Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Kolumne "Russendisko" Putins Lieblingszar wäre wohl ziemlich enttäuscht
![Wladimir Putin: Russlands Präsident schlägt das Fenster gen Westen zu, beklagt Wladimir Kaminer. Wladimir Putin: Russlands Präsident schlägt das Fenster gen Westen zu, beklagt Wladimir Kaminer.](https://images.t-online.de/2025/02/mXdYwZzalrn0/0x28:2048x1152/fit-in/1920x0/wladimir-putin-russlands-praesident-schlaegt-das-fenster-gen-westen-zu-beklagt-wladimir-kaminer.jpg)
Vor 300 Jahren starb Russlands Herrscher Peter der Große, dem Wladimir Putin nach eigener Aussage nacheifert. Das ist so nicht ganz richtig, meint Wladimir Kaminer.
Im ersten Jahr des Angriffskriegs gegen die Ukraine feierte Russland den 350. Geburtstag von Peter dem Großen, dem ersten russischen Herrscher, der sich vom Zaren zum Kaiser beförderte und damit das russische Imperium so richtig begründete. Der aktuelle russische Präsident ließ sich damals gleich mitfeiern, Wladimir Putin war bei diversen Ausstellungen und Denkmaleröffnungen als Peters selbst ernannter Stellvertreter, Nachahmer und Fortentwickler des Imperiums immer dabei.
Beim Besuch der multimedialen Ausstellung "Peter der Große. Die Geburt des Imperiums", die dem Leben des Kaisers gewidmet war, gab Putin ein Interview und erklärte später noch einmal im Fernsehen, dass Peter der Große, der vor 300 Jahren am 8. Februar 1725 starb, niemals fremde Territorien besetzt hätte, sondern nur das Land eroberte, das sowieso schon immer zu Russland gehört habe. Er habe nur das durch die Missetaten der Nachbarn Entwendete zurückgeholt, keineswegs aus Spaß, sondern aus guten Gründen: Um das Imperium zu stärken und ja, ein wenig zu vergrößern. Alles um der eigenen Sicherheit willen.
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Zur Person
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit Jahrzehnten in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein neuestes Buch "Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen" erschien am 28. August 2024.
Das Gleiche gelte auch für Riga (Lettland) und Narva (Estland), wir wollten nichts Fremdes haben, nur das eigene Reich wiederherstellen, behauptete Putin in seiner Lieblingsdisziplin, dem offenen Geschichtsunterricht: "Nun hat das Schicksal uns auserkoren, um Peters Werk zu vollbringen, und wir dürfen nicht kneifen." Als wäre Putins Einmarsch in die Ukraine die Fortsetzung des Großen Nordischen Kriegs, den Peter einst gegen die Schweden geführt hatte.
Die Letten machten damals große Augen, und die estnische Regierung bestellte den russischen Botschafter ein. Auch viele russische Zuhörer schüttelten den Kopf, für meine Generation ist das Bild von Peter dem Großen als Kriegsherr ungewöhnlich. Wir haben ihn aus dem sowjetischen Geschichtsunterricht als modernen Monarchen kennengelernt, der das Land modernisieren und verwestlichen wollte, die archaischen Sitten bekämpfte, der männlichen Bevölkerung die Bärte beschnitt und sie zwang, Kaffee statt Wodka zu trinken und Tabak zu rauchen.
Amerika wollte es wohl nicht
Peter schuf eine neue Stadt nach westlichem Vorbild, das Venedig des Ostens, ein Fenster nach Europa, und gab der Stadt seinen Namen. Er baute die russische Flotte, sein Blick war schon immer in Richtung Westen gerichtet. Das größte Denkmal, das er in Moskau hat, noch vor Putins Zeit aufgestellt, zeigt ihn als unerschrockenen Seefahrer, der auf einem Segelschiff – mit Seekarten unterm Arm – die Ozeane bereisen will. Das Denkmal des Bildhauers Surab Zereteli kam bei den Moskauern nicht gut an, viele fanden, es sei dem Zaren nicht ähnlich, zu hässlich und zu groß.
Böse Zungen behaupteten, die Statue wurde ursprünglich als eine für Christoph Kolumbus entworfen und sollte Anfang der Neunzigerjahre zum 500-jährigen Jubiläum der Entdeckung Amerikas irgendwo in den Vereinigten Staaten aufgestellt werden. Die Amerikaner seien jedoch vor der Hässlichkeit des Denkmals von der Hand Zeretelis erschrocken und hätten es nicht einmal kostenlos haben wollen. Der damalige Moskauer Bürgermeister war ein dicker Freund des Künstlers und habe ihm den Bronzemann als Peter den Großen abgenommen.
Wie war dieser Peter wirklich? Eins steht fest, mit dem heutigen Präsidenten hat er noch weniger Ähnlichkeit als mit Kolumbus. Peter war gut zwei Meter groß, Putin ist klein. Peter hatte vor seinen Kriegen Verbündete im Westen gesucht, Putin läuft allein im dunklen Park und fällt anderen hinterhältig in den Rücken. Peter hat ein Fenster nach Europa aufgemacht, Putin hat es zugemauert, sein Land in die Isolation gezwungen, er raucht keinen Tabak und will sogar die E-Zigarette in Russland verbieten. Peters Kriege hatten – in seiner Zeit betrachtet – Gründe, Putins Kriege strotzen vor Sinnlosigkeit.
Heute, nach drei Jahren Krieg in der Ukraine und am 300. Todestag des großen Zaren, könnte man die beiden noch einmal vergleichen. Bevor Peter in seinen längsten Krieg gegen Schweden zog, 1700 bis 1721, hatte er den Feldzug mit den Verbündeten Dänemark und Sachsen-Polen abgesprochen, um zusammen die Schweden anzugreifen; sein Motiv war: Den Zugang zur Ostsee sichern, denn ein Imperium ohne Flotte erschien damals als lächerlich. Mit der Gründung von Sankt Petersburg erreichte er das Meer und einen Anschluss an den Westen.
Fenster können lukrativ sein
Bis vor Kurzem konnten westliche Kreuzfahrtschiffe noch in Sankt Petersburg vor Anker gehen und die Passagiere dort Matroschkas, Kaviar und Mützen mit einem Stern darauf kaufen. Durch Putins Krieg ist der Anschluss verloren gegangen. Peter hat das große Fenster nach Europa geöffnet, Putin will das Land wieder dichtmachen. Was aber beide gemeinsam haben: Auch Peter hatte seine Armee aus Steuereinnahmen finanziert. Das war damals eher eine Seltenheit.
Alle europäischen Kriege wurden früher eigentlich mit geliehenem Geld geführt, doch Peter finanzierte den Krieg quasi aus eigener Tasche. Dafür musste er das Leibeigenenrecht verfestigen und ausbauen, jeder Haushalt musste einen Soldaten für immer an den Staat abgeben und ihn dann auch noch bezahlen. In der Regel kamen diese Menschen nicht zurück. Um die Staatskasse zu füllen, hat der Zar die verrücktesten Steuern eingeführt, unter anderem die Bartsteuer und der Legende nach wohl die Fenstersteuer. Man durfte Bärte umsonst nur auf dem Land tragen, in der Stadt wurde pro Bart eine "Gebühr" erhoben.
Die Fenstersteuer wurde gleich nach Beginn des Nordischen Krieges eingeführt, so heißt es. Als Peter in den Niederlanden gewesen war, zeigte er sich von der holländischen Architektur beeindruckt. Die Häuser dort waren schmal und hatten in der Regel nur ein Fenster. Die russischen Häuser waren breit und lang und hatten Fensterchen ohne Zahl. Also zwang Peter seine Landsleute, für jedes zusätzliche Fenster eine Extragebühr zu zahlen. Viele haben damals gänzlich auf Fenster verzichtet, wozu denn auch, wenn sie ein großes Fenster nach Europa hatten. Das schlägt nun Putin mit seinem Krieg zu.