Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Kolumne "Russendisko" Was im Exil passiert, kann Putin nicht gefallen
In Russland gilt nur eine Meinung: die von Wladimir Putin. Künstler, die da anderer Ansicht sind, befinden sich im Exil. Diesen Menschen muss geholfen werden, meint Wladimir Kaminer.
Deutschland und Russland waren mit unzähligen kulturellen Fäden verbunden, gemeinsame Museumsprojekte, Filmproduktionen, Festivals, Studentenaustausche, Städtepartnerschaften. Das alles ist durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zerstört worden, nur das deutsche Klischeebild eines "Russen" blieb einigermaßen intakt. Mir ist dieses Bild bestens vertraut.
Als eingewanderter Kontingentflüchtling aus der Sowjetunion wurde ich jahrzehntelang mit diesem Klischee konfrontiert. In den ersten Jahren meiner Schriftstellerei, wenn ich zur Lesung in eine deutsche Kleinstadt fuhr, kündigte mich die regionale Zeitung mit der Überschrift "Die Russen kommen" an. Ich habe lange gebraucht, um herauszufinden, woher dieser Satz stammt.
Zur Person
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein aktuelles Buch "Gebrauchsanweisung für Nachbarn" (mit Martin Hyun) ist gerade erschienen.
In der deutschen Wahrnehmung war es wohl eine Art Sprichwort, eine Warnung, die eine unangenehme Situation mit lebensgefährlichen Folgen beschreibt. Nur in meinem Fall war es nicht böse gemeint, "dieser Russe" kam mit lustigen Anekdoten, die Bürger brauchten also keine Angst zu haben.
Dieses Klischeebild machte "den Russen" unberechenbar: Man wusste nicht, was er im nächsten Augenblick tun wird, ob er dich schlagen oder mit dir zusammen singen möchte. Man wusste überhaupt wenig über diese Menschen. Die Russen sollen literweise Wodka trinken, und wenn sie getrunken haben, wollen sie tanzen.
Falsche Russen unterwegs in Deutschland
Dass sich dieses Bild des lustigen betrunkenen Kosaken mit Pelzmütze so verfestigte, verdankt Deutschland übrigens nicht mir, sondern unzähligen Kosakenchören, die jahrzehntelang als falsche Russen durch Deutschland gepilgert sind und nicht einmal Russisch sprachen. Selbstverständlich auch dem großartigen deutschen Volkssänger Ivan Rebroff, geboren als Hans Rippert, der in Funk und Fernsehen mit dem Hit "Schenk mir einen Wodka ein, aber nicht zu klein" den "echten Russen" gab – mit Bart und Mütze und stets mit einem Gläschen in der Hand.
Es waren falsche Russen, die es gut mit uns meinten und gute, professionelle Musik machten. Nur dass sie nichts mit der russischen Kultur zu tun hatten. Es war wie mit dem "falschen Hasen", das Gericht schmeckt oftmals gut, wird aber eben nicht aus Hasen gemacht. Heute haben die russischen Kulturschaffenden, die des Krieges wegen ihre Heimat verlassen mussten, Schwierigkeiten, als solche erkannt zu werden. Denn sie entsprechen nicht dem Klischee.
Der Krieg hat einen großen Teil der russischen Kulturträger außer Landes getrieben. Dabei können und wollen diese Menschen nicht schweigen, sie bleiben mit ihren Landsleuten im Gespräch. Im Vakuum des politischen Lebens in Russland bekommen Kunst und Kultur eine geradezu übermäßige Bedeutung: Sie ersetzen die Politik und werden zur Stimme derjenigen in der russischen Gesellschaft, die mit dem Kurs des Regimes im Kreml nicht einverstanden sind.
Diese Stimme wird in Russland erhört. Mich erinnert die heutige Situation ein wenig an den Alltag meiner Eltern. In der Sowjetunion bin ich in der Welt der Untergrundkultur großgeworden, einer Welt, in der Besitz und Weiterreichen eines Buches als politische Widerstandsgeste zu bewerten war – und Mut erforderte. Auch im heutigen Russland werden kritische Künstler und Kulturschaffende Repressalien ausgesetzt, Hochschullehrer, Theatermacher, Schriftsteller, Bibliothekare.
Wiederbelebung russischer Kultur
Für diese Menschen ist der Weg ins Exil besonders schwierig, sie sind an die russische Sprache und an ihr Publikum gebunden. Wenn man das Land mit einem Menschen vergleicht, sieht es heute so aus, als sei der Kopf Russlands auf eine Reise gegangen. Während der Körper sich weiter mit dem Nachbarland schlägt und unverständliche Geräusche von sich gibt, versucht der Kopf mit dem Körper wieder Kontakt aufzunehmen, um dem Gift der Propaganda etwas entgegenzusetzen. Nur jetzt eben vom Ausland aus.
Seit hundert Jahren hat es in Deutschland nicht so viele russische Kulturveranstaltungen, Theaterpremieren, Ausstellungen und Festivals gegeben. Von den Einheimischen werden diese Kulturevents nicht als "russisch" erkannt, weil sie nicht dem alten Klischeebild entsprechen. Dafür wurden diese Kulturschaffenden nach zwei Jahren Krieg von der Politik bemerkt. Kürzlich fand in Brüssel eine nicht öffentliche Sitzung statt, die Vertreter der russischsprachigen Kultur wurden von den Politikern des EU-Parlaments angehört.
Es wird überlegt, wie Europa diesen Menschen helfen kann, damit sie mit ihren Landsleuten in und außerhalb Russlands im Gespräch bleiben und mit den Einheimischen in Kontakt kommen. Zurzeit sind vor allem die Integrationsprojekte gefragt, mehr als die anspruchsvolle Kunst. In Berlin ist die Organisation Panda Safe Space besonders begehrt, ursprünglich für ukrainische Geflüchtete gedacht, zu der jetzt auch die eingewanderten Russen kommen.
Es geht um Menschen, die Deutsch gelernt, aber in ihrem Alltag kaum Gesprächspartner haben, um ihre Sprachkenntnisse zu prüfen. Ehrenämtler stellen sich als Gesprächspartner für die Eingewanderten zur Verfügung, sie reden über ein Leben nach dem Krieg.