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Humanitäre Lage in Gaza: "Dann operieren sie ohne Narkosemittel"


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Humanitäre Lage in Gaza
"Das würde ein Arzt in Deutschland niemals machen"

  • David Schafbuch
InterviewVon David Schafbuch

11.02.2024Lesedauer: 6 Min.
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Chirurgen im Al-Aqsa-Krankenhaus im Gazastreifen: Vielen Einrichtungen fehlt es laut Tankred Stöbe unter anderem an Narkosemitteln. (Quelle: Omar Ashtawy/apaimages/imago-images-bilder)

Wie muss man sich die humanitäre Situation im Gazastreifen und der Ukraine vorstellen? Der Arzt Tankred Stöbe hat in beiden Krisengebieten bereits gearbeitet.

Joe Biden wurde deutlich: "Es gibt viele unschuldige Menschen, die hungern, viele unschuldige Menschen, die in Schwierigkeiten sind und sterben. Das muss aufhören", sagte der US-Präsident am Donnerstag zum Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen. Er sei auch der Meinung, dass das Vorgehen Israels "überzogen" sei.

Doch wie genau muss man sich die humanitäre Lage im Gazastreifen und anderen Krisengebieten vorstellen, nachdem die Terrorgruppe Hamas am 7. Oktober von dort aus Israel mit zahlreichen Anschlägen attackiert hat? Tankred Stöbe war als Arzt für die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" bereits mehrfach in Gaza, der Ukraine und in zahlreichen anderen Kriegs- und Krisengebieten der Welt. Mit t-online hat Stöbe über seinen jüngsten Einsatz gesprochen, darüber, wie man in Ausnahmesituationen Menschen operiert und ob er nach all den Jahren in Krisengebieten noch Angst empfindet.

t-online: Herr Stöbe, Sie kommen gerade von einer Hilfsmission aus Haiti. Was haben Sie dort erlebt?

Tankred Stöbe: Das Land zählt seit vielen Jahren zu den zentralen Krisengebieten für uns. Haiti ist nur ein Drittel der Insel Hispaniola, der andere Teil ist die Dominikanische Republik. Es gibt auf der Erde wohl kaum zwei Nachbarländer mit größeren Unterschieden.

Warum?

In die Dominikanische Republik reisen viele Touristen, Haiti ist dagegen ein "failed state": Die Hauptstadt Port-au-Prince wird größtenteils von Banden-Gewalt bestimmt. Ich war in einem Slum, der nicht einmal mit dem Auto erreichbar ist. Dort betreiben wir die einzige kleine Klinik für etwa 100.000 Bewohner und stellen sauberes Wasser zur Verfügung. Zwölf Millionen Menschen leben in Haiti, aber das existentielle Elend wird in Deutschland kaum beachtet.

Viel wird dagegen über den Gazastreifen gesprochen. Sie waren 2005 und 2018 dort: Aktuell heißt es immer wieder von Hilfsorganisationen, die humanitäre Lage sei katastrophal.

Ich denke jeden Tag an diese Menschen. Der grausame Überfall der Hamas vom 7. Oktober ist inakzeptabel. Aber auch das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza ist unerträglich. Kaum ein Krankenhaus ist dort in den vergangenen Monaten nicht beschossen worden. Selbst wenn es die Menschen schwer verletzt in die Kliniken schaffen, können sie dort nicht mehr adäquat versorgt werden. Es fehlt einfach an allem, was wir für die medizinische Versorgung brauchen. Es gibt zu wenig Narkose- und Schmerzmittel. Auch der Strom fällt immer wieder aus.

Ist es möglich, einen Menschen ohne Betäubung zu operieren?

Technisch ja, aber ethisch nicht. Das würde ein Arzt in Deutschland niemals machen. Aber die Kollegen dort müssen sich fragen: Kann ich das Leben eines Verwundeten retten? Und dann operieren sie ohne Narkosemittel. Das bedeutet extreme Schmerzen. Für uns ist das unvorstellbar, aber es gibt dazu in Gaza manchmal keine Alternative.

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(Quelle: teutopress GmbH/imago-images-bilder)

Zur Person

Tankred Stöbe, geboren 1969 in Nürnberg, ist Internist und Rettungsmediziner und immer wieder weltweit in Krisen- und Kriegsgebieten tätig. Von 2007 bis 2015 war er Präsident der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" in Deutschland, von 2015 bis 2018 war er Mitglied im internationalen Vorstand. 2016 wurde ihm von der Bundesärztekammer die höchste Auszeichnung, die Paracelsus-Medaille, verliehen. Seit 2021 ist er Träger des Bundesverdienstkreuzes. Seine beruflichen Erfahrungen hat er in dem Buch "Mut und Menschlichkeit" (Fischer-Verlag) aufgeschrieben.

Sie waren 2005 im Gazastreifen, als dort die israelischen Siedlungen geräumt wurden. Sie haben über diese Zeit in einem Buch geschrieben, dass die medizinische Versorgung damals in Rafah am schwächsten war. Was haben Sie gedacht, als es zuletzt hieß, dass die israelische Armee dort militärisch aktiv werden will?

Das ist jetzt fast 20 Jahre her – und die Situation hat sich nicht verbessert, sondern noch weiter verschlechtert. Mittlerweile halten sich dort im Süden von Gaza die meisten Menschen auf. Wenn dort jetzt die letzten Kliniken auch bombardiert werden, steigert das natürlich die Not. Es gilt hier ziviles Leben zu schützen.

Die Hamas kontrolliert allerdings auch das Gesundheitssystem im Gazastreifen. Wie muss man sich das in einem Krankenhaus vorstellen?

Wir versuchen uns aus diesen Diskussionen weitestgehend herauszuhalten. Wir verurteilen es natürlich, wenn die Hamas Krankenhäuser als Schutzschilde missbrauchen sollte. Wir fordern immer wieder: Krankenhäuser müssen geschützt werden, Hilfsmittel ungehindert nach Gaza kommen. Es muss einen dauerhaften Waffenstillstand geben. Wir müssen da das Völkerrecht hochhalten.

Das Völkerrecht sieht aber auch vor, dass Krankenhäuser angegriffen werden können, wenn sie von einer Kriegspartei zweckentfremdet werden. Die israelische Armee hat Aufnahmen von Waffendepots und Tunneln unter Krankenhäusern veröffentlicht.

Weder von der palästinensischen noch von der israelischen Seite dürfen Krankenhäuser missbraucht werden. Die Kliniken dürfen nicht von Terroristen als Schutzschild genutzt, aber auch nicht bombardiert werden. Es ist völlig inakzeptabel, dass Verwundete und medizinische Helfer in Gaza nicht mehr geschützt, aber getötet werden.

Es wird mehreren Mitarbeitern des Hilfswerks UNRWA vorgeworfen, die Hamas bei den Terroranschlägen vom 7. Oktober unterstützt zu haben. Der ehemalige UNRWA-Chef Matthias Schmale sagte kürzlich, dass eine Zusammenarbeit mit der Hamas dort unumgänglich sei. Wie haben Sie das erlebt?

Die Verflechtungen sind in Gaza sehr eng. Für uns von "Ärzte ohne Grenzen" gilt: Wir sprechen immer und überall mit allen Konfliktparteien. Mir sind in meiner Arbeit zumindest nie bewaffnete Einheiten in den Krankenhäusern begegnet. Das würden wir auch nicht tolerieren.

Viele Länder, auch Deutschland, haben zuletzt ihre Zahlungen an die UNRWA eingestellt. Was hat das für Auswirkungen?

Gaza ist seit Jahren auf Hilfe von außen angewiesen. Deswegen hat jede Unterstützung, die ausbleibt, existenzielle Folgen für die Bevölkerung. Wir sind von den Mitteln der UN nicht abhängig. Aber auch wir sehen, dass es immer schwieriger wird, Hilfsgüter nach Gaza zu bringen. Das muss sich dringend ändern. Denn es ist unrealistisch, alle Verwundeten auszufliegen und sie woanders zu behandeln.

Sie waren seit Beginn der russischen Invasion auch dreimal in der Ukraine. Wo lagen dort die größten Herausforderungen?

Der Krieg ist weiterhin extrem grausam und tödlich, fokussiert sich aber immer stärker auf die Frontlinie. Als ich zuletzt im September in Cherson war, hatte sich das gesamte Leben in den Untergrund verlagert. Die Krankenhäuser haben zum Teil noch Bunker aus der Sowjetzeit, die selbst Atomangriffen standhalten sollen. Wir haben keine offiziellen Zahlen, aber Tausende Schwerverletzte müssen behandelt werden.

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Was war dort Ihre Aufgabe?

Neben der chirurgischen Versorgung kümmern wir uns dort auch um Physiotherapie und die seelische Betreuung von Schwerverletzten. Im ersten Kriegsjahr haben die wenigsten Betroffenen angegeben, unter psychischen Schäden zu leiden. Mittlerweile geben die meisten zu, dass sie auch seelisch traumatisiert wurden.

Was haben die Menschen Ihnen dort erzählt?

Die einen wollen möglichst schnell gesund werden, weil sie ihrem Land wieder dienen wollen – selbst wenn sie Arme und Beine verloren haben. Andere sind schwer traumatisiert und haben furchtbare Angst, wieder an die Front zu müssen. Es gibt aber in der Ukraine nicht genug Behandlungsmöglichkeiten, allen Menschen zu helfen, obwohl das Gesundheitssystem besser ist als in Haiti oder im Gazastreifen.

Ist es auch vorgekommen, dass Sie russische Verwundete behandelt haben?

Nein, aber das würden wir tun. Für die Ukrainer ist das nachvollziehbar schwieriger, aber für uns ist das selbstverständlich: Wir behandeln nach Bedürftigkeit, unabhängig von politischer, nationaler oder religiöser Zugehörigkeit. Es ist aktuell aber für keine internationale Organisation möglich, auf dem von Russland besetztem Gebiet in der Ukraine Hilfe zu leisten. Auch wir erhalten dort keinen Zugang.

Sie sollen aber dorthin Medikamente und medizinische Geräte geschmuggelt haben.

Das haben wir vor allem im ersten Kriegsjahr getan, wegen der dort eingeschränkten medizinischen Versorgung. Das war gefährlich für die Helfer. Es zeigt aber auch, dass Krieg nicht nur existentielle Bedrohung bedeutet, sondern auch große menschliche Gesten möglich sind. So was macht mir Hoffnung.

Sie haben einen Großteil der Krisen- und Kriegsgebiete der vergangenen 20 Jahre von innen erlebt. Wie hält man all das aus?

Wir fühlen uns in Deutschland oft ohnmächtig, weil wir glauben, nichts für die Menschen in Krisengebiete tun zu können. Als Arzt kann man aber vor Ort tätig werden und ich erlebe meinen Beruf intensiv und sinnhaft. Das übertrifft alles, was natürlich auch schwierig und grausam ist.

Haben Sie noch viel Angst?

Grundsätzlich habe ich nicht viel Angst, aber ich bin vorsichtig. Meine Frau sagt immer: "Tankred, sei bitte feige für uns." Diesen Satz nehme ich auf jeden meiner Einsätze mit.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Tankred Stöbe
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