sie zu, Premier al-Mahdi im Amt halten zu wollen.
Der mächtige Kommandeur der iranischen Al-Kuds-Kräfte, Kassem Soleimani, habe bei Gesprächen in Nadschaf zwei wichtige Unterstützer für die Mahdi-Regierung gewonnen, hieß es aus informierten Kreisen. Es soll sich um den populistischen Prediger und Politiker Moktada al-Sadr und den Sohn des Großayatollah Ali al-Sistani, Mohammed Reda Sitan, handeln. Daraufhin hätten die politischen Kräfte der Regierung freie Hand für die Beendigung der Proteste "mit allen Mitteln" gegeben.
Sicherheitskräfte räumen Brücken in Bagdad
In Bagdad drängten Sicherheitskräfte am Samstag Demonstranten von mehreren besetzten Brücken. Beim zentralen Protestlager auf dem Tahrir-Platz wurden drei Demonstranten durch Schüsse getötet, ein weiterer sei von einer Tränengas-Granate im Gesicht getroffen worden.
Unter massivem Einsatz von Tränengas eroberten die Kräfte die Kontrolle über die Tigris-Brücken Al-Sinek, Al-Schuhada und Al-Ahrar zurück, wie AFP-Reporter berichteten. Die drei Brücken verbinden die Protestlager am östlichen Tigrisufer mit dem westlichen Flussufer, wo Regierungsstellen und ausländische Botschaften ihren Sitz haben.
Die Al-Sinek-Brücke war bisher die wichtigste Verbindung der Demonstranten zur Botschaft des Iran. Teile der Protestbewegung werfen dem Nachbarland vor, die Regierung in Bagdad zu stützen, der sie Korruption vorwerfen. Die Brücken Al-Ahrar und Al-Schuhada führen zum Büro des Ministerpräsidenten und der Zentrale des Staatsfernsehens.
Auf der Al-Rashid-Straße, einer der zentralen Verkehrsadern in Bagdad, kam es zu heftigen Zusammenstößen. "Nachdem sie uns von der Brücke vertrieben haben, haben sie damit begonnen, Blendgranaten in unsere Richtung zu werfen", sagte ein Demonstrant, der sein Gesicht in einen schwarzen Schal gehüllt hatte.
Weiter besetzt hielten Demonstranten zunächst die Al-Dschumhuriyah-Brücke. Bei der "Brücke der Republik" handelt es sich um die am südlichsten gelegene Brücke in der irakischen Hauptstadt. Sie liegt dem Haupt-Protestlager am zentralen Tahrir-Platz am nächsten. In die andere Richtung führt sie in die sogenannte grüne Zone, wo unter anderem die britische und die US-Botschaft liegen.
Auch im Süden des Landes gingen Sicherheitskräfte mit Gewalt gegen Demonstranten vor. In Kerbela blieb von den Zelten kampierender Demonstranten nichts als Asche übrig, nachdem die Sicherheitskräfte Tränengas gegen das Lager gefeuert hatten. In Basra lösten Sicherheitskräfte ein Protestlager auf. Nach Angaben von Ärzten wurden bei dem Einsatz drei Menschen getötet und dutzende weitere verletzt.
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In Bagdad und mehreren südirakischen Städten hatte sich Anfang Oktober eine Protestbewegung gegen die Korruption und hohe Arbeitslosigkeit im Land formiert. Sicherheitskräfte gingen mit großer Brutalität gegen die Demonstranten vor, was den Aufruhr der massen jedoch noch weiter anfachte.
Mittlerweile fordern die Demonstranten den Rücktritt der gesamten Regierung, die Auflösung des Parlaments und ein neues politisches System. Gemäß einer AFP-Zählung wurden seit Beginn der Proteste am 1. Oktober bereits fast 300 Menschen getötet. Die Regierung hat zuletzt keine aktuellen Zahlen mehr zu den Todesopfern veröffentlicht.
- Nachrichtenagenturen AFP, dpa